Emilie Bardach, Henrik Ibsens österreichische Muse

Einer Wienerin gelang es, nach einer Begegnung mit dem norwegischen Autor Eingang in die Geschichte der Weltliteratur zu finden – und auch Karl Krausʼ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Harmlosigkeiten unter elektrische Beleuchtung stellen“ (Julius Elias)

Grüße von „Ihrem unwandelbar ergebenen Henrik Ibsen“ schickte der zweiundsechzigjährige Dramatiker im September 1890 an die wesentlich jüngere Bardach. Mehrere Lebensjahrzehnte trennten die beiden voneinander, als sie sich im Jahr zuvor auf Sommerfrische in Gossensaß südlich des Brennerpasses in Südtirol begegneten. Ibsen hielt sich mehrmals in diesem Luftkurort auf, in jenem Jahr anlässlich der Feierlichkeiten zur Benennung eines Waldplatzes nach ihm. Bei der Abreise schenkte er Emilie Bardach eine Fotografie von sich mit der Widmung „An die Maisonne eines Septemberlebens – in Tirol“. Diesem Kennenlernen folgte zwar kein weiteres persönliches Treffen mehr. Dennoch erfuhr diese Begegnung eine fortgesetzte Aufmerksamkeit.

„Das kleine Solneß-Fräulein“

Emilie Bardach war die Tochter des jüdischen Kaufmannes Sigmund Bardach und wurde am 5. August 1862 in Wien geboren. Den Sommer 1889 verbrachte das „junge Fräulein“, wie sie später in der Presse genannt wurde (gesprochen wird meistens von einer damals Achtzehnjährigen, die tatsächlich bereits 27 Jahre alt war), in Gossensaß, ca. 400 Kilometer von Wien entfernt gelegen. Dort und im selben Grandhotel Gröbner verkehrte zeitgleich der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen. Es kam in der Folge zu gemeinsamen Spaziergängen sowie Gesprächen; danach tauschte man einige wenige Briefe.

Jahre später gewährte Bardach dem bedeutenden dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes Einblick in ihre Korrespondenz. Er publizierte sie noch im selben Jahr. Die Veröffentlichung kurz nach Ibsens Tod im Mai 1906 sorgte für einen Skandal – zumal dieser verheiratet gewesen war und man das als Affront gegen die Witwe verstand.

Am 13. August 1906 berichtete das „Neue Wiener Journal“ unter dem Titel „Maiensonne eines Septemberlebens“ von einer Unterredung, die Brandes Bruder Otto mit Bardach geführt hatte. Ihm versicherte sie, sie habe ursprünglich nie an eine Veröffentlichung der Briefe gedacht, bis ihr ein Freund und Ibsen-Verehrer nahegelegt hätte, es sei ihre „der Ibsen-Gemeinde schuldige Pflicht“, dieser die Briefe nicht vorzuenthalten. Schließlich – so Bardach – drängte Georg Brandes sie zur Veröffentlichung, und zwar „durch das intimere Mittel eines Buches über Ibsen“, in dem die Briefe einen wichtigen Teil darstellen sollten. Es war ihr – Bardachs – Wunsch, die Korrespondenz noch zu Lebzeiten Ibsens zu veröffentlichen, doch eine Krankheit des Herausgebers habe dies verhindert.

Die „Hilde Wangel“ aus Österreich

Georg Brandes schrieb in seiner Ibsen-Publikation über die Briefe, indem er sich auf Ibsens Drama „Baumeister Solneß“ bezog, sie enthielten „einige Züge, die in dem Verhältnis zwischen Solneß und Hilde wiederkehren“: Bardach „ist die Maisonne eines Septemberlebens, sie wird wie Hilde Prinzessin genannt, wirkt auf ihn wie eine Prinzessin; er muß immer, immer an sie denken. Und er ist eifrig mit dem Gedanken beschäftigt, ob es ihm je gelingen werde, das hohe schmerzliche Glück, um das Unerreichbare zu ringen, in einer Dichtung auszudrücken.“

