Hernalser Hauptstraße 190-192, Karte
Text: Silvia Dallinger
Die städtische Wohnhausanlage ‚Türkenritthof‘ wurde in den Jahren 1927/28 an der Hernalser Hauptstraße 190–192 im 17. Wiener Gemeindebezirk errichtet. Über dem Haupteingang erinnert die Sandsteinplastik ,Türkenritt‘ an den ‚Hernalser Eselsritt‘, einen Maskenumzug, der nach der Zweiten Osmanischen Belagerung Wiens 1683 alljährlich stattfand und der Verspottung des besiegten Feindes diente. Im Mittelpunkt des Umzugs stand „ein tüchtiger, wohlbeleibter Bassa [Pascha] im schönsten morgenländischen Schmucke“ (Žiška 1819: 194), der verkehrt auf einem Esel ritt und dabei vom Publikum verhöhnt wurde. Der Brauch wurde jedes Jahr anlässlich des Hernalser Kirchweihfestes am Sonntag nach Bartholomäi (24. August) gefeiert und wurde 1783 von Kaiser Joseph II. aufgrund zu großer Ausschweifungen und Exzesse verboten (vgl. ebd.).
Der ‚Türkenritt‘ und seine Ursprünge
Der ‚Türkenritt‘ und seine Ursprünge
Ursprünglich war der ‚Eselsritt‘ eine im Mittelalter praktizierte Form der Schau-Bestrafung, bei der die angeklagte Person, verkehrt auf einem Esel sitzend, vorgeführt wurde. Dieses Ritual erfüllte eine ähnliche Funktion wie der Pranger. Die Betroffenen mussten rücklings auf einem Esel durch den Ort reiten, seinen Schweif halten und wurden so dem Gespött der Menge preisgegeben. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden unter anderem Kriegsgefangene durch einen ‚Eselsritt‘ bestraft und gedemütigt (vgl. Mailly 1927: 4).
Der ‚Hernalser Eselsritt‘ als folkloristischer Umzug geht aber auch auf kirchliche und saisonale Bräuche zurück. Er ist gleichsam ein Hybrid aus verschiedenen Bräuchen, die sich über die Jahrhunderte verändert haben.
Vor allem die mittelalterlichen Narren- und Eselsfeste gelten als dessen Ursprung. Diese wurden am Palmsonntag gefeiert und erinnerten an die Flucht nach Ägypten, als Maria mit dem Jesuskind auf einem Esel vor Herodes floh (vgl. Coeckelberghe-Dützele 1846: 413). Im Mittelpunkt dieses grotesk komischen, feuchtfröhlichen Fests stand der Esel. Die Teilnehmer*innen der Eselsfeste trugen orientalische Kostüme, die Spottfigur war Herodes. Nach der Zweiten Osmanischen Belagerung Wiens dürfte das Eselsfest zu einer geschichtlichen Gedenkfeier umgedeutet worden sein – aus Herodes wurde ein Pascha (vgl. Wolf 2000: 77).
Der erste erhaltene Hinweis auf eine Verknüpfung zwischen dem ‚Eselsritt‘ und der Zweiten Osmanischen Belagerung Wiens findet sich auf Flugblättern aus dem Jahr 1684. Auf einem dieser „Schandgemälde“ ist zu lesen:
Ein weiterer möglicher Ursprung des ‚Eselsritts‘ sind Winzerfeste, die im Weinhauerdorf Hernals des 17. und 18. Jahrhunderts gefeiert wurden. Für diese Verknüpfung spricht, dass der ‚Hernalser Eselsritt‘ Ende August stattfand, parallel zur ersten Mostausschank. Auch dass dem Pascha als weitere Form der Verhöhnung und trotz des islamischen Alkoholverbots Unmengen von Wein verabreicht wurden, erinnert an den damals bekannten Urbaniritt, der zu Ehren des Schutzpatrons der Winzer gefeiert wurde (vgl. Haberlandt 1929: 263).
