Sterngasse 3 , Karte
Text: Marion Gollner
An der Fassade des Wiener Neustädter Hofs (früher „Berghof“) in der Sterngasse 3 (Wien I.) wurde ein schwerer Steinbrocken neben dem Portal eingemauert, den die Türken 1683 von der Leopoldstadt auf das belagerte Wien abgefeuert haben sollen. Bei der Kugel soll es sich nicht nur um die angeblich größte Türkenkugel in der Wiener Innenstadt handeln, sondern auch um eines der wenigen Originale. Viele andere so genannte Türkenkugel wurden zur Erinnerung an die Belagerung Wiens erst nachträglich angefertigt.
Türkische Kanonenkugel mit Inschrift
Die Türkenkugel befindet sich heute links neben dem Eingangsportal in einer rechteckigen Mauernische in rund drei Meter Höhe. Der Stein ist an einer Kette befestigt und mit folgender Inschrift versehen:
Anno 1683 Jahr dem 20. July ist Diser Stein aus einer Mörser. v. Dem Dyrckh aus der Leopoldstatt hereingeworffen worden. Wegt 79 Pfundt
Durch den Einschlag der türkischen Steinkugel sollen angeblich weder Personen verletzt worden sein, noch sei der Schaden am Gebäude erheblich gewesen (vgl. Burgenkunde.at (nicht mehr online)).
Früher soll das rund 40 Kilogramm schwere Mörsergeschoss im Innenhof des Gebäudes aufgestellt gewesen sein (vgl. Bernard/Bietak 1997:250). Seit dem Neubau des Wiener Neustädter Hofs unter Abt Benedikt Hell ist die Türkenkugel nun an der Fassade angebracht (Czeike 1995:390).
Dass die Türken die belagerte Stadt Wien 1683 vom heutigen zweiten Wiener Gemeindebezirk (Leopoldstadt) aus unter Beschuss nahmen, ist auch Gegenstand von Sagen und Legenden, wie folgendes Beispiel zeigt:
Am 17. Juli des unheilvollen Jahres 1683 fiel die Leopoldstadt in die Hände der Türken. Sobald sich diese daselbst festgesetzt hatten, erfuhr diese Vorstadt dasselbe Schicksal, welches die übrigen Vorstädte getroffen hatte. Kirchen und Paläste wurden in Schutthaufen verwandelt; die schönsten Gärten, wie die kaiserliche Favorita (Augarten), wurden vom Grunde aus verheert. Die kostbarsten Einrichtungen und prächtigsten Hausgeräte gingen in Flammen auf, weil die Einwohner dieselben nicht in die Stadt geborgen hatten, da ihnen versichert worden war, daß diese Vorstadt von der Armee stets besetzt und bedeckt gehalten würde. Nun bildete die Leopoldstadt für die Türken einen sehr geeigneten Punkt, von welchem aus sie die Stadt mit ihren Geschützen auf das wirksamste bestreichen konnten. Sie gruben von der Jägerzeile herauf bis über die Schlagbrücke hinaus neue Laufgräben, errichteten an der Donau und bei der Kirche der Barmherzigen Brüder neue Batterien, von welchen aus sie die Stadt besonders gegen den alten Fleischmarkt und das St.-Lorenzo-Kloster durch Bomben in schwere Nöten brachten. Am 21. Juli beschoß der Feind die Stadt von der Leopoldstadt aus besonders heftig; erst bei Nacht ruhten die Geschütze. (Sagen.at)
Anders als in der Sage behauptet, waren es jedoch die Verteidiger selbst, die die Vorstädte kurz vor der Belagerung Wiens in Brand steckten, um dem herannahenden osmanischen Heer keine Möglichkeit für Plünderung und Deckung zu bieten.
Die Geschichte des Wiener Neustädter Hofs
Der Wiener Neustädter Hof bzw. „Berghof“, wie das Gebäude in der heutigen Sterngasse 3 früher genannt wurde, weist eine bewegte Geschichte auf, die bis zur Zeit der Völkerwanderung bzw. Römer zurückreicht:
In der Römerzeit befand sich hier im nordöstlichen Eck des Lagers die dazugehörige Badeanlage, von deren Portal Reste in der Sterngasse gefunden und als Denkmal bei der Stiege aufgestellt wurden. Unter der Fahrbahn der Sterngasse fand man auf gewachsenem Löß Reste von Holzbauten des 1. Jahrhunderts n.u.Z., darüber die ersten römischen Steinbauten der Zeit um 100 sowie Spuren des Wiederaufbaus nach der Zerstörung der Markomannenkriege (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts). Darüber lag die völkerwanderungszeitliche Brandschicht von frühestens 400 n.u.Z. (Bernard/Bietak 1997:246f.)
Jeff Bernard und Dieter Bietak, die sich mit der denkmalpflegerischen Charakteristik und Historie des Wiener Neustädter Hofs auseinandersetzten, gehen davon aus, dass es im Umkreis des Hofs seit der Antike ein reges Marktleben gab, das den städtischen Aufstieg Wiens begründet haben soll:
‘Berghof‘ war der Name des Herrenhofes, der sich aus der anfänglichen Restsiedlung innerhalb der Mauern der römischen Badeanlage entwickelt hatte. Nach ungesicherter Überlieferung von Jans Enikel (13. Jahrhundert) war es ursprünglich das einzige Gebäude Wiens, um das ein Heide, vermutlich ein awarischer Würdenträger, ein befestigtes Städtchen errichtete. (Bernard/Bietak 1997:247)
Der Berghof, der in der Fürstenchronik des oben genannten Jans Enikels als “eines Heiden Haus“ bezeichnet wird und als erste Stadtburg gilt (vgl. Csendes/Opll 2001: 52), erlebte im Frühmittelalter seine Blütezeit.
