Das bewegte Leben des Erik Weltsch: Ein Rückblick anlässlich seines 20. Todestages

Als der gebürtige Wiener wenige Monate vor seinem 90. Geburtstag am Jüdischen Friedhof in Hohenems begraben wurde, wandte er sich in einer selbstverfassten Grabrede noch ein letztes Mal an die versammelte Trauergemeinde. Es sei üblich, dass sich derjenige, der weggeht, von den Zurückbleibenden verabschiede, und nicht umkehrt, stellte er zu Beginn seines Textes fest.

Erik Emil Weltsch wurde am 28. Februar 1914 als zweiter Sohn von Melanie und Hugo Richard Weltsch geboren. Seine Eltern stammten beide ursprünglich aus Prag und gehörten dem liberal-jüdischen Bürgertum Wiens an. Weltsch wuchs im nach den Plänen von Otto Thienemann und Otto Wagner erbauten Grabenhof auf und besuchte in der Zwischenkriegszeit das Akademische Gymnasium. Seine Ausbildung setzte er nach der 1932 abgelegten Matura einerseits mit dem Abiturientenkurs der Handelsakademie und andererseits im Rahmen eines Jusstudiums fort, welches er Anfang 1934 aber berufsbedingt vorzeitig beendete. Nachdem er zuvor als Reporter für die Wochenzeitschrift „The Vienna-Herald and Austrian Advertiser“ gearbeitet hatte, erhielt er im Frühjahr 1934 die Möglichkeit, als Volontär bei einer metallurgischen Fabrik in Olmütz das in der Handelsakademie erworbene Wissen einzusetzen. Ein Jahr darauf wechselte er den Kontinent, blieb aber mit der Anstellung bei einer aufstrebenden Baumwollexportfirma in Alexandria dieser Berufssparte treu. Zu diesem Zeitpunkt konnte Weltsch noch nicht erahnen, dass er schließlich 23 Jahre in Ägypten verbringen würde.

„… nur was man kann, zählt“

In seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen legte Erik Weltsch neben dem schulisch-beruflichen Rückblick besonderes Augenmerk auf seine sportliche Vergangenheit, die vom Schwimmen und Wasserball über Tennis bis zum Skifahren, Klettern und Bergsteigen reichte. All das wurde ihm gemäß dem Motto seiner Mutter, „was man hat, ist nichts, nur was man kann, zählt“, ermöglicht und ließ sich aufgrund einer entsprechenden Erbschaft aus ihrer ersten Ehe sowie dem wahrscheinlich ebenfalls ausreichenden Einkommen seines Vaters, der als Prokurist bei einer Wiener Privatbank beschäftigt war, finanzieren. Darüber geben auch einige Fotoalben aus den 1920er- und 1930er-Jahren Auskunft, die sich, wie die Lebenserinnerungen, heute in der Sammlung des Jüdischen Museums Hohenems befinden. Für den geliebten Wintersport durchquerte er auch schon einmal mit dem Nachtzug das ganze Land, um nach Vorarlberg und Tirol zu gelangen, worüber beide Quellen eindrücklich Aufschluss geben. Daraus lassen sich teils abenteuerliche Skitouren in Lech, Kitzbühel oder am Gerlospass nachvollziehen. Am letztgenannten Grenzpass zwischen Tirol und Salzburg sollte ihn zu Weihnachten 1934 die Einladung nach Ägypten erreichen.

Von Wien nach Alexandria

Kurz nach seinem 21. Geburtstag vergrößerte Erik Weltsch mit dem Umzug nach Alexandria die Distanz zu den verschneiten Bergen drastisch und arbeitete dort nach eigenen Schilderungen bald bis zu 13 Stunden täglich. Sein Einsatz sollte sich bezahlt machen, denn ein Jahr darauf vertrat er die auf Baumwollexport spezialisierte Firma bereits als Prokurist und nahm im Frühjahr 1938 in dieser Funktion auch an einem Baumwollkongress teil. Danach schloss er einen Europa-Urlaub an, bei dem er im schweizerischen Arosa mit Freunden, die ihm seine Skier aus Wien mitgebracht hatten, zusammentraf. Zu dieser Zeit ereigneten sich nur rund 30 Kilometer Luftlinie entfernt schon dramatische Fluchtschicksale, wie etwa jene von Jura Soyfer und Hugo Ebner, die am 13. März beim Versuch, auf Skiern über die Grenze in die Schweiz zu gelangen, scheiterten.