Nach dem Verbot des ‚Hernalser Eselsritts‘ 1783 dürften Elemente des Brauchs im Rahmen großer Faschingsumzüge vor allem in Dornbach aufgegriffen worden sein. Diese Umzüge enthielten neben dem ‚Eselsritt‘ auch viele andere Bezüge auf alte Bräuche. Hintergrund für diese Festlichkeiten war,
Zuletzt fand dieser Faschingsumzug im großen Stil am 2. Februar 1842 statt (vgl. Will 1924: 161).
Stein gewordene Erinnerung – Gemeindebau und Denkmal
Stein gewordene Erinnerung – Gemeindebau und Denkmal
Der nächste Bezug auf den ‚Türkenritt‘ lässt sich erst wieder rund 90 Jahre danach finden, als in den Jahren 1927/28 die städtische Wohnhausanlage ‚Türkenritthof‘ nach den Plänen des Wiener Architekten Paul Hoppe errichtet wurde (vgl. Hautmann 1980: 404). Zusätzlich zum Namen des Hofs verweist auch eine über dem Haupteingang angebrachte Sandsteinplastik von Karl H. Scholz auf den ‚Türkenritt‘.
Die dargestellte Figurengruppe misst circa zwei mal drei Meter und zeigt den verkehrt auf dem Esel reitenden Pascha, der von mehreren Kindern verspottet wird. Der verkleidete ‚Türke‘ trägt orientalische Gewänder: einen Turban, Pluderhosen und orientalische Schuhe. Der Esel wiederum, dessen Schweif vom Reiter festgehalten wird, schlägt in der Darstellung aus. Während der Kopf des Esels nach unten gebeugt ist, zieht ihn eines der Kinder an den Ohren; ein Hund beißt in sein Vorderbein. Sowohl der Reiter als auch die Kinder ringsum scheinen zu lachen.
Dass gerade die Wiener Sozialdemokratie nach so langer Zeit auf den Brauch als identitätsstiftendes Ereignis zurückgreift, ist jedoch verwunderlich. Normalerweise generierten sich die Namen der Gemeindebauten aus der örtlichen Setzung (z.B. Sandleiten) oder aus einem Repertoire an sozialistischen Persönlichkeiten (z.B. Karl Marx). Beim sogenannten Frauenfeld, wo der ‚Türkenritthof‘ errichtet wurde, handelte es sich um einen wichtigen Kampfschauplatz der Zweiten Osmanischen Belagerung Wiens (vgl. Kinz 1994: 47). Dieser Ort galt als ein authentischer „Erinnerungsort“ (Nora 2005), der 1927 noch eng verbunden war mit dem Gedenken an 1683 und zugleich mit dem Gedenken an den lokal verankerten ‚Volksbrauch‘ des ‚Türkenritts‘. Bis dahin waren es vor allem klerikal-konservative Kräfte, die die Ereignisse des Jahres 1683 in Erinnerung gehalten hatten. Dass in diesem Fall das ‚Rote Wien‘ die Deutungshoheit über diese historischen Bezüge und eine folkloristische Formensprache von den Christlichsozialen übernahm, könnte dazu gedient haben, in der Zwischenkriegszeit eine patriotische Selbstvergewisserung herbeizuführen.
Ergänztes Gedenken – die beiden Gedenktafeln am ‚Türkenritthof‘
Ergänztes Gedenken – die beiden Gedenktafeln am ‚Türkenritthof‘
Im Durchgang zum Innenhof des ‚Türkenritthofs‘ ist, halb verdeckt von den Mülleimern des Gemeindebaus, eine Gedenktafel aus den 1920er Jahren mit folgender Aufschrift angebracht:
Am 14. September 2022 wurde auf Initiative der Bezirksvertretung Hernals und umgesetzt durch Wiener Wohnen eine Ergänzungstafel mit folgender Inschrift angefügt:
Im Gegensatz zur älteren Tafel ist diese gut sichtbar auf der Straßenseite des Gemeindebaus angebracht. Aus einer Anfrage an Wiener Wohnen geht hervor, dass die Intention darin bestand, die alte Einordung des ‚Türkenritts‘ um eine historisch differenziertere Version zu ergänzen. Weiters sollte die alte Tafel erhalten bleiben, „denn jeder Text steht für seine Zeit und sein Geschichtsverständnis“ (Anfrage Wiener Wohnen 11.03.2024).
