Linke Wienzeile 172 / Morizgasse 2 , Karte
Text: Marion Gollner
Am Haus Linke Wienzeile 172/ Morizgasse 2 im 6. Wiener Gemeindebezirk befand sich früher eine Türkenkugel, die bei der Errichtung des Wohnhauses an der Fassade angebracht worden war. Doch sowohl das Original als auch eine Nachbildung wurden entwendet. Seit der EURO 2008 befindet sich an der Stelle des einstigen Kriegsrelikts ein Fußball-Modell.
Der Fund der Türkenkugel
Das Wohnhaus in Mariahilf wurde in den Jahren 1968–1969 aus den Mitteln des Bundes-, Wohn- und Siedlungsfonds (BWSF) errichtet. Dabei wurde eine steinerne Kanonenkugel, die auf die Zeit der Zweiten Belagerung Wiens 1683 zurückgegangen sein soll, an der Hausecke Linke Wienzeile/Morizgasse angebracht. Ein Hohlraum in 2,5 Metern Höhe wurde als geeigneter Platz für die Kugel gewählt. Zusätzlich wurden eine Inschrifttafel und ein Relief an der Hausmauer angebracht.
Die Gedenktafel wurde im Jahr 1969 zur Fertigstellung des Gebäudes von der Siedlungsgesellschaft „Heimat Österreich“ gestiftet. Der darauf befindliche Text lautet folgendermaßen:
DIESE HISTORISCHE
TÜRKENKUGEL
WURDE BEI DER
ZWEITEN
TÜRKENBELAGERUNG
WIEN’S
1683
GEGEN DAS AN
DIESER STELLE
BEFINDLICHE HAUS
ABGEFEUERT
Errichtet durch die Heimat Österreich
Siedlungsgesellschaft m.b.H. 1969
Die kirchennahe Gesellschaft „Heimat Österreich“ wurde im Jahr 1951 gegründet und ist noch heute für die Verwaltung des Gebäudes zuständig. Als Gesellschafter werden die Caritasorganisationen von Salzburg, Oberösterreich und Wien, das Bistum St. Pölten und der Raiffeisenverband Salzburg genannt. Ziel der Siedlungsgesellschaft ist es, Immobilien zu errichten und zu betreuen sowie Dienstleistungen im Umfeld des Wohnens zu erbringen. Folgendes Leitbild ist auf der Homepage nachzulesen: „Christliche und soziale Grundwerte bestimmen unser Handeln ebenso wie unser Bemühen, ein berechenbarer und verlässlicher Partner zu sein.“ (Heimat Österreich)
Ob die türkische Kanonenkugel erst im Zuge des Neubaus entdeckt wurde oder schon früher an sichtbarer Stelle platziert war, ist unklar.
Links neben der einstigen Kanonenkugel wurde an der Hauswand Morizgasse ein Relief des österreichischen Bildhauers Lois Lidauer (1908–1975) (bzw. Liedauer bei Csendes 1983:23) angebracht, das einen türkischen Kanonier zeigt. In seiner rechten Hand hält er einen Krummsäbel, in seiner linken trägt er einen Thūgh mit Halbmond. Die Kanone ist so positioniert, dass ihr Lauf in Richtung der steinernen Kugel zeigte.
Die Türkenkugel wird gleich zweimal gestohlen
Die Türkenkugel wird gleich zweimal gestohlen
Die Original-Kanonenkugel, die im Jahr 1969 bei der Errichtung des Gebäudes angebracht wurde, blieb nicht lange an ihrem Platz. Wie ein Bewohner des Hauses erzählt, wurde diese in den 1980/90er-Jahren gestohlen. Daraufhin wurde das Original durch eine Replik ersetzt, die jedoch ebenfalls entwendet wurde. Wann dies genau passiert ist, konnte nicht mehr eindeutig rekonstruiert werden. Laut Angaben der Hausverwaltung soll sich der Vorfall im Jahr 2000/2001 ereignet haben.
Wie Korrespondenzen mit dem Wiener Arsenal belegen, gab es auch nach dem zweiten Diebstahl Bestrebungen, eine neue Kugel zu installieren. Da man jedoch fürchtete, die Kanonenkugel könnte erneut gestohlen werden, wurde die Idee schließlich fallen gelassen. Zudem sei die Kanonenkugel aufgrund ihres „anklagenden Charakters“ heute vielleicht nicht mehr zeitgemäß, so die Hausverwaltung. So kam es, dass die Stelle mehrere Jahre hindurch leer blieb.
Von der Türkenkugel zum Fußball
Von der Türkenkugel zum Fußball
Heute befindet sich an der Stelle des einstigen Kriegsrelikts ein Fußball. Zu verdanken ist diese ironische Umdeutung einer öffentlichen Intervention von Michael Gartner und Christine Schmid. Die Idee, die leerstehende Nische mit einem Fußball zu füllen, entstand erstmals im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Frei nach dem Motto „Lieber gute Spiele als schlechte Kriege“ gestaltete der Regisseur und Kameramann gemeinsam mit der Künstlerin ein Fußball-Modell, das an der Ecke Linke Wienzeile/Morizgasse gut sichtbar platziert wurde. Doch auch dieser Ball wurde bereits nach wenigen Monaten zerstört.
Als die Fußball-Europameisterschaft zwei Jahre später schließlich in Österreich ausgetragen wurde, nahmen die beiden einen zweiten Anlauf und fertigten einen neuen Fußball aus einer Styroporkugel an, die mit Maschendraht umwickelt, vergipst und schließlich bemalt und glasiert wurde. Als Modell diente der offizielle EM-Fußball. Für AutofahrerInnen und PassantInnen gut sichtbar, befindet sich der Ball noch heute an dieser Stelle.
Türkenkugel-Garage
Türkenkugel-Garage
An der Rückseite des Gebäudes (Mollardgasse 79) befindet sich eine Tiefgarage, die – in Bezugnahme auf den Fund der Türkenkugel – den Namen „Türkenkugel-Garage“ trägt (s. Karte).
Literatur
Literatur
Böhm, Jasmine (2001): „Türken-Images“ im öffentlichen Raum. Eine ethnologische Spurensuche in Wien. Diplomarbeit der Universität Wien.
Csendes, Peter (1983): Erinnerungen an Wiens Türkenjahre. Wien/München.
Heimat Österreich: Unser Leitbild.
Tomenendal, Kerstin (2000): Das türkische Gesicht Wiens. Auf den Spuren der Türken in Wien. Wien/Köln/Weimar.