Text: Irmgard Nöbauer

Die sella turcica (dt. Türkensattel) befindet sich auf dem Boden der mittleren Schädelgrube der menschlichen Schädelbasis. Sie liegt in der Mittelachse des menschlichen Schädels und gehört zum Os spheonidale (dt. Keilbein). Der ungewöhnliche anatomische Begriff taucht erstmals in Adriaan van den Spieghels 1627 veröffentlichtem Werk „De humani corporis fabrica libri decem“ auf und ist ein Beispiel dafür, wie sich die Konfrontation mit dem Osmanischen Reich, das für seine hohen Pferdesättel bekannt war, als ‚sprachliches Denkmal‘ auch in der Medizin niedergeschlagen hat.

Anatomische Verortung

Anatomische Verortung

In der Mitte der Sella befindet sich die Fossa hypophysialis (dt. Hypophysengrube) als Vertiefung, in der, bildlich gesprochen, die Hypophyse (dt. Hirnanhangsdrüse) reitet. Von vorne und hinten wird die Sella turcica von bedeutenden Erhebungen begrenzt, wie sie für den Türkensattel charakteristisch sind – vorne vom Tuberculum sellae mit seinen beiden Processus clinoidei anteriores und hinten vom Dorsum sellae mit den Processus clinoidei posteriores.

Triepel und Stieve weisen in ihrem Lexikon der anatomischen Namen unter dem Eintrag „turcicus“ auf die charakteristischen Merkmale des Türkensattels hin:

turcicus türkisch. Neulateinisches Wort. In sella turcica, der Türkensattel, die innere Fläche des Keilbeinkörpers, die mit dem türkischen Sattel mit den bedeutenden Erhebungen am vorderen und hinteren Ende verglichen werden kann. (Triepel 1948: 72)

Die Namensgebung durch Adriaan van den Spieghel

Diese Assoziation führte in der anatomischen Nomenklatur zu einer kulturgeschichtlich bemerkenswerten und ungewöhnlichen Namensgebung, zu der deren Erstbenenner wohl durch die unmittelbaren Ereignisse seiner Lebenszeit inspiriert wurde. Ungewöhnlich ist der Begriff nicht zuletzt deswegen, weil sich assoziative anatomische Namensgebungen meist allgemein bekannterer Formvergleiche bedienen, beispielsweise os lunatum (dt. Mondbein) oder musculus piriformis (dt. birnenförmiger Muskel). Außerdem ist es das einzige Mal, dass der Name eines Volkes Teil eines anatomischen Begriffs ist.

Der Begriff sella turcica geht auf den belgischen Anatomen Adriaan van den Spieghel (1578–1625), auch Spigelius genannt, zurück. Er führte diesen Begriff erstmals in seinem Werk „De humani corporis fabrica libri decem“ an, das zwei Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde.

… ephippio non absimilem, Sella Turcica à forma dicuntur. (Spieghel 1627: Caput X) (dt.: „… einer Pferdesatteldecke nicht unähnlich, auf Grund seiner Form als Türkensattel bezeichnet.“)

Spieghel steht in der großen Tradition der Anatomen der Universität von Padua (Vesalius, Fabricius, Cassirus). Er studierte Medizin, zunächst in Leiden und Löwen, seit 1601 in Padua. Um 1604 promovierte er zum Doktor der Medizin. Nach Aufenthalten in Böhmen und Mähren kehrte er nach Italien zurück, wo er 1616 zum Professor für Anatomie und Chirurgie in Padua ernannt wurde.

Die Rezeption des Begriffs bei Joseph Hyrtl

Die Rezeption des Begriffs bei Joseph Hyrtl

In seiner „Onomatologia Anatomica“ weist der österreichische Anatom Joseph Hyrtl, 1810 in Eisenstadt geboren und 1894 in Perchtoldsdorf bei Wien verstorben, auf Adrian de Spieghel als Namensgeber der sella turcica hin:

Die Sella turcica des Adrianus Spigelius drückt die wahre Gestalt dieser concaven Fläche besser aus, als die Sella equina des Fallopia [Gabriel Fallopius, Anatom, geb. 1523 in Modena, gestorben 1562 in Padua; Anm. der Verfasserin]. […] Die Lehne des Sattels am Keilbein, Dorsum epihippi ist sehr hoch. Nur an den Sätteln der Türken und Beduinen trifft man hohe Lehnen. Sie reichen bis an die Lenden hinauf, und dienen dem Reiter wirklich zum Anlehnen seines Leibes. (Hyrtl 1880: 493f)

Hyrtl bezieht sich hier wie Spigelius auf die Alternativbezeichnung Epihippium, verwirft diesen Begriff aber als ungeeignet:

Die Römer und Griechen hatten keine Sättel. Sie ritten auf Decken, welche über dem Rücken der Pferde befestigt wurden, Epihippia. Es ist deshalb ganz unhaltbar, die obere, sattelförmige gehölte [sic] Fläche des Keilbeinkörpers Epihippium zu nennen. (ebd.: 493)

Auch in seinem Werk „Das Arabische und Hebräische in der Anatomie“ nimmt Hyrtl auf die Sella turcica Bezug und weist neuerlich auf Adriaan van den Spieghel als Urheber des Begriffs sella turcica hin:

Im Spiegel der Anatomie, Augsburg, 1646, wird das Keilbein, durchwegs Sesselbein genannt, nach dem lateinischen sella, welchen Namen Fallopia zuerst dem Keilbeinkörper gab: Os, quod ego, a similitudine, sellam vocare soleo. In dieser Sella sitzt die Glandula pituitaria cerebri (Hypophysis). Da aber Sella nicht blos Sessel, sondern auch Leibstuhl bedeutet, so wurde dieses Wort anstandshalber nur mehr im Sinne des Vegetius, nämlich als Sattel aufgefasst, und sofort das Adjectiv equina von A. Laurentius, bald darauf aber turcica von Adr. Spigelius angehängt. (Hyrtl 1888: 94f; Hervorhebung durch die Verfasserin)

Es scheint unzweifelhaft, dass diese ungewöhnliche Namensgebung dem historischen Kontext dieser Zeit geschuldet ist. „De corporis humani fabrica libri septem” von Andreas Vesalius, an dessen Titel Spigelius mit der Titelwahl seines eigenen Werkes anknüpft, erschien im Jahr 1543 in Basel, zwei Jahre nach der Eroberung von Ofen und Pest. Spigelius’ „De corporis humani fabrica libri decem” erschien 1627, wenige Jahre nach dem polnisch-osmanischen Krieg 1620–1621.

Literatur

Literatur

Hyrtl, Joseph (1880): Onomatologia Anatomica. Geschichte und Kritik der anatomischen Begriffe der Gegenwart. Wien.

Hyrtl, Joseph (1888): Das Arabische und Hebräische in der Anatomie. Wien.

Spieghel, Adriaan van den (1627): De humani corporis fabrica libri decem.

Triepel, Hermann (1948): Die anatomischen Namen. Ihre Ableitung und Aussprache. 24. Auflage sowie 6. ergänzte und erweiterte Auflage der vollkommen neu bearbeiteten und entsprechend den neuen anatomischen Namen ergänzten achtzehnten Auflage. München.

Die Verfasserin möchte Herrn Dr. Thorsten Noack, Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ihren großen Dank für alle wertvollen Hinweise aussprechen.