Reinszeniertes Gedenken – Die Wiederbelebung des Brauchs in den 1930er Jahren
Reinszeniertes Gedenken – Die Wiederbelebung des Brauchs in den 1930er Jahren
Bereits drei Jahre nach der Fertigstellung des ‚Türkenritthofs‘ kam es zu einer Wiederbelebung des Brauchs durch einen christlichsozialen Verein, was wiederum als Antwort auf die Errichtung des ‚Türkenritthofs‘ durch die Sozialdemokratie gesehen werden kann.
So wurde der ‚Hernalser Eselsritt‘ am 29. März 1931 (Palmsonntag) „nach neunzigjähriger Pause“ (Wiener Bilder 5.4.1931: 10) als Auftaktveranstaltung des im Jänner desselben Jahres gegründeten christlichsozialen Alt-Wiener-Bunds organisiert, der sich zum Ziel setzte, „Alt-Wiener Volkstrachten, Volkstänze, Volkssitten und Gebräuche zu verbreiten und solche Bestrebungen zu fördern“ (Reichspost 18.1.1931: 9).
Der mit großem Aufwand inszenierte Umzug verlief entlang der Hernalser Hauptstraße bis zur Hernalser Kalvarienbergkirche. Das Spektakel lockte tausende Zuseher/innen an und wurde von der Selenophon-Tonfilmschau Austria für eine Ausgabe der Wochenschau aufgezeichnet (Filmarchiv Austria), „um auch in Ton und Bild Propaganda für unsere Heimat zu machen“ (Reichspost: ebd.).
Bemerkenswert ist, dass es sich bei diesem Beitrag um eine der ersten Filmaufnahmen mit Ton in Österreich handelt. Der ‚Eselsritt‘ ist dabei einer von nur zwei erhalten gebliebenen Beiträgen der von 1930 bis 1932 aktiven Selenophon-Tonfilmschau Austria (vgl. Gloger 2002).
Die dreiminütige Aufnahme zeigt Szenen des Maskenumzuges, die stark an die typischen Beschreibungen des ,Hernalser Eselsritts‘ angelehnt sind. Zu sehen sind unter anderem Kara Mustafa, der Oberbefehlshaber des osmanischen Heeres, und sein Gefolge sowie Janitscharen, also die Elitesoldaten des osmanischen Heeres, und eine weitere als Pascha verkleidete Person, die verkehrt auf einem Esel reitet und Wein trinkt. Hinter dem Pascha marschieren zahlreiche in Ketten gelegte ‚Christensklaven‘, die von Janitscharen bewacht werden, auszubrechen versuchen und wieder eingefangen werden. Dazu wird von einer ‚türkischen Banda‘ der Militärmarsch „Oh du mein Österreich“ gespielt, die wohl heimliche Hymne Österreichs in der Zwischenkriegszeit, als die Erste Republik offiziell noch keine eigene Hymne hatte.
Wie einer Dokumentation der Bundespolizeidirektion vom 25. März 1931 zu entnehmen ist, gab es im Vorfeld eine Intervention des türkischen Gesandten in Wien. Es seien aber alle Vorkehrungen getroffen worden, um der Veranstaltung keinen politischen Charakter zu geben (etwa dadurch, dass nicht vom ‚Türkenritt‘, sondern vom ‚Hernalser Eselsritt‘ die Rede war), sodass der türkische Gesandte seine Einwände fallen ließ (vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv 1931).
Der 1931 wiederaufgenommene Brauch dürfte den Informationen eines 2010 interviewten Zeitzeugen folgend vermutlich bis in die ersten Kriegsjahre hinein jährlich gefeiert worden sein.
‚Die Alliierten‘ als neue ‚Türken‘ – die Wiederbelebungen in den 1950er Jahren
‚Die Alliierten‘ als neue ‚Türken‘ – die Wiederbelebungen in den 1950er Jahren
Nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte man sich 1954 erneut an den Brauch. Der ‚Hernalser Eselsritt‘ wurde am Palmsonntag, den 11. April 1954, und vermutlich auch 1955 in etwas modifizierter Form wiederbelebt. Teil des Umzugs 1954 waren rund 160 verkleidete Personen, darunter nicht nur der rücklings auf seinem Esel reitende Pascha, sondern auch zentrale Figuren der Zweiten Osmanischen Belagerung, wie etwa der kaiserliche Feldherr Karl V. von Lothringen oder der polnische König und Oberbefehlshaber des christlichen Entsatzheeres Jan III. Sobieski (Neues Österreich 11.4.1954: 5).
