Charly Gaudriot – Wiener König des Jazz

Sein Name war über 40 Jahre ein Synonym für beste Wiener Unterhaltungsmusik: Charly Gaudriot, dessen Geburtstag sich im März zum 125. Mal jährt, verließ die Wiener Philharmoniker und stieg in der jungen Wiener Jazzszene zum Saxophonstar auf.

Seine Laufbahn begann ganz klassisch: Als Hochbegabter studierte der am 12. März 1895 in Wien geborene Karl Gaudriot an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Franz Bartolomey Klarinette und bestand 1914 die Reifeprüfung mit Auszeichnung. Von Ferdinand Löwe für das Orchester des Wiener Concertvereins (die späteren Wiener Symphoniker) engagiert, trat er noch im Spätherbst 1914 solistisch auf, ehe der 1. Weltkrieg seine beginnende Karriere unterbrach und Gaudriot einrücken musste. Doch bereits 1918 entdeckte Franz Schalk sein großes Talent und holte ihn als ersten Klarinettisten in das Orchester der Wiener Staatsoper. Schon mit 25 Jahren war Gaudriot Widmungsträger der „Vier Stücke für Klarinette und Klavier“ von Alban Berg, die er in Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen spielte.

Eigentlich waren es die Philharmoniker, die ihn zum Jazz brachten ...

1922 nahm Gaudriot an der ersten Südamerika-Tournee (Rio de Janeiro, Montevideo, Buenos Aires) der Wiener Philharmoniker unter Felix Weingartner teil, im Jahr darauf an einer weiteren mit Richard Strauss als Dirigenten. In Übersee lernte er den Jazz kennen, der ihn fortan nicht mehr loslassen sollte. Zurück in Wien bestellte er sich ein Saxophon, erlernte das Spiel autodidaktisch und gründete 1924 eine Jazzkapelle. Als Mitglied der Jazzband von Berndt Buchbinder trat er Anfang 1925 erstmals öffentlich auf. In der Folge engagierte Hubert Marischka ihn mit dieser Band für die Operette „Der Orlow“ von Bruno Granichstaedten ans Theater an der Wien. Das Stück wurde ein Sensationserfolg und über dreihundertmal aufgeführt. Bei Buchbinder machte Gaudriot die Bekanntschaft des Komponisten und Pianisten Ralph Erwin, mit dem er eine „Monster-Jazz“ gründete, die große Tanzkapelle „Erwin-Gaudriot“, die ab 1926 im Moulin Rouge für Begeisterungsstürme sorgte und nach Erwins Fortgang 1927 „Jazz Charly Gaudriot“ hieß.

Radioliebling mit Anfangsschwierigkeiten

Auch der Rundfunk wurde auf die Kapelle aufmerksam und verpflichtete sie zunächst für Sonntagnachmittage: Die moderne Musik direkt nach dem Operettenkonzert rief großen Protest in der Hörerschaft hervor – doch als die Jazz-Nachmittage daraufhin wieder abgesetzt wurden, sorgte das ebenso für Empörung. Schließlich verlegte man den Termin auf die Abendstunden, in denen Gaudriot sein Zielpublikum erreichte und in kürzester Zeit zum „Radioliebling“ avancierte, der mitunter sogar zweimal wöchentlich im Studio der Ravag auf Sendung ging. Von der Presse zum „Jazzkönig“ von Wien ernannt, bemühte sich Gaudriot dabei immer um einen Brückenschlag zur ernsten Muse: Mit seiner Kapelle spielte er im Rundfunk auch „Symphonische Jazzmusik“ mit Werken Rachmaninows oder Rimski-Korsakows.

Abschied von der Oper

Marischka engagierte Gaudriot 1927 für die Oscar-Straus-Operette „Die Königin“ neuerlich an das Theater an der Wien sowie mit seiner Jazzkapelle für die Revue „Alles aus Liebe“ an das Stadttheater. Für die Oper blieb dabei kaum mehr Zeit: Ende des Jahres gab es mehrere Pressenotizen, wonach Gaudriot und weiteren vier Philharmonikern von der Staatsoperndirektion verboten worden sei, Jazz zu spielen, „um nicht die Würde des Hauses zu beschädigen“ – was nicht einer gewissen Komik entbehrte, da gleichzeitig Ernst Kreneks Jazz-Oper „Jonny spielt auf“ geprobt wurde. Tatsächlich suchte Gaudriot nach einer halbjährigen Beurlaubung erfolglos um neuerliche Karenzierung an. Als er der Aufforderung zum Dienstantritt nicht nachkam, wurde der Vertrag aufgelöst. Marischka hatte das Tauziehen um Gaudriot gewonnen – er war von dessen Spiel so fasziniert, dass er bei ihm Stunden nahm und 1928 bereits selbst ein paar Töne am Saxophon in Emmerich Kálmáns „Die Herzogin von Chicago“ spielte – natürlich mit „Herrn Gaudriot als Saxophonstar“ im Orchestergraben. Die größten Hits der Bühnenerfolge verewigte G. auch mit seinem Wiener Jazzorchester bei „Odeon“ auf Schallplatte, wo er bereits im Herbst 1927 seine ersten Aufnahmen einspielte. Weit über hundert sollten folgen.