Ausschlaggebend für den darauffolgenden Bedeutungsverlust des Berghofs war der Entschluss Heinrichs II. Jasomirgott, die Kaiserresidenz von Klosterneuburg nach Wien zu verlegen. Was die Eigentumsverhältnisse anbelangt, so dürfte sich der Berghof um 1200 im Besitz der ritterlichen Familie der Greifen befunden haben. Im Dienstbuch des Wiener Bürgerspitals, das das Gebäude erstmals schriftlich erwähnt, wird der Wiener Bürgermeister von 1307, Dietrich von Kahlenberg, als späterer Besitzer genannt. Im Jahr der zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683 erbte Johann Franz Ennßbaum, Sohn des Äußeren Rates und Stadtunterkämmerers Georg Ehrenreich Ennßbaum, den Berghof von seinem Vater (vgl. Bernard/Bietak 1997:247ff.).
Das Gebäude wird komplett renoviert
Am 24. Mai 1708 wurde das Gebäude unter Abt Robert Lang an die Zisterzienserabtei Neukloster in Wiener Neustadt übergeben – daher die bis heute gebräuchliche Bezeichnung „Wiener Neustädter Hof“. In den Jahren 1734 bis 1735 wurde das Bauwerk unter Abt Benedikt Hell komplett renoviert. Aus einer damaligen Abrechnung, die einen gewissen Johann Gabriel Pauli als Bau- und Maurermeister verzeichnet, geht hervor, „daß das alte Gebäude zu großem Teil abgerissen wurde und das Haus fast von Grund auf neu konzipiert und gutteils auch neu gebaut sowie um eines auf vier Geschoße erweitert wurde“ (Bernard/Bietak 1997:250).
Im Wiener Neustädter Hof befand sich zudem eine Schenke des Klosters, Neustädter Keller genannt, die sich großer Beliebtheit erfreute (vgl. Czeike 1995:390).
Die Website der Stadt Wien nennt unter Bezugnahme auf eine Basisinventarisierung der Magistratsabteilung 19 jedoch Anton Johann Ospel (1677–1756) als Architekt des neu errichteten Wiener Neustädter Hofs (vgl. Wien.gv.at). Dieser war zuerst Hofarchitekt der Fürsten von Lichtenstein, bevor er 1722 in Wien zum Zeugwart und Geschützhauptmann bestellt wurde. Zu Ospels bedeutsamsten Bauwerken zählt das bürgerliche Zeughaus am Hof. Eine Informationstafel an der Fassade des Wiener Neustädter Hofs, von der Stadt Wien rechts neben dem Eingangsportal angebracht, äußert lediglich eine Vermutung. Darauf ist zu lesen: „vielleicht nach Entwurf von Anton Ospel erbaut“.
Die gravierenden Umbauarbeiten, denen der Wiener Neustädter Hof sein heutiges Aussehen größtenteils verdankt, brachten das Neukloster jedoch in große finanzielle Schwierigkeiten, wodurch es 1880 in den Besitz des Stiftes Heiligenkreuz überging.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Dach des Hauses sowie die Innenhofmauer von einer Bombe zerstört, später jedoch in der früheren Form wiederhergestellt (vgl. Bernard/Bietak 1997: 249f.).
Zu den bekanntesten Bewohnern des Wiener Neustädter Hofs zählt der Dichter Johann Ladislaus Pyrker, Abt von Lilienfeld, Erzbischof von Eger/Erlau und Gründungsmitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der dort 1847 verstarb.
Einen Hinweis auf den einstigen „Berghof“ liefert heute nur noch das alte Straßenschild „Berghof 4“ im Innenhof der Wohnhausanlage Hoher Markt 8–9.
Als typischer „Barocker Wiener Prälatenhof“ (Bernard/Bietak 1997: 237) ist heute vor allem die Fassade mit Pilastergliederung, Bänderung in der Sockelzone und ornamentierter Fensterbekrönung von kunsthistorischer Bedeutung (vgl. Czeike 1983).
Die Sterngasse verdankt ihren Namen seit 1886 dem ehemaligen Hausschild „Zum weißen Stern“.
Literatur
Literatur
Bernard, Jeff/ Bietak, Dieter (1997): Der Wiener Neustädter Hof alias Berghof – eine Sonde ins Jahr Null. In: Smudits, Alfred/ Staubmann, Helmut (Hg.): Kunst – Geschichte – Soziologie. Beiträge zur soziologischen Kunstbetrachtung aus Österreich. Festschrift für Gerhardt Kapner. Frankfurt am Main/Berlin/Bern. 237-252.
Burgenkunde.at: Wiener Neustädter Hof, 09.08.2010 (nicht mehr online).
Csendes, Peter/ Opll, Ferdinand (Hg.) (2001): Wien. Von den Anfängen bis zur ersten Wiener Türkenbelagerung. Wien (Online-Version bei Google-Books).
Czeike, Felix (1983): Wiener Bezirkskulturführer Innere Stadt. Wien.
Czeike, Felix (1995): Historisches Lexikon Wien. Band 4. Wien.
Egghardt, Hanne/ Kunz, Katharina (2005): Wien. Falk Spirallo Reiseführer. Ostfildern (Online-Version auf Google-Books, 20.09.2020).
Historisches Museum der Stadt Wien (Hg.) (1983): Die Türken vor Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1683. Katalog zur 82. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. 5. Mai bis 30. Oktober 1983. Wien.
Sagen.at: Von der zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683, 20.09.2020.
Wien.gv.at: Wiener Neustädter Hof – Gebäudeinformationen, 10.08.2010 (nicht mehr online).