Besonders bemerkenswert ist jedoch folgender Bezug zur zeitgenössischen Politik: „Als Bindeglied vom Einst zum Heute symbolisierte eine hübsche Hernalserin ‚Frau Austria‘, die von vier schwarzgekleideten zylinderbehüteten Männern in Ketten gehalten wurde ...“ (Das Kleine Volksblatt 13.4.1954: 6) – eine klare Anspielung auf die damalige Besatzung Österreichs durch die Alliierten. Die ‚Türken‘, die 1954 per se keine Rolle als Feindbild spielten, dienten somit als Platzhalter für das Feindbild ‚Alliierte‘ als ‚neue Belagerer‘.
Diese Funktion ‚der Türken‘ als Platzhalter für die jeweiligen politischen Gegner hat Tradition. Erst 1933, anlässlich des 250-jährigen Jubiläums der Zweiten Osmanischen Belagerung, nutzten die regierenden Christlichsozialen unter Engelbert Dollfuß Bedrohungsbilder von ‚den historischen Türken‘, um diese auf die zeitgenössischen ‚Feinde‘, Bolschewisten, Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, zu übertragen (vgl. 250-jähriges Jubiläum 1933).
Während die Alliierten „gegen den Umzug der ‚Frau Austria‘ in Ketten überraschenderweise nichts einzuwenden hatten“, legte die türkische Botschaft, wie schon in den 1930er Jahren, Wert darauf, dass der Umzug nicht als ‚Türkenritt‘, sondern neutraler als ‚Eselsritt‘ bezeichnet werden sollte. Organisator des ‚Eselsritts‘ war der Verein „Soziale Hilfsaktion von Mensch zu Mensch“, der Spenden für Kinder und Hinterbliebene von Kriegsopfern sammelte (Neues Österreich: ebd.).
‚Dritte Wiener Türkenbelagerung‘ – die Wiederbelebungen in den 1980er Jahren
‚Dritte Wiener Türkenbelagerung‘ – die Wiederbelebungen in den 1980er Jahren
Die bislang letzten ,Hernalser Eselsritte‘ fanden zwischen 1983 und 1988 statt und wurden von einem Bezirksfunktionär der Hernalser Volkspartei initiiert. Im Gegensatz zu früheren Versionen des Brauches handelte es sich beim ‚Türkenrittfest‘ nicht um einen großen Maskenumzug, sondern um ein kleineres, kirtagähnliches Straßenfest mit einem Vergnügungspark für Kinder, einer Blasmusikkapelle und Ständen zur kulinarischen Versorgung. Im Zentrum des Festes stand als einziger verkleideter Protagonist weiterhin ein verkehrt auf einem Esel reitender Pascha (vgl. Interviews mit dem Initiator des Festes 2010, im Folgenden Interview 1a und 1b).
Anlass für die Reaktivierung des Brauches war das 300-jährige Jubiläum der Zweiten Osmanischen Belagerung Wiens 1983. Dies war wohl auch der Grund, das Fest nicht wie bei den anderen Wiederbelebungen des Brauchs auf den Palmsonntag zu legen, sondern es rund um den 12.September, den Tag der Entscheidungsschlacht gegen die Osmanen, stattfinden zu lassen.
Im Hernalser Bezirksjournal von 1983 wird der Bezug zwischen Hernals und 1683 unter der Verwendung von zahlreichen Superlativen beschrieben: So seien Döbling, Währing und Hernals „am meisten in Mitleidenschaft gezogen“ gewesen, die „blutigste Schlacht“ habe am Hernalser Frauenfeld stattgefunden. Daraus lasse sich schließen, dass „das Türken-Jubiläumsjahr 1983 […] sicher der gegebene Anlaß [ist], um dieses traditionelle Brauchtum, wenn auch in modifizierter Art, wiedererstehen zu lassen“ (Bezirksjournal Hernals 1983: 5). Auch wenn der ,Hernalser Eselsritt‘ im 20. Jahrhundert „nur mehr vereinzelt […] abgehalten wurde, so ist und bleibt“, dieser rechtfertigenden Argumentationslinie folgend, „der 12. September ein denkwürdiger Tag für Hernals, für Wien, für ganz Europa. Deshalb ist es nur gut und recht mit dem TÜRKENRITTFEST […] diesem historischen Ereignis zu gedenken“ (Bezirksjournal Hernals 1984: 13).
