Atzgersdorfer Kirchplatz, Karte
Text: Simon Hadler
In der Pfarrkirche von Atzgersdorf befindet sich das so genannte Fieber- oder Türkenkreuz. Während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung soll es zerstückelt worden sein, es konnte jedoch wieder zusammengesetzt werden. Besonders seit dem 18. Jahrhundert zog das Kreuz, von dem man sich Hilfe und Heilung versprach, viele Wallfahrer nach Atzgersdorf.
Die Ursprünge der Legende vom Fieberkreuz
Über die Entstehung des Fieberkreuzes (diese Bezeichnung ist geläufiger als der Ausdruck „Türkenkreuz“) ist wenig bekannt. Die Atzgersdorfer Pfarrchronik berichtet, es sei einst „außer dem Dorfe zwischen Weingärten auf dem Wege nach Lainz“ gestanden. (Aus der Chronik 1983: 31) Als sich im Jahr 1683 im Zuge der Zweiten Wiener Türkenbelagerung osmanische Truppen in der Umgebung Wiens aufhielten, war auch Atzgersdorf davon betroffen. Die Pfarrchronik erzählt von nur zwei Überlebenden (ebd.: 33f), tatsächlich dürften sich jedoch deutlich mehr Einwohner gerettet haben. (vgl. Wistl 1958) Auch das Fieberkreuz wurde stark in Mitleidenschaft gezogen, so schreibt der Chronist:
Mit grimmiger Wuth rießen die Feinde des Christlichen Nahmens den Leib des Herrn vom Kreuze herab, zerhauten ihn in viele Stücke und warfen diese in eine Mistgrube, wo sie nach ihrer Ansicht vermodern sollten. Der Kreuzstamm wurde verbrannt. (Aus der Chronik 1983: 31)
Der ortsansässige Weinhauer Hans Strobinger fand die Teile wieder und ein Wiener Tischler namens Sonntag setzte sie zusammen: „Zur größten Verwunderung fügten sich die auseinander gehauenen Theile so genau zusammen, daß man gar nicht glauben wollte, der Leib dieses crucifixes wäre in so viele Stücke zerhauen gewesen.“ (ebd.)
Atzgersdorf als Wallfahrtsort
Atzgersdorf als Wallfahrtsort
Das Kreuz wurde wieder auf dem Weg nach Lainz aufgestellt und soll schon bald Pilger angezogen haben. Diese kamen nicht nur, weil sie sich Heilung von einer der damals häufigen Fieberepidemien erhofften – woher das Kreuz seinen Namen hat –, sie kamen vielmehr in allen möglichen Notlagen. Bekannt ist beispielsweise, dass schon 1721 Meister und Gesellen der Seiden- und Tuchmacher nach Atzgersdorf kamen und ab 1755 auch feierliche Prozessionen abhielten. (Bittgang nach Atzgersdorf 1858: 8) Auch die Witwe Kaiser Karls VI. und Mutter Maria Theresias, Elisabeth Christine, soll regelmäßig nach Atzgersdorf gepilgert sein. (ebd.: 10)
Einige Jahre nach der Wiedererrichtung des Fieberkreuzes erbaute man an dieser Stelle zuerst eine kleine hölzerne Kapelle, im Jahr 1743 eine aus Stein. Bereits 1736 gestattete der Wiener Erzbischof und Kardinal Sigismund Graf von Kollonitz das Abhalten öffentlicher Gottesdienste. (Pfarrblatt 5.1933: 3) Im Jahr 1761 wurde das Fieberkreuz schließlich in einer feierlichen Zeremonie in die alte Pfarrkirche überführt.Auch im 1782 fertiggestellten Neubau fand es seinen Platz, den es bis heute inne hat. (Aus der Chronik 1983: 31f) An der Stelle, an der früher das Kreuz stand, errichtete der damalige Ortsrichter und spätere Bürgermeister Joseph Carlberger im Jahr 1836 ein neues Kreuz. (Pfarrblatt 4.1933: 3) Eine Inschrift wies darauf hin, dass sich das Original in der Pfarrkirche befindet. (Vaterland 18.9.1883: 4) Über das weitere Schicksal dieses zweiten, nicht wundertätigen Kreuzes ist jedoch nichts bekannt, es existiert nicht mehr.
Das Fieberkreuz wurde mehrmals renoviert, so etwa in den 1930er Jahren. Berichte von der wundertätigen Wirkung des Kreuzes sowie Aufrufe an die Kranken, ihm ihr Vertrauen zu schenken, wurden im Pfarrblatt veröffentlicht, um damit an die Spendenfreudigkeit der Gemeinde zu appellieren. (Pfarrblatt 10.1933: 6) Zuletzt wurde die Skulptur 1971 restauriert, indem gegen den Holzwurm vorgegangen und ein neues Kreuz errichtet wurde. (Aus der Chronik 1983: 19)
Am 16. Oktober 2011 feierte die Pfarre das 250jährige Jubiläum des Fieberkreuzes (bzw. der Überführung in die Pfarrkirche). Zu diesem Anlass wurde beim Künstler Herbert Prikopa eine Messe im Stil der Schrammelmusik in Auftrag gegeben. Damit solle – laut Pfarrer Peter Pösze – das Fieberkreuz und seine Geschichte wieder stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangen. Tatsächlich kam man bei diesem mit dem Wiener Weihbischof Franz Scharl gefeierten Festgottesdienst ganz ohne jede Erwähnung der Türken oder Osmanen aus.
