Hans Leifhelm, ein europäischer Dichter und Übersetzer

Verbunden mit der österreichischen, deutschen und italienischen Literatur, führte ihn sein Weg von Mönchengladbach nach Graz und letztlich als Emigrant nach Riva del Garda.

Dächte man in den Wissenschaftskategorien des 19. Jahrhunderts, so ließe sich Johannes Heinrich Leifhelm, der am 2. Februar 1891 als letztes von insgesamt sechs Kindern des Fassbinders Franz Leifhelm und seiner Frau Anna Clara, geb. Krahe, in Mönchengladbach geboren wurde, drei nationalen Literaturgeschichten zuordnen: der deutschen, weil er als Jugendlicher am Linken Niederrhein zu schreiben begann, der österreichischen, weil er sich in Graz als Dichter der steirischen Landschaft und ihrer Menschen profilierte und ein Netzwerk vornehmlich österreichischer Autorinnen und Autoren knüpfte, und nicht zuletzt der italienischen, da ihn Übertragungen moderner italienischer Dichtung (u. a. Giovanni Papini, Bonaventura Tecchi, Eugenio Montale, Giuseppe Ungaretti) zu einem wichtigen Vermittler der Literatur jenes Landes machten, dem schon in Kindertagen seine Tagträume gegolten hatten, bevor er dort für einige Zeit als Universitätslektor arbeitete und schließlich als Emigrant sein Leben beschloss.

Hans Leifhelm, der Flüchtende

Die Flucht ließ Hans Leifhelm zu einem europäischen Schriftsteller werden, eine Flucht allerdings, die weniger politisch motiviert war, als einem inneren Antrieb folgte, und die einer niemals enden wollenden, fast schon verzweifelten Suche nach jener Harmonie von Mensch und Natur glich, welche die Industrialisierung im Rheinland ihm schon früh genommen hatte.

Viermal sei er, so schreibt Leifhelm am 23. Dezember 1933 dem Naumburger Studienrat Martin Sturm, aus Deutschland ins Alpenland geflohen: 1912, 1923, 1929 und schließlich 1933. 1912, zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, die in der Familie stets für Ausgleich gesorgt hatte, entzog er sich dem Zugriff des dominanten Vaters, in dessen mächtiger Gestalt sich für den schmächtigen Sohn das Erbe der westfälischen Vorfahren vergegenwärtigte, die über viele Generationen von der Feldwirtschaft lebten. Hatte Franz Leifhelm sich nur schwerlich damit abfinden können, dass seinem Sohn 1905 mit Hilfe des Jugendkaplans Rudolf Wahlen der Sprung von der kleinen Volksschule des Arbeiterviertels Hermges auf das renommierte Stiftische Humanistische Gymnasium am Abteiberg gelungen und dieser dort 1911 zum jahrgangsbesten Abiturienten avanciert war, so führte Hans Leifhelms Entscheidung für ein akademisches Studium, mit dem er zugleich einem Leben als Handwerker entsagte, zum endgültigen Bruch zwischen den beiden.

Da sich das Medizinstudium, das Hans Leifhelm in Straßburg begonnen hatte, finanziell nicht stemmen ließ, tauschte er es 1912 gegen ein Studium der Nationalökonomie, das er nach Zwischenstationen in Innsbruck, Wien, Berlin und Bonn 1918 bei Eberhard Gothein in Heidelberg mit der Promotion abschloss. Gefördert wurde er in dieser Zeit von Carl Sonnenschein, einem sozial engagierten Priester, den er 1908 beim Volksverein für das katholische Deutschland kennen gelernt hatte. Fronteinsätze blieben Leifhelm während des Ersten Weltkriegs aufgrund seiner schwachen Konstitution erspart. Anders als sein Freund Heinrich Lersch, mit dem er 1913 von Wien über den Apennin bis nach Rom gewandert war, widmete er dem Soldatenleben nur wenige, dazu noch distanzierte Gedichte. Den kurzen Aufenthalt in Assisi nutzte Leifhelm zur geistigen Begegnung mit dem Hl. Franziskus, der ihm zur Muster- und Leitfigur seines Naturverständnisses wurde, das er in seiner Lyrik ein ums andere Mal poetisch entfaltete. Die Überzeugung, dass der Mensch nicht die Krone, sondern nur ein Glied der Schöpfung sei, war ihm bereits durch seinen Volksschullehrer Franz Wamich vermittelt worden sowie durch die Brüder des Franziskanerordens, die seit 1889 in Mönchengladbach eine Niederlassung besaßen, die 1902 zum Konvent erhoben wurde.