Das ‚Türkenrittfest‘ wurde von der Hernalser ÖVP als positive Identifikationsfläche gesehen, als Belustigung für potentielle Wähler/innen und als Chance mit diesen in Kontakt zu treten (vgl. Interview 1b, 9.9.2010: Abs. 49). Es sei „halt eine Hetz“ gewesen, die „als historisches Fest hingenommen wurde“. Von der ‚türkischen community‘ oder diversen Medien habe es, anders als bei den früheren Wiederbelebungen des Brauches, keine Reaktionen gegeben (vgl. ebd.: Abs. 80).
Dass dabei nicht nur an ein historisches Ereignis erinnert wurde, sondern auch ganz plakativ Bezüge zu einer xenophoben Migrationspolitik hergestellt wurden, zeigt z.B. ein Plakat mit dem Titel „3. Türkenbelagerung Wiens 1983“, das zwischen 1983 und 1988 jedes Jahr beim ,Türkenrittfest‘ ausgestellt wurde. Darauf zu sehen sind neben historischen Darstellungen von Osmanen auf Pferden u.a. auch Bezüge auf ‚die neuen Türken‘: stereotypisch gezeichnete Zeitungsverkäufer mit Turbanen sowie eine ‚Türkenhorde‘, die ebenfalls mit Turbanen und mit Halbmonden versehenen Lanzen – aus der UNO-City herausströmt. Damit wurde die zeitgenössische Kritik der ÖVP am kostenintensiven Bau des Konferenzzentrums Austria Center Vienna bei der UNO-City aufgegriffen. Die ÖVP hatte ein Volksbegehren dagegen initiiert, das 1,4 Millionen Bürger/innen unterschrieben (vgl. dasrotewien.at)
Im Interview fügt der Initiator des Festes erklärend hinzu:
Dass das dargestellte Foto gerade an jener Stelle, wo ein mutmaßlicher ‚Nicht-Österreicher‘ zu sehen ist, geknickt ist, kann als weitere Form der Abgrenzung von ‚den Türken‘ gelesen werden.
Nach Aussage des Initiators konnte er das ,Türkenrittfest‘ nach 1988 aufgrund von eigenen beruflichen Veränderungen und Zeitmangel nicht mehr organisieren.
Nasreddin Hoca – der ‚Türkenritt‘ anders gelesen
Nasreddin Hoca – der ‚Türkenritt‘ anders gelesen
Dass das ‚Türkenritt‘-Denkmal aber auch ganz anders als im intendierten Sinne gedeutet werden kann, zeigt das Beispiel einer Befragten mit türkischem Migrationshintergrund, die mit dem Brauch des ‚Türkenritts‘ vorerst nicht vertraut war. Als sie in der Nähe ihres Wohnorts auf das Denkmal stößt, glaubt sie Nasreddin Hoca darin zu erkennen, einen Gelehrten, der im 13./14. Jahrhundert in Anatolien lebte und bis heute in der Türkei sehr bekannt und beliebt ist.
Im Gegensatz zu der verspottenden, herabwürdigenden Bedeutung des Verkehrt-auf-dem-Esel-Reitens beim ‚Türkenritt‘ wird die Bedeutung des Verkehrt-Reitens bei Nasreddin Hoca diametral ins Positive gedreht. In einer Anekdote beschreibt Nasreddin Hoca es als eine Art von Respektshandlung, jenen, die hinter ihm reiten, nicht den Rücken zuwenden zu wollen, weshalb er selbst verkehrt auf dem Esel reitet (Frank 1994).