Für Erik Weltsch markierte der Tag des „Anschlusses“ Österreichs an Nazideutschland vorerst „nur“ das vorzeitige Ende seines Europa-Aufenthalts, denn mit seinen Papieren war es ihm noch einigermaßen problemlos möglich, ab dem 19. März über Frankreich und die Niederlande nach Ägypten zurückzureisen, wo er vier Tage später eintraf. Dabei bestieg er auch erstmals ein Flugzeug, welches ihn von Amsterdam mit Zwischenstopps in Marseille, Neapel, Piräus und Rhodos schließlich nach Alexandria brachte. Am 23. März fand somit letztmals ein ägyptischer Einreisestempel Eingang in seinen österreichischen Pass. Als ihm ein knappes Jahr darauf vom deutschen Konsulat in Alexandria ein Reisepass mit „Judenstempel“ ausgestellt wurde, wusste er seine Eltern und seinen Bruder, die noch über gültige Touristenvisa verfügten, bereits in Ägypten und damit seine engste Familie in Sicherheit.

Zwei Hochzeiten

Erik Weltsch, der zwei Mal verheiratet war, ehelichte im Juni 1940 die ebenfalls aus Wien stammende Pianistin und Cellistin Lilly Barber, die bereits einige Jahre zuvor nach Alexandria gezogen war. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie für das Rote Kreuz in einem britischen Marine-Spital und versorgte Kriegsversehrte. Das Paar trennte sich jedoch nach neun Jahren einvernehmlich. Die Scheidung wurde, nach einer in den Lebenserinnerungen ausführlich beschriebenen Prozedur verschiedener Behördengänge, im Dezember 1949 vom österreichischen Justizministerium bestätigt, eine Voraussetzung, um einige Jahre später erneut zu heiraten.

Beruflich wechselte Erik Weltsch in den 1940er-Jahren zwischen einigen Firmen, blieb aber – abgesehen von Geschäftsreisen wie etwa nach Indien – weiterhin in Alexandria, wo er seine zweite Ehefrau Katrin (Cathérine) Papadopoulo kennenlernte, die er 1953 heiratete. Die Tochter griechischer Eltern orthodoxen Glaubens war in der ägyptischen Stadt Al-Mansura zur Welt gekommen, konvertierte zunächst für die Eheschließung zum Judentum, trat aber im Juli 1960 wieder aus der Religionsgemeinschaft ihres Mannes aus. Zu diesem Zeitpunkt lebte das kinderlose Ehepaar bereits seit zwei Jahren in Bregenz. Die Wahl des neuen Wohnorts erfolgte dabei nicht zufällig, sondern hatte einerseits mit den vorhandenen Baumwollspinnereien in Vorarlberg und andererseits mit dem Bodensee zu tun, als Ersatz für das von Katrin Weltsch geliebte Meer. Erik Weltsch gründete aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen eine Handelsagentur für Baumwolle, später auch Chemiefasern und Textilmaschinen.

„Viertes Drittel“

Mit seinem 70. Geburtstag begann für Weltsch, wie er in den letzten Zeilen seiner Grabrede betonte, das „vierte Drittel“ seines Lebens, denn was in den knapp 20 Jahren nach dem Ende seiner beruflichen Laufbahn folgen sollte, empfand er als „geschenkte Draufgabe“. Als ehrenamtlicher Hilfsbibliothekar engagierte er sich etwa in der Vorarlberger Landesbibliothek, die zu jener Zeit aus Platzmangel im Begriff war, vom bisher gemeinsam mit dem Landesarchiv genutzten Standort in das ehemalige St. Gallusstift am Bregenzer Gebhardsberg zu übersiedeln. In dieser neuen Funktion systematisierte er beispielsweise die Juridica oder beschäftigte sich mit der Aufnahme älterer Vorarlberger Drucke. Dabei hatten es ihm insbesondere die Inkunabeln angetan, deren Bestände er sowohl in der Landesbibliothek als auch in der Bibliothek des Zisterzienserklosters Mehrerau bibliographierte. Für sein Engagement wurde er bereits 1987 mit dem Vorarlberger Landesverdienstzeichen geehrt. Die Ergebnisse seiner Studien zur Landeskunde, zur Buchdruckerei- sowie zur jüdischen Geschichte publizierte er außerdem fortlaufend.