Schon zeitgenössische und auch noch spätere Literaturhistoriker und -innen vermuteten, dass Ibsens Begegnung mit Emilie Bardach Einfluss auf seine Rollengestaltung in „Hedda Gabler“, „Baumeister Solneß“, „Klein Eyolf“ und „Wenn wir Toten erwachen“, Ibsens letztem Drama, gehabt haben könnte und Bardach Vorbild für so manche Frauenfigur gewesen sei. Ibsen selbst nährt dies in Stellen seiner Briefe an Bardach: „Meine Sommererinnerungen kann ich nicht zurückdrängen. Will es auch nicht. Das Erlebte erlebe ich wieder und wieder – und immer wieder. Das alles zu einer Dichtung umzudichten ist mir vorläufig unmöglich. Vorläufig?“

… „wenn die Muse krampfhaft darauf besteht, den Dichter angeregt zu haben“: im Fokus von Karl Kraus

Karl Kraus vermutete im Oktober 1906 öffentlich, dass die „hastige Publikation“ der Briefe Ibsens an Bardach darauf schließen lasse, sie sei schon bei der Annäherung an den Norweger von dem „Wunsche, sich literarhistorisch zu versorgen, beseelt“ gewesen. Doch, so Kraus in der „Fackel“, „Dichtergreise annoncieren nicht in der Neuen Freien Presse: ‚Lebensabend zu verklären gesuchtʻ“.

Ebendort, in der „Neuen Freien Presse“, veröffentlichte Bardach im März 1907 einen Artikel mit dem Titel „Meine Freundschaft mit Ibsen“: „Es konnte Niemandem (sic) entgehen, daß er mich mit besonderem Interesse beobachtete.“ Ibsen „pflegte mich seinen Mitarbeiter zu nennen“ und ein Brief von ihr sei „nicht ohne Einfluß auf ‚Wenn wir Toten erwachenʻ geblieben“. Karl Kraus kommentierte ihren Bericht: „Aber wenn nicht die grammatikalische Verwahrlosung, die ihr Artikel zeigt, für einen Rest von Weiblichkeit spräche, man würde ihr die Leistung, die sie vollbracht haben will, nicht glauben.“

Zuvor, im Dezember 1906, war in der „Neuen Rundschau“ die Wiedergabe einer Unterhaltung des Herausgebers der deutschen Werkausgabe Ibsens Julius Elias mit Suzannah Ibsen, der Witwe des Dichters, erschienen, die Kraus wiedergibt: Sie habe alle Briefe gelesen und die Fotos gesammelt. Bardachs letztes Bild als „Prinzessin von Apfelsinia“ habe sie auf Ibsens Geheiß in den Papierkorb geworfen, was für die Gleichgültigkeit Ibsens Bardach gegenüber sprach, nachdem er sie als Vorbild für eine Dramenrolle genommen hatte. So soll Suzannah zu ihrem Mann gemeint haben: „Ibsen, halte Dir die vielen überspannten Frauenzimmer vom Leibe“.

In Ibsens Drama liebt Hilde Wangel den Baumeister, doch dieser ist verheiratet. Ibsen lässt Hilde im 3. Akt, einer Aussprache zwischen ihr und Solneß, sagen: „Daß einer nach seinem eigenen Glück nicht greifen darf. […] Bloß weil jemand dazwischen steht, den man kennt!“

