Die Nominalkomposition des Ägyptischen ist ein weitgehend unerforschtes und unerklärtes Phänomen. Zunächst ist daher die Sammlung und Kategorisierung von Belegen sowie deren Verortung innerhalb der ägyptischen Sprachgeschichte zu bewerkstelligen, um darauf aufbauend die Stellung der Nominalkomposita im Wortschatz bzw. im weiteren Kontext der Kulturgeschichte des alten Ägypten zu untersuchen.

Die Erforschung der ägyptischen Sprache ist dadurch erschwert, dass die ägyptische Schrift keine Vokale notiert. Details der Morphologie, vor allem die Silbenstruktur und Betonung von Wörtern, sind daher nur unter großem Aufwand anhand der koptischen Abkömmlinge ägyptischer Wörter bzw. der sogenannten Nebenüberlieferung (ägyptische Wörter in keilschriftlicher, hebräischer und griechischer Umschreibung) zu erschließen. Dies gilt für die Analyse von Einzelwörtern (nomina simplicia) und ihren Wortbildungsklassen ebenso wie für Wortzusammensetzungen im weiteren Sinne. Ob letztere idiomatische, aber grammatisch freie Syntagmen oder feste Wortverbindungen (nomina composita) sind, kann nur anhand syntaktischer Erscheinungen oder der Rekonstruktion ihrer Silbenstruktur und Betonung bestimmt werden.

Morphologische Kategorisierung

Die Auswertung des koptischen Materials bzw. der Nebenüberlieferung ergibt, dass grundsätzlich alle ägyptischen Wörter – nomina simplicia ebenso wie nomina composita – auf ihrer letzten oder vorletzten Silbe betont waren. Dies gilt auch für freie Syntagmen, die stets das letzte Wort betont zeigen. Selbst dann, wenn Syntagmen zu Wörtern zusammengezogen bzw. univerbiert wurden, entwickelte sich aus dem phrasalen Akzent schließlich der Wortakzent der Zusammensetzung und ruhte somit auf deren letzter oder vorletzter Silbe. Eine Gruppe von nomina composita, die im Rahmen dieses Projektes auf bislang ca. 120 vermehrt werden konnte, war jedoch auf einem nicht-letzten Element und somit der vorletzten oder drittletzten Silbe betont, was im Widerspruch zu den klassischen Akzentregeln steht. Während also eine Gruppe von nomina composita auf Syntagmen zurückgeführt werden kann (unechte bzw. syntaktische Komposita; iuxtaposita), ist für die andere ein Prozess der morphologischen Komposition notwendig, als dessen Resultat echte bzw. morphologische Komposita vorliegen.

Entwicklungsabriss der ägyptischen Nominalkomposition

Traditionell wurden die echten bzw. morphologischen Komposita als Relikte einer Sprachstufe angesehen, während deren grundsätzlich noch eine Betonung auf der drittletzten Silbe und dem ersten Element einer Zusammensetzung möglich war. Entsprechend wurden sie als »Ältere Komposita« bezeichnet, während die am Letztelement betonten Zusammensetzungen als »Jüngere Komposita« bekannt wurden. Anhand einzelner Beispiele konnte jedoch dieses Projekt aufzeigen, dass »Ältere Komposita« (z. B. Mn-nfr > Memphis) und »Jüngere Komposita« (z. B. Ḥw.t-Ḥrw > Hathor) Seite an Seite gebildet wurden. Zugleich ist aus dem Befund abzuleiten, dass  echte bzw. morphologische Komposita nur bis ans Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. gebildet wurden, während unechte bzw. syntaktische Komposita (iuxtaposita) bis ans Ende der ägyptisch-koptischen Sprachgeschichte produktiv blieben.

Nominalkomposita im kulturhistorischen Kontext

Aus der zeitlichen Begrenzung der Produktivität von echten bzw. morphologischen Komposita ergibt sich die einmalige Möglichkeit einer linguistischen Datierung von Wörtern dieser Kategorie und der durch sie bezeichneten Konzepte bzw. Objekte. Dies gilt auch, wenn sie wegen des Überlieferungszufalls erst vergleichsweise spät bezeugt sind. Von besonderer Bedeutung sind in dieser Hinsicht e.g. Ortsnamen, die nicht nur die Rekonstruktion der Topographie des 3. Jahrtausends v. Chr. ermöglichen, sondern anhand des in ihnen erstarrt erhaltenen Sprachgutes Spuren der ältesten Dialektlandschaft des Ägyptischen überliefern. Darüber hinaus bezeichnen jedoch viele der echten bzw. morphologischen Komposita Schlüsselbegriffe der Elitenkultur der Frühzeit und des Alten Reiches, was es ermöglicht, auf diese Weise einen einmaligen Einblick in die Geisteswelt der Ägypter während der formativen Phase der ägyptischen Kultur zu erhalten.