Hans Leifhelm als Schriftleiter des „Wieland“

Dem Studium folgten erste Berufserfahrungen. Seine Beschäftigung als Redakteur beim Reichskartell der Christlichen Gewerkschaft Deutscher Eisenbahner und Staatsdiener in Berlin (ab 1918), für die seine Dissertation über die preußisch-hessischen Eisenbahner ihn vorzüglich qualifizierte, sowie als Schriftleiter der Kunstzeitschrift „Wieland“ in München (ab 1919) sicherten ihm und seiner Familie, zu der ab 1917 neben seiner Grazer Ehefrau Sophie, geb. Hennicke, und der gemeinsamen Tochter Elfriede auch seine Schwiegereltern gehörten – sein Schwiegervater Adalbert Hennicke arbeitete als Histologe an der Universität Graz – ein bescheidenes Auskommen. Den „Wieland“, dessen Autorentableau sich wie ein Who-is-Who der damaligen Literatur- und Kunstszene liest, nutzte Leifhelm sowohl für eigene Veröffentlichungen als auch als Forum des Gedächtnisses für im Krieg gefallene Dichter wie Gustav Sack, dessen Witwe Paula er freundschaftlich verbunden war.

Für seine wirtschaftshistorischen Monographien über die Industriellen Hugo Stinnes (1921) und Walther Rathenau („Die Rathenaus“, 1922), die unter dem Pseudonym Hermann Brinckmeyer im Münchner Wieland-Verlag erschienen, erhielt er in Fachkreisen breite Anerkennung, mochte man sie gelegentlich auch als zu unkritisch empfinden. Gedichte hatte er bereits seit 1915 in Zeitschriften vorwiegend gewerkschaftlicher Provenienz veröffentlicht, zumeist unter dem Namen Konrad Overstolz, zu dem ihn eine Zigarettenmarke inspiriert hatte.

Die Grazer Zeit als Arbeitsvermittler

1923 – der „Wieland“ war inzwischen eingestellt worden – übersiedelte Hans Leifhelm mit seiner Familie nach Graz und bezog dort eine Wohnung im Rosenhof. Eine Stelle als Berufsberater und Arbeitsvermittler beim Steirischen Arbeitsnachweis gab finanzielle Sicherheit für die kulturellen Aktivitäten, die er nun verstärkt unternahm. Zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Gelehrte fanden im Laufe der Jahre den Weg zum Rosenhof, um dort im Kreis Gleichgesinnter zu diskutieren, oder tauschten sich brieflich mit Leifhelm aus, darunter Felix Braun, den Leifhelm bereits 1913 während seines Studiums in Wien kennen gelernt hatte, Theodor Kramer, Max Mell, Erika Mitterer, Ernst Molden und seine Frau Paula von Preradović, Albrecht Schaeffer, Franz Silberbauer, Josef Weinheber, Guido Zernatto und nicht zuletzt Franz Taucher, den Leifhelm als Arbeitsvermittler betreut hatte. „Hahnenschrei“, Leifhelms 1925 mit dem Impressum des Folgejahres erschienener Erstling, wurde von der Literaturkritik anerkennend aufgenommen. Seitdem erschienen seine Gedichte in zahlreichen namhaften Anthologien.
Sein Ansehen als Berufsberater, aber auch sein Heimweh nach der norddeutschen Tiefebene führten Leifhelm im Dezember 1929 auf eine Stelle als Referent für Berufsberatung an das Landesarbeitsamt Westfalen in Dortmund. Mit seiner Kollegin Nanni Homann und deren Schwester Sophie, einer Gewerbeschullehrerin, die bis zu Leifhelms Tod für ihn eine Art Lebensmensch blieb, wanderte er durch das Heide- und Münsterland. Bei gemeinsamen Abenden im Haus der Schwestern entstanden erste Gedichte des Bandes „Gesänge von der Erde“ (1933). Ende September 1930 kündigte er seinen Arbeitsvertrag, nachdem das bürokratische Einerlei der Behörde für ihn zur Belastung geworden war, und kehrte nach Graz zurück, wo er mangels Alternativen wieder in die Dienste des Arbeitsnachweises trat.

Von Düsseldorf zurück nach Graz

1932 unternahm Hans Leifhelm einen letzten Versuch, noch einmal in Deutschland Fuß zu fassen. Dank der Vermittlung von Verwandten der Homann-Schwestern war ihm die Leitung der gewerkschaftsnahen Staatlichen Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Düsseldorf übertragen worden. Dazu unterrichtete er Volkswirtschaft und Wirtschaftstheorie. Seine sozialdemokratische Orientierung, aber auch die Tatsache, dass er bei einem Juden zur Untermiete wohnte, machten ihn den neuen Machthabern verdächtig, sodass er im Juni 1933 entlassen wurde und ohne Pensionsansprüche – die Kündigung erfolgte noch in der Probezeit – zu Frau und Kind nach Graz zurückkehrte. Ein Stoßtrupp der SA hatte ihn verprügelt und die Bibliothek seiner Schule in Brand gesteckt.