Der Ton der Briefe zwischen Bardach und Ibsen lässt unendlich viel Raum für Spekulationen, vor allem durch Ungesagtes. Am 7. Oktober 1889 schreibt ihr Ibsen: „Keine Sonne mehr. Alles fort – verschwunden. […] Eine neue Dichtung fängt an in mir zu dämmern. Ich will sie diesen Winter vollführen und versuchen, die heitere Sommerstimmung auf dieselbe zu übertragen. Aber in Schwermuth wird sie enden. Das fühle ich.“ Ibsens Briefe sind im Umfang knapp gehalten: „Ich habe Ihnen einmal gesagt, ich korrespondiere nur in Telegrammstil. Nehmen Sie also diesen Brief so, wie er oben ist. Sie werden ihn jedenfalls verstehen.“ Jedoch bittet er schließlich um Abbruch der Korrespondenz, oder zumindest sie zu mindern: „Und nachher, bis wir uns persönlich wiedersehen, werden Sie brieflich nur wenig und zwar selten Etwas von mir hören. Glauben Sie mir, – es ist besser so. Es ist das einzig Richtige. Ich fühle es als eine Gewissenssache die Korrespondenz mit Ihnen einzustellen oder doch [zu] beschränken.“ Und einige Monate später: „Aber ich bitte Sie: schreiben Sie mir vorläufig nicht mehr. Wenn die Verhältnisse sich geändert haben, werde ich es Ihnen wissen lassen.“

Der Journalist und Schriftsteller Jenő Wallesz kommentierte dies 1921 so: „War das Liebe? Gewiß, aber eine sogenannte ‚Ibsenerliebe‘, die sich im Philosophieren auslebt und dann sich in die Lippen beißt. Eines ist sicher, diese Liebe bildet den Kernpunkt des Dramas ‚Wenn wir Toten erwachen‘.“

1914 bat Emilie Bardach den amerikanischen Autor Basil King, ihr beim Kauf von Ibsens Briefen behilflich zu sein. Nachdem dies erfolglos blieb, veröffentlichte er 1923 in „The Century Magazine“ den Beitrag „Ibsen and Emilie Bardach“, wobei Letztere, deren Erbschaft sich dem Ende zuneigte, für ihre Beteiligung angeblich ein hohes Honorar erhielt.

Nachruhm

Ein Vergleich zwischen Ibsens Beziehung zur vermeintlich jugendlichen Emilie und der Goethes mit Ulrike von Levetzow, der er 1821 in Marienbad begegnet war, wurde bedient. Selbst Karl Kraus verhalf der Wienerin, „den Schein biographischer Wichtigkeit“ (Julius Elias) zu empfangen, indem er sie namentlich in „Die letzten Tage der Menschheit“ erwähnt.

Auch heute noch lebt Emilie Bardach, die am 1. November 1955 im hohen Alter von 93 Jahren in Gümligen bei Bern starb, in der norwegischen Literatur weiter: Ibsens Landmann, der Dramatiker Niels Fredrik Dahl, schrieb ein Stück mit dem Titel „Henrik og Emilie“, das in Oslo im Ibsen-Jahr 2006 uraufgeführt wurde. Darin lässt er Emilie den sterbenden Dichter in Christiania, dem heutigen Oslo, noch einmal besuchen – eine Begegnung, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Doch das, was Karl Kraus der Bardach unterstellte, hat sie somit letztendlich erreicht: Sie fand dauerhaft Eingang in die Literaturgeschichte.


L.: J. Wallesz, Ibsen und Emilie Bardach. Der Roman eines Dichters, in: Pester Lloyd, 21. 9. 1921 (Morgenblatt); K. Quenzel, Ibsen und die Wienerin Emilie Bardach, in: Illustrierte Kurorte-Zeitung, 20. 12. 1929, S. 8f.; J. Elias, Christianiafahrt, in: Neue Rundschau 17, 1906, S. 1455; K. Kraus, Die Maisonne eines Septemberlebens, in: Die Fackel 8, 1906, Nr. 208, S. 13ff.; K. Kraus, Ihre Freundschaft mit Ibsen, in: Die Fackel 9, 1907, Nr. 223–224, S. 6ff.; Die Literatur. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen, ed. G. Brandes, Bd. 32–33: Henrik Ibsen. Mit zwölf Briefen Henrik Ibsens, [1906]; B. King, in: The Century Magazine 106, September 1923, S. 803ff., 107, November 1923, S. 83ff.; K. Schadelbauer, Das Grossensaßer Bachmandl – zu Henrik Ibsