„Politische Religion“ und „unsichtbare Autoritäten“ – die Historikerin Lucie Varga

1934 berichtet der französische Historiker Lucien Febvre seinem Kollegen Marc Bloch, dass er zur Forcierung seiner Forschungen eine „Trainerin“ angestellt habe. Rasch wird „Madame Varga“ zu einer engen Mitarbeiterin und Vertrauten, die regelmäßig in der von Febvre und Bloch herausgegebenen Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale publiziert, bis die Zusammenarbeit 1937 ein abruptes Ende findet. Nach ihrem frühen Tod 1941 gerät sie in Vergessenheit, bevor sie in den 1990er-Jahren durch die Forschungen Peter Schöttlers wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wird.

Lucie Varga, die am 21. Juni 1904 als Rosa Stern in Baden bei Wien geboren wurde, stammte aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Ihre Eltern Gyula Stern (1862–1944) und Malvine, geb. Tafler (1874–1944), trennten sich noch vor ihrer Geburt. Rosa wuchs gemeinsam mit zwei älteren Geschwistern bei der Mutter auf. Noch während ihrer Schulzeit an der Privatschule von Eugenie Schwarzwald nahm sie den Namen „Lucie“ an. Nach der Matura 1923 vergingen drei Jahre, bevor sie an der Universität Wien mittlere und neuere Geschichte sowie Kunstgeschichte inskribierte. In ihrem anlässlich der Zulassung zu den Rigorosen abgegebenen Lebenslauf erklärte sie die zeitliche Lücke mit gesundheitlichen Gründen: Lucie litt seit ihrer Schulzeit an Diabetes, einer damals noch kaum behandelbaren Krankheit. Einen weiteren Grund für die Verzögerung nannte sie dagegen nicht: 1924 hatte sie den Internisten Josef Varga (1892–1944) geheiratet, 1925 kam ihre Tochter Berta zur Welt.

Studium und Scheidung

Während ihres Studiums belegte Varga Lehrveranstaltungen bei Alfons Dopsch, Hans Hirsch, Oswald Redlich und Erna Patzelt sowie philosophische und psychologische Vorlesungen bei Moritz Schlick und Karl Bühler. Ihre von Dopsch betreute Dissertation „Eine Untersuchung über die Entstehung des Schlagworts vom ,finsteren Mittelalterʻ“ wurde in der Publikationsreihe des Seminars für Wirtschafts- und Sozialgeschichte veröffentlicht.

Im Jahr ihrer Promotion 1931 trat Lucie Varga aus der israelitischen Kultusgemeinde aus. Nach ihrer Scheidung von Josef Varga 1932 übersiedelte sie mit ihrer Tochter nach Wien, wo sie bei ihrer Mutter lebte. Bis 1933 hielt Lucie Varga mehrere Vorträge an der Wiener Urania zur mittelalterlichen Geschichte und einen Kurs über „Europäische Kulturgeschichte“.

Übersiedlung nach Paris

In Wien lernte sie ihren zweiten Ehemann, den marxistischen Historiker und Philosophen Franz Borkenau-Pollak (1900–1957), kennen. Dieser führte sie in linkssozialistische Intellektuellenkreise ein, in denen die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich diskutiert wurden. Angesichts der sich zuspitzenden Lage fassten die beiden den Entschluss zur Emigration nach Frankreich. Bei Lucie spielten zusätzlich wissenschaftliche Gründe eine Rolle, da sie im Rahmen ihrer Dissertation auf die südfranzösischen Katharer als vielversprechendes Forschungsthema gestoßen war. Um den Jahreswechsel 1933/34 übersiedelte das Paar nach Paris, nachdem es im Dezember 1933 geheiratet hatte.

Während Lucie Varga in Paris rasch Fuß fassen konnte, gelang es Borkenau nicht, in Frankreich eine Anstellung zu erhalten, weshalb er verschiedene Angebote in London, Panama und Spanien annahm. Aufgrund der ständigen Trennung kam es zur Entfremdung zwischen den Ehepartnern, die Ehe wurde vermutlich 1936 geschieden.

Arbeit für Lucien Febvre und die Annales

Vargas Aufgaben als „Trainerin“ umfassten typische Assistententätigkeiten wie die Erstellung von Quellen- und Literaturexzerpten oder von Indices. Schon bald schrieb sie unter Anleitung Febvres eigene Rezensionen und avancierte zur Beraterin und Vermittlerin für deutsche Belange. Dank wiederholter Reisen nach Deutschland und Österreich, die sie trotz der damit verbundenen persönlichen Gefahren (als Jüdin und Ehefrau eines ehemaligen Kommunisten) unternahm, versorgte sie ihren Chef mit Informationen und stellte Kontakte zu deutschen Kollegen her. Während im Bereich der Mediävistik ein klassisches Schülerin-Lehrer-Verhältnis gegeben war, agierten Varga und Febvre bei tagesaktuellen Fragen als gleichberechtigte Diskussionspartner. Dies wird vor allem in der sogenannten „Deutschland-Nummer“ der Annales ersichtlich, die Rezensionen mit deutlicher Kritik an der nationalsozialistischen Wissenschaftsauffassung sowie drei größere Beiträge enthält. Eröffnet wird das Heft mit Vargas Aufsatz über die Entstehung des Nationalsozialismus. „La genèse du national-socialisme. Notes d’analyse sociale“ ist ein frühes Beispiel für eine mentalitätsgeschichtliche Interpretation der Bewegung und wirkt trotz einiger Schwächen immer noch erstaunlich modern.