Der nächste Coup gelangt 1929 mit Leo Falls „Rosen aus Florida“ in der Bearbeitung von Erich Wolfgang Korngold, der selbst dirigierte, den Klavierpart übernahm und mit Gaudriot am Saxophon vielbejubelte Duette spielte. Daneben trat Gaudriot ab 1929 täglich in Hans Hübners Kursalon Stadtpark zum 5-Uhr-Tanztee auf, später auch in dessen Parkhotel Schönbrunn, und gab erste Kompositionen heraus, wie „Das lachende Saxophon“ und „10 Etüden für Saxophon“, beide gemeinsam mit Duettpartner Hans Schneider. „Königin der Nacht“ (1929) wurde sein erster Schlager. Als Garant für „gehobene“ Unterhaltungsmusik war Gaudriot zudem unverzichtbar bei den großen Wiener Bällen geworden und begleitete mit seiner Band Feiern, Modeschauen und Schönheitskonkurrenzen.

Der Ton zum Film

Ein weiteres Betätigungsfeld eröffnete sich ihm 1930, als er mit seinem Jazzorchester im ersten in Österreich produzierten Tonfilm „Stürmisch die Nacht“ mitwirkte – es folgten „Hochzeitsreise zu dritt“ (1932), „Csibi, der Fratz“ (1934), „Episode“ (1935) und „Der Mann, von dem man spricht“ (1936). 1931 spielte er mehrere Wochen die von Charly Chaplin komponierte Musik zu dessen letztem Stummfilm „Lichter der Großstadt“ im Sascha-Filmpalast.
Tonfilm und Wirtschaftskrise hatten viele Kino-Musiker arbeitslos gemacht. Deshalb wurde 1931 der Jazzband-Wettbewerb um das „Goldene Band“ gegründet, dessen Reinerlös arbeitslosen Musikern zugutekam. Gaudriot siegte die ersten drei Jahre und gewann ihn somit „endgültig“: Er erhielt die goldene Medaille und durfte fortan nur mehr außer Konkurrenz teilnehmen.

1932 gastierte Gaudriot für einige Wochen in Abbazia, es folgten Tourneen durch Österreich, Deutschland, die Niederlande, die Schweiz, Italien, die Tschechoslowakei und Ungarn bis nach Syrien. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs bereitete dem allem ein jähes Ende – von Oktober 1939 bis April 1945 war Gaudriot bei der Luftwaffe eingerückt und geriet danach für kurze Zeit in amerikanische Gefangenschaft.

Neubeginn nach der Stunde Null

Schon im Februar 1946 trat er aber wieder als Klarinettist auf, spielte in einem Konzert der Wiener Symphonikern das Saxophonsolo in Ravels „Bolero“, gestaltete „Vergnügungskonzerte“ wie „2 Stunden bei Charly Gaudriot“ und wirkte auch in der Konzerthausreihe „Das Bouquet“ mit. Im selben Jahr kam es unter ihm zur Neugründung des „Kleinen Wiener Rundfunkorchesters“, nachdem er bereits vor dem Krieg das Funkorchester der Wiener Symphoniker geleitet hatte. Er blieb bis 1962 dessen Dirigent wie auch künstlerischer Leiter und gestaltete tägliche Programme wie „Wir laden ein“ oder das „Konzertcafé“. In diesen Jahren entstanden auch tausende Aufnahmen.

1955 gelangte er ins Finale des „1º Festival Internazionale della Canzone“ (ein Vorläufer des Song Contests) in Venedig und trat mit dem Kleinen Wiener Rundfunkorchester auf dem Markusplatz vor 7.000 Zuschauern auf.

Seinen größten Hit „Wenn einmal in fernen Tagen“ schrieb er 1947 mit Hans Zeisner, sehr beliebt waren aber auch Titel wie „Musikant“, „Flott und munter“ oder „Sperrstund’ is’“.

Der gefragte Pädagoge unterrichtete zudem Klarinette und Saxophon am Konservatorium für Musik und Darstellende Kunst („Prayner-Konseratorium“). Zu seinen erfolgreichsten Schülern gehörte der Saxophonist Carl Drewo. 1959 erhielt er den Professoren-Titel, 1970 die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien. Selbst im Ruhestand war Gaudriot weiter als Dirigent tätig – somit sorgte der einstige Philharmoniker und Jazzpionier über 40 Jahre lang für den richtigen Rhythmus auf dem Wiener Tanzparkett. Am 16. April 1978 ging sein von Musik erfülltes Leben in Wien zu Ende.


Weitere Werke: s. Österreicher der Gegenwart, ed. R. Teichl, 1951. – Publ.: „Ist Jazz seriöse Musik?“, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 14. 12. 1927


Literatur: Das interessante Blatt, 7. 7. 1927 (mit Bild); Der Tag, 7. 12. 1927; Illustrierte Kronenzeitung, 29. 9., 4. 10. 1931 (mit Bild); Das Kleine Volksblatt, 31. 12. 1948; oeml; Radio Wien, 1948, H. 22, S. 4, 1950, H. 24, S. 9f.; Neue Illustrierte Wochenschau, 1956, Nr. 11, S. 3; Kunst und Freie Berufe, Nr. 189, März 1965, S. 9; K. Schulz, Jazz in Österreich 1920–1960, 2003, S. 15ff., 32; W. Lamprecht, Zur Geschichte der österreichischen Jazz(kritik), 2009, S. 108; K. Nowakowski, in: ANKLAENGE, 2011/2012. Jazz Unlimited, ed. Ch. Glanz – M. Permoser, 2012, S. 95, 101ff., 118ff., 133f.; U. Petersen, Operetta after the Habsburg Empire, phil. Diss. University of Califoria, Berkeley, 2013, S. 37; W. Hirschenberger – H. Pames, Diskographie der österreichischen Populärmusik (online, Zugriff 8. 3. 2020); WienGeschichteWiki; Mitteilung Michael Gaudriot, AdR, beide Wien.

(Ruth Müller)

Besonderer Dank gilt Michael Gaudriot für die großzügige Unterstützung mit Bildmaterial.