Die Bauberichte von Didyma an der kleinasiatischen Westküste, die aus dem 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. stammen, informieren über den Baufortschritt bei der Errichtung des Apollontempels. Unser Vorhaben ist eine Neuedition und -kommentierung der griechischen Texte. Darauf aufbauend sollen die Architektur des Tempels und die historischen Umstände seiner Erbauung erschlossen werden.

Gut ein halbes Jahrtausend lang, zwischen ca. 300 v. Chr. und ca. 200 n. Chr., wurde für den Gott Apollon im kleinasiatischen Orakelheiligtum von Didyma ein monumentaler Tempel errichtet. Allein schon aufgrund seiner schieren Größe gehört er zu den bedeutendsten Tempeln der griechischen Welt. Darüber hinaus ist es sein außergewöhnlicher Entwurf, der ihn zu einem der wichtigsten griechischen Sakralbauten der antiken Bauforschung macht. Schließlich haben wir es bei diesem Bau nicht mit der herkömmlichen Art eines griechischen Tempels zu tun, denn seine Cella hatte kein Dach, sodass sich hinter dem doppelten Kranz von 120 Säulen ein großer, offener Innenhof verbarg, dessen Bodenniveau zudem 4 m tiefer lag als das der Peristasis. In diesem Hof, den in der Regel nur die Priester und die für das Orakel zuständigen Propheten betreten durften und der somit das Kultzentrum bildete, stand ein zweiter, als Naiskos bezeichneter kleiner Tempel, der eigentliche Kultbau. Von dem monumentalen Tempel ist verhältnismäßig viel erhalten geblieben, sodass wir uns eine gute Vorstellung machen können, wie er einst ausgesehen hat, wie man ihn erbaut hat und welche Schwierigkeiten die Architekten zu meistern hatten.

Es ist ein besonderer Glücksfall, dass sich die Verwaltung des Heiligtums gegen 230 v. Chr. entschloss, jährliche Berichte über den Baufortschritt zu publizieren, und zwar als Inschriften, die man in große Steinstelen einmeißelte. Diese Bauberichte hat man bis etwa 100 v. Chr. verfasst. Die Texte sollten die Besucher des Heiligtums und die Bürger der benachbarten Stadt Milet, die die Aufsicht über das Heiligtum hatte, über die Bauvorgänge informieren. Erfreulicherweise ist eine Reihe von diesen Bauberichten ganz oder fragmentarisch erhalten geblieben. Auch in den letzten Jahren wurden bei den von dem Deutschen Archäologischen Institut durchgeführten Grabungen in Didyma noch neue Inschriften gefunden.

Unser Projekt wird sich dem Material von zwei Seiten annähern. Auf der einen Seite wollen wir eine neue Textausgabe der Inschriften erstellen, die alle Inschriftenfunde einbezieht – sowohl diejenigen, die vor über 100 Jahren gefunden wurden, als auch die in letzter Zeit entdeckten. Die Texte sollen übersetzt und kommentiert werden. Auf der anderen Seite wollen wir auf Basis dieser Texte und mithilfe von Bauforschung die Baugeschichte des Tempels neu verstehen, rekonstruieren und schreiben.

Die Texte und Bauglieder erlauben einen Einblick in viele Bereiche antiken Lebens und Arbeitens. Wir können erkennen, wie schnell man gearbeitet hat, wer auf der Baustelle tätig war und wie die Arbeiten organisiert wurden. Und auch in die historischen Ereignisse vor über 2.000 Jahren erhalten wir Einblick: Politische Krisen, Kriege und wirtschaftlich gute wie schlechte Phasen haben ihre Spuren an dem Bau und in dessen antiker Dokumentation hinterlassen. Wir wollen in unserem Projekt einen der faszinierendsten antiken Tempel anhand zeitgenössischer Quellen besser verstehen, zugleich wollen wir lernen, was seine Entstehung uns über antike Geschichte beibringen kann.