Schlussbetrachtungen
Schlussbetrachtungen
Anhand der historischen Kontextualisierung der Entstehung des ‚Türkenritts‘ und seiner Reinszenierungen wird deutlich, dass Brauch und Denkmal verschiedene Bedeutungsschichten in sich tragen, die je nach den jeweiligen Deutungskontexten, Akteur/innen und deren zeitgenössischen Interessen variieren.
In den 1930er Jahren war wohl eine der Funktionen der Wiederbelebung des ‚Türkenritts‘ das Wiedererlangen der politischen Deutungsmacht im öffentlichen Raum durch einen christlichsozialen Verein bei gleichzeitiger Abgrenzung von den Sozialdemokrat/innen. Auch das Rückbesinnen auf einen historischen Sieg, auf frühere Größe unter Verwendung eines als harmlos geltenden ‚Volksfestes‘ diente nach den Niederlagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg der ‚unschuldigen‘ Stärkung eines ‚Wir‘-Gefühls. Die Abgrenzung von den ‚neuen Belagerern‘, den Alliierten, in den 1950er Jahren drückte dabei die Hoffnung auf einen neuerlichen ‚Sieg‘, die Unabhängigkeit Österreichs, aus. In den 1980er Jahren wurde auf die historischen ‚Türken‘ zurückgegriffen, um dieses Mal konkret auf die zeitgenössischen ‚Türken‘, auf (türkische) Arbeitsmigrant/innen zu verweisen und vor einer vermeintlich neuen ‚Türkenbelagerung‘ zu warnen.
Gemein ist diesen Wiederbelebungen, dass offiziell vorrangig das Gedenken eines historischen Ereignisses, Brauchtumspflege und Volksbelustigung als Hintergründe für die Festlichkeiten angegeben wurden. Tatsächlich handelte es sich aber vor allem um politische Feste. Die Bezüge zum ‚Türkenritt‘ oder auch zur ‚Türkenbelagerung‘ an sich dienten dabei der politischen und identitären Selbstverortung und Abgrenzung von zeitgenössischen ‚Anderen‘. Dass dabei je nach Betrachter/in auch gänzlich andere Deutungen als die intendierten auftreten können (siehe das Beispiel des Nasreddin Hoca), zeigt wie fluide ein Denkmal oder ein Gedenkumzug in seinen (Be-)Deutungen sein kann.
Dieser Beitrag basiert auf Recherchen und Interviews, die zwischen 2009 und 2012 im Rahmen des ÖAW DOC-Team Projekts „Vom Denkmal zum ‚Nachdenkmal‘. Die zweite Wiener ‚Türkenbelagerung’ zwischen Historisierung und Aktualisierung“ entstanden und unter anderem in Dallinger, Silvia (2013) eingeflossen sind.
Weitere Erinnerungen an den ‚Eselsritt‘
Weitere Erinnerungen an den ‚Eselsritt‘
Das Keramikrelief „Hernalser Eselsritt“ in der Pezzlgasse 79–81 ist ein weiteres Denkmal, das in Hernals an den Eselsritt erinnert.
Ein weiteres Keramikrelief befindet sich beim Griechenbeisl in der Wiener Innenstadt.
Gedenktafel für Leo Holy
Gedenktafel für Leo Holy
Im Türkenritthof befindet sich auch eine Gedenktafel zur Erinnerung an Leo Holy, Mitglied des ‚Republikanischen Schutzbundes‘ und Vertrauter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Er wurde am Morgen des 13. Februar 1934 im Zuge der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und der ‚Vaterländischen Front‘ bei der Besetzung des Türkenritthofs von Polizisten erschossen. Er hielt sich zu dieser Zeit in der Wohnung von Olivia Siegl, der Witwe des sozialdemokratischen Stadtrates Franz Siegl, auf.
Die Inschrift der Gedenktafel lautet folgendermaßen:
Eine städtische Wohnhausanlage in der Nähe (Gräffergasse 5) trägt seinen Namen (Holy-Hof).
Literatur
Literatur
Coeckelberghe-Dützele, Gerhard R. W. von (Realis (Pseud.))/Köhler, Anton (Hg.) (1846): Curiositäten- und Memorabilien Lexicon von Wien. Ein belehrendes und unterhaltendes Nachschlag- und Lesebuch in anekdotischer, artistischer, biographischer, geschichtlicher, legendarischer, pittoresker, romantischer
u. topographischer Beziehung. Band 1. Wien: Druck von A. Pichler’s Witwe, S. 413–414.