Ein Symbol des Kampfes und des Sieges
Ein Symbol des Kampfes und des Sieges
In der Vergangenheit wurde das Fieberkreuz jedoch immer wieder als Symbol eines christlichen Sieges benutzt. So wie das Vertrauen in das Kreuz Krankheiten besiegen konnte und so wie die Skulptur selbst das zerstörerische Handeln der osmanischen Soldaten überlebte, so konnte es gegen die unterschiedlichsten imaginierten Feinde in Stellung gebracht werden. In einer Predigt anlässlich der Prozession der „Seidenzeug-, Sammt- und Dünntuchmacher“ im Jahr 1853 wird etwa vor den Vertretern der Aufklärung und des Liberalismus gewarnt:
Wie einst die Türken das Kreuz zerbrachen, so gibt es heut zu Tage Viele, welche, ob sie schon auf Christi Namen getauft sind, dennoch dem Kreuze, der heil. Religion in Wort und That Hohn sprechen […]. (Im Kreuze allein 1853: 4)
Im Jahr 1883 feierte man in Atzgersdorf das 200jährige Jubiläum des Entsatzes von Wien in Form eines Festgottesdienstes. Auch dabei wurde das Kreuz zum Symbol des Kampfes und des Sieges, so berichtete die konservative, kirchentreue Zeitung „Das Vaterland“ von der Predigt des bekannten Jesuitenpaters und Antisemiten Heinrich Abel:
Der Grundgedanke derselben war der jedesmalige Sieg des Kreuzes über alle seine Feinde. Es wurde der Kampf der Sonne (des Perserreiches), der Kampf des Halbmondes und schließlich der Kampf Lucifers gegen die Religion des Gekreuzigten in einer so unnachahmlichen und ergreifenden Weise geschildert, daß in der bis in die letzten Räume vollen Kirche die größte Aufmerksamkeit und Ruhe herrschte. (Das Vaterland 18.9.1883: 4)
In den Jahrzehnten vor 1900 war auch Atzgersdorf großen gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt. Ein rapides Bevölkerungswachstum und der Wandel zu einem industriell geprägten Ort bewirkten nicht nur neue soziale Konflikte, sondern auch eine Verunsicherung traditioneller Werte und Identitäten. (Opll 1982: 83–89) Das mag eine Erklärung dafür sein, wieso in dieser Phase der Geschichte, bis hinein in die krisenhafte Zwischenkriegszeit, das Fieberkreuz besonders offensiv beworben wurde. Als ein in der örtlichen Folklore verankertes und mit religiöser Mystik versehenes Objekt diente es zur Stärkung der Identität der unter Druck geratenen Gruppe der Kirchgänger. So wurde auch 1933 das Fieberkreuz gefeiert, diesmal im Rahmen der allgemeinen Feierlichkeiten des 250-Jahr-Jubiläums der Wiener Entsatzes und des Katholikentages. In diese Zeit fielen auch Bemühungen der Pfarre, mit Hilfe dieser Skulptur die Bevölkerung wieder auf den rechten Pfad des Glaubens zu bringen. So liest man im Pfarrblatt:
Solange das Volk von Atzgersdorf den gekreuzigten Heiland liebte und verehrte, ging von diesem Kreuze ein besonderer Segen, ja eine Wunderkraft aus. Heute aber steht der größere Teil des Volkes von Atzgersdorf dem hl. Kreuze feindlich gegenüber, mancher hob Steine auf gegen den Gekreuzigten oder zeigte ihm und seiner hl. Kirche den Rücken. Nun schweigt der Heiland am Kreuze. (Pfarrblatt 4.1933: 1)
Literatur
Literatur
Aus der Chronik der Pfarre Atzgersdorf (1983). Eine Festschrift anläßlich der 200-Jahr-Feier der Pfarrkirche Atzgersdorf (1782/83 – 1982/83). Wien.
Bittgang nach Atzgersdorf zu dem heiligen Kreuze (1858); abgehalten von der Krankenlade der Seidenzeug-, Sammt- und Dünntuchmacher Wiens, zum acht und neunzigsten Male am Sonntag den 9. Mai 1858. Wien.
Das Vaterland (18.9.1883). Zeitung für die österreichische Monarchie: Feier des heiligen Kreuzes. 4. 20.09.2020.
Hasel, Franz Seraph (1853): Im Kreuze allein unser Heil. Predigt […] bei Gelegenheit des feierlichen Bittgesanges nach Atzgersdorf zu dem heiligen Kreuze, abgehalten von der Krankenlade der bürgl. Seidenzeug-, Sammt- und Dünntuchmacher Wiens am 12. Juni 1853. Wien.
Opll, Ferdinand (1982): Liesing. Geschichte des 23. Wiener Gemeindebezirkes und seiner alten Orte. Wien.
Pfarrblatt Atzgersdorf und Erlaa b. W. (4.1933). Nr. 7. Jg. 1: Verhüllte Kreuze! 1f.
Pfarrblatt Atzgersdorf und Erlaa b. W. (5.1933). Nr. 8. Jg. 1: Fortsetzung der Geschichte des hl. Fieberkreuzes. 2.
Pfarrblatt Atzgersdorf und Erlaa b. W. (10.1933). Nr. 1. Jg. 2: Vom allgemeinen deutschen Katholikentag in Wien. 2f.
Wistl, Raimund (1958): Überlebende des Türkenjahres 1683 in Atzgersdorf. In: Wiener Geschichtsblätter. Hrsg. vom Verein für Geschichte der Stadt Wien. Nr. 1, 13. (73.) Jg. 17–19.