Es verwundert daher nicht, dass Erik Weltsch – der nach eigenen Angaben über lange Zeit als einziger Vorarlberger dem Rechtsnachfolger der 1940 zwangsaufgelösten Jüdischen Gemeinde Hohenems, der in Innsbruck neu gegründeten Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, angehörte – sich auch als Gründungsmitglied im Vorstand des Vereins zur Förderung des Jüdischen Museums Hohenems beteiligte. Der 1986 gegründete Verein, dessen Ziele mit der Eröffnung des Museums 1991 in die Tat umgesetzt werden konnten, verlieh Weltsch später die Ehrenmitgliedschaft. In weiterer Folge sollte seine Forschungsarbeit sowohl den Sammlungsbestand als auch die Ausstellungstätigkeit des Jüdischen Museums maßgeblich beeinflussen. So traf er sich beispielsweise in Antwerpen mit „Displaced Persons“, die den Nazi-Terror überlebt und nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für einige Jahre in Hohenems gelebt hatten, oder durchforstete die Grundbücher und ergründete dabei die teils komplizierte Besitzgeschichte der Häuser im ehemaligen jüdischen Viertel. Für seinen fortwährenden Einsatz wurde Weltsch im Jahr 2001 mit dem Professorentitel geehrt.

Noch bevor Erik Weltsch am 7. September 2003 in Bregenz verstarb, hatte er sich neben der selbst verfassten Grabrede auch schon um den eigenen Grabplatz gekümmert. Seine diesbezügliche Korrespondenz mit dem langjährigen Präsidenten des Vereins zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs in Hohenems Kurt Bollag, der ihm nur einige Wochen vorangegangen war, reicht bis 1999 zurück. Am 11. September fand das Begräbnis auf dem Jüdischen Friedhof in Hohenems statt. Ein Jahr darauf wurde von Rabbiner Hermann Schmelzer anlässlich der Steinsetzung eine Gedenkfeier abgehalten. Diese erlebte Erik Weltschs Ehefrau Katrin nicht mehr, sie war ihrem Mann bereits am 23. November 2003 gefolgt.


Werke (Auswahl): Der jüdische Friedhof in Hohenems, in: Die Gemeinde. Offizielles Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 1984, Nr. 322/333, S. 34; Das Chronogramm und sein Einsatz in Vorarlberg, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 40, 1988, H. 1, S. 46–60; Die Buchdrucker Vorarlbergs bis 1835. Eine Bibliographie, in: Biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift 39, 1990, H. 3, S. 174–191; Wer waren die jüdischen Displaced Persons (DPs) in Vorarlberg in den Jahren 1945 bis 1952?, in: Jüdisches Museum Hohenems. Jahrbuch 1992, 1993, S. 5–26; Auf der Suche nach den DPs, in: Displaced Persons. Jüdische Flüchtlinge nach 1945 in Hohenems und Bregenz, ed. Esther Haber, 1998, S. 57–61; Unveröffentlichte Autobiographie im Bestand des Jüdischen Museums Hohenems, um 2002 (JMH A 1545); Selbstverfasste Grabrede im Bestand des Jüdischen Museums Hohenems, um 2003 (JMH A 1561).


Literatur: Johannes Inama – Norbert Schnetzer, In memoriam Prof. Erik Weltsch, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 55, 2003, H. 4, S. 279–286; Matriken, Uniarchiv Wien; Hohenems Genealogie, Jüdische Familiengeschichte in Vorarlberg und Tirol, Erik Emil Weltsch (Zugriff: 28. 8. 2023).

(Raphael Einetter)