Vorträge über Literatur und Volkswirtschaft, Lesungen im Rundfunk, Rezensionen und Übersetzungsarbeiten deckten den finanziellen Bedarf für den Lebensunterhalt nur notdürftig, sodass der Dortmunder Unternehmer Fritz Busche ihm helfend zur Seite trat. Nicht nur die räumliche Distanz hatte Leifhelm inzwischen seiner Frau entfremdet, sondern auch deren Hinwendung von der Sozialdemokratie zu kommunistischen Auffassungen. 1934 wurde die Ehe der beiden geschieden. Im Dezember 1943 wurde Sophie Hennicke von der Gestapo verhaftet und im März 1945 im KZ Ravensbrück ermordet.

1936 heiratete Leifhelm – inzwischen arbeitete er als freier Mitarbeiter des Styria Verlags und gab seit 1935 die „Deutsche Bergbücherei“ heraus – mit Fernande Prissé eine Frau, die – anders als ihre Vorgängerin – für einen mondänen und libertinären Lebensstil empfänglich war. Die Wiederheirat mit einer Protestantin brachte ihn in Gegensatz zur katholischen Kirche.

Letzte Lebensjahre in Italien

Immer häufiger auftretende Migräneschübe, Sehstörungen und Gehbehinderungen, die mitunter zu starken Beeinträchtigungen führten, gaben sich als Symptome einer vermutlich durch die Spanische Grippe hervorgerufenen Encephalitis lethargica („Schlafkrankheit“) zu erkennen. Vergeblich suchte Leifhelm von April bis Juni 1938 Linderung in einer Fachklinik in Rom sowie in ambulanten Therapien in Laziale in den Albaner Bergen. Immer wieder musste er seine durch Felix Braun vermittelten Lehrtätigkeiten, die ihn 1935 an die Universität Palermo und 1939 an die Universität Padua geführt hatten, unterbrechen, ehe er sie 1942 völlig einstellte. Allein reiste er an den Gardasee, wo er zunächst in der Villa Riposo von Karin und Ingrid Hellström in Malcesine unterkam, in der auch Paula Sack lebte, bis das Fortschreiten seiner Erkrankung eine Einweisung ins Ospedale Civile in Riva notwendig machte. Dort nahm sich die Lehrerin Giuseppina Mazzi des inzwischen fast gelähmten und oft depressiven Dichters an und erledigte für ihn die Korrespondenz.

Am 1. März 1947 starb Hans Leifhelm in Riva nach einer Zahnoperation an einer Sepsis. Sein Band „Lob der Vergänglichkeit“, an dem er bis zuletzt gearbeitet hatte und der einige Jugendgedichte enthält, erschien 1949 postum. Leifhelm wurde im Grab der Familie Mazzi beigesetzt, das die Stadt Mönchengladbach 1963 als Ehrengrab übernahm, ehe es 2009 im Zuge der Umgestaltung des Friedhofs zum Parco della Libertà eingeebnet wurde. Das Gedächtnis des Dichters zu bewahren, haben sich Österreich und Deutschland zur gemeinsamen Aufgabe gemacht. So erinnern in Mönchengladbach eine Straße und ein Denkmal an ihn, während in Wien-Hütteldorf und in Graz Gassen seinen Namen tragen.


Weitere Werke: Steirische Bauern. Erzählungen und Schilderungen, 1935; Menschen der Berge, 1936; Die grüne Steiermark, 1938; Sämtliche Gedichte, ed. N. Langer, 1955; Gesammelte Prosa, ed. N. Langer, 1957; Zeuge des Traums und der Zeit: die Gedichtzyklen „Hahnenschrei“, „Gesänge von der Erde“ und „Lob der Vergänglichkeit“, 1991. – Teilnachlässe: Wienbibliothek im Rathaus, Wien; Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Graz; Deutsches Literaturarchiv Marbach/Neckar, D.; Stadtarchiv Mönchengladbach, D.


Literatur: ÖBL; NDB; E. Waldinger, Der Dichter H. L., in: Monatshefte 40, 1948, S. 337ff.; F. Braun, Zeitgefährten. Begegnungen mit Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig, Arno Holz, H. L., Hans Carossa, Reinhold Schneider, Hermann Hesse, Thomas Mann, 1963, S. 89ff.; F. Taucher, Schattenreise. Von Landsleuten und anderen Menschen, 1973, S. 95ff.; H. L. – Dichter der Stille, ed. D. Sessinghaus-Reisch u. a., Mönchengladbach 1991 (Kat.); H. L. Daten zu Leben und Werk, Graz 1991 (Kat.); R. G. Czapla, Der Schriftsteller H. L. (1891–1947) – Archivalische Bausteine für eine wissenschaftliche Biographie, in: Archivfachliche Beiträge, 2020 (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Mönchengladbach, Beiheft 4), S. 49ff.  (mit Bild); Wien Geschichte Wiki (Zugriff 22. 2. 2021).

(Ralf Georg Czapla)