Bei Erscheinen der „Deutschland-Nummer“ im November 1937 war Lucie Varga allerdings nicht mehr für Lucien Febvre tätig. Aus der beruflichen Zusammenarbeit war eine Liebesbeziehung geworden. Eine Scheidung war für Febvre aus beruflichen und sozialen Gründen undenkbar, weshalb er sich auf Druck seiner Frau Suzanne von seiner Assistentin trennte.

Letzte Jahre

Nach der Trennung von Febvre musste sich Varga beruflich und sozial neu orientieren. Zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts – nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich konnte sie nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Mutter zählen – arbeitete sie zunächst als Vertreterin für Küchengeräte, nach Aussage ihrer Tochter „ohne allzuviel Talent“, sowie in einer Fabrik. Zur Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft ging sie um 1937/38 eine Scheinehe mit Robert Morin ein. 1939 wurde sie Mitarbeiterin der Presseagentur „Agence Havas“. Nach der Eroberung Paris’ durch die Deutschen und der Auflösung der Agentur kamen Lucie und Berta Varga in der Nähe von Toulouse unter, wo Lucie Sprachunterricht gab und als Landarbeiterin tätig war. Die kriegsbedingte Stresssituation und Mangelernährung sowie die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Insulin führten zur Verschlimmerung ihrer Krankheit. Als sie ins diabetische Koma fiel, wurde sie nach Fehldiagnose des hinzugezogenen Arztes (er vermutete eine illegale Abtreibung) zu spät nach Toulouse in ein Krankenhaus gebracht, wo sie am 26. April 1941 starb.

Religions- und mentalitätsgeschichtliche Studien zu Katharern und Nationalsozialisten

Wegen ihres frühen Todes hinterließ Lucie Varga ein relativ schmales Œuvre. Thematisch befasste sie sich mit mittelalterlicher (Religions-)Geschichte sowie mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen, bei deren Untersuchung sie – ganz im Sinne der Annales-Schule – Methoden anderer Disziplinen wie der Ethnologie verwendete. So nutzte sie Ferienaufenthalte zur Feldforschung für zwei Aufsätze über den sozialen und mentalen Wandel im Montafon sowie über den Hexenglauben in Südtirol, wobei sie sich der Methodik des Sozialanthropologen Bronisław Malinowski bediente. Sämtliche Arbeiten befassen sich mit Aspekten von Religiosität wie Bekehrung, Rechtgläubigkeit und Häresie, speziell in Krisen- und Umbruchszeiten. In diesem Sinn definiert Varga den Nationalsozialismus als „politische Religion“ und den Erstkontakt sowie die Aufnahme in die Partei als Damaskuserlebnisse. Zur Beschreibung dieser Phänomene verwendet sie neben dem von der Annales-Schule geprägten Begriff „Mentalität“ weitere Umschreibungen wie die von ihr eingeführte Formulierung der „unsichtbaren Autoritäten“: Diese bestimmen jenseits von Leidenschaften und Vernunft das menschliche Verhalten und stehen in Wechselwirkung mit „sichtbaren Autoritäten“ wie familiären, kirchlichen oder staatlichen Obrigkeiten.

Stilistisch zeichnen sich ihre Arbeiten durch Verwendung von Fragesätzen zur Skizzierung der Problemstellung oder der direkten Anrede und Einbeziehung des Publikums aus; der Stilmix aus wissenschaftlicher Darstellung, Reportage und Essay ergibt – wie Lucien Febvre in seinem Nachruf schrieb – Aufsätze, „die der Form nach so frisch und dem Inhalt nach so solide, lebendig und geistvoll“ sind. Während ihre Thesen zu den Katharern mittlerweile überholt sind, haben ihre Analysen zum religiösen Gehalt von Nationalsozialismus und Faschismus nach wie vor Gültigkeit.


Literatur: NDB; L. V., Zeitenwende, ed. P. Schöttler, 1991 (mit Bild und Werkverzeichnis); P. Schöttler, in: WerkstattGeschichte 7, 1994, S. 63ff.; P. Schöttler, in: Der Nationalsozialismus als politische Religion, ed. M. Ley – J. H. Schoeps, 1997, S. 186ff.; P. Schöttler, in: Wissenschafterinnen in und aus Österreich, ed. B. Keintzel – I. Korotin, 2002 (mit Bild); H. Loewy, in: „Hast Du meine Alpen gesehen?“ Eine jüdische Beziehungsgeschichte, ed. ders. – G. Milchram, Wien – Hohenems 2009, S. 218ff. (Kat., mit Bild); I. Runggaldier Moroder, in: Quart-Heft für Kultur Tirol 19/12; Th. Dostal, in: Die österreichische Volkshochschule 68, Nr. 262, 2017, S. 33ff.; A.-K. Kunde – J. Richter, in: Österreichische Historiker 3, 2019, S. 405ff.; UA Wien.

(Ulrike Denk)

Für die kostenlose Überlassung von Bildmaterial danken wir Hon.-Prof. Dr. Peter Schöttler, dem Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek sowie dem Archiv der Universität Wien.