Bezirksjournal Hernals (1983, 8): Das „Türkenrittfest“ gibt es jetzt wieder, S. 5.
Bezirksjournal Hernals (1984, 8): „Der Eselritt von Hernals“, S. 13.
Dallinger, Silvia (2013): Was macht ein Pascha auf einem Esel? Die zweite Wiener ,Türkenbelagerung‘ als gegenwärtige Vergangenheit. In: Feichtinger, Johannes/Heiss, Johann: Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“. Kritische Studien zur „Türkenbelagerung“. Band 1. Wien: Mandelbaum Verlag, S. 168–191.
Dallinger, Silvia (2010): 250-jähriges Jubiläum 1933 (online; abgerufen am 2.8.2023).
Filmarchiv Austria (1931): „Eselsritt – Wiener Volksbelustigung vom Alt-Wiener Bund nach 100 Jahren wieder eingeführt“, Selenophon-Tonfilmschau Austria.
Frank, Gerd (Hg.) (1994): Der Schelm vom Bosporus. Anekdoten um Nasreddin Hodscha. Berlin.
Gugitz, Gustav (1949): Das Jahr und seine Feste im Volksbrauch Österreichs. Studien zur Volkskunde. Band 1. Wien.
Gloger, Josef (2002): Die österreichische Selenophon Licht- und Tonbildges.m.b.H. In: Achenbach, Michael/Moser, Karin (Hg.): Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates. Wien, S. 149–160.
Haberlandt, Arthur (1929): Österreich. Sein Land und Volk und seine Kultur. Wien/Weimar.
Hautmann, Hans/Hautmann, Rudolf (1980): Die Gemeindebauten des roten Wien 1919–1934. Wien.
Kinz, Maria (1994 [1986]): Liebenswertes Hernals. Wien.
Das Kleine Volksblatt (13.4.1954): Der „Eselsritt“ in Hernals, S. 6.
DasRoteWien.at. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie: UNO-City (online; abgerufen am 28.7.2023).
Mailly, Anton (1927): Der Hernalser Eselritt. In: Wiener Zeitschrift für Volkskunde 32, S. 1–5.
Neues Österreich (11.4.1954): Ein Stück Alt-Wien wird wieder lebendig: Von der Türkenbefreiung zum Eselsritt, S. 5.
Nora, Pierre (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. München.
ÖNB Bildarchiv (1954): Wagen mit Frau Austria in Ketten, US 11.883/4.
ÖNB Bildarchiv (1954): Rücklings auf Esel reitender Pascha, US 11.883/2.
Reichspost (18.1.1931): Zurück zu altem Brauch und alter Sitte. Arbeit und Programm der Deutschen Landsmannschaften Österreichs, S. 9.
Voigt, Leopold (1684): Flugblatt „Der elende und schimpfliche Abzug deß Türkischen Groß-Veziers“ (online; abgerufen am 23.7.2023).
Wiener Bilder (5.4.1931): Ostern in aller Welt, S. 9–12.
Wiener Stadt- und Landesarchiv (März 1931): „Alt-Wiener Bund, Historischer Umzug (Eselritt)“. Pol.Dion Präs.Z.IV-1488. Türkei I/iz.
Wiener Wohnen (11.3.2024): Beantwortung einer E-Mail-Anfrage zu den Entstehungskontexten der neuen Gedenktafel am ‚Türkenritthof‘.
Will, Hans (1924): Der Eselsritt in Hernals. In: Hernalser Lehrer (Hg.): Hernals. Ein Heimatbuch für den 17. Wiener Gemeindebezirk. Wien, S. 159–161.
Wolf, Helga Maria (2000): Das neue Brauchbuch. Alte und junge Rituale für Lebensfreude und Lebenshilfe. Wien.
Žiška, Franz (1819): Der Eselritt zu Hernals. In: Büsching, Dr. Johann G. (Hg.): Der Deutschen Leben, Kunst und Wissen im Mittelalter. Eine Sammlung einzelner Aufsätze. Band 2. Breslau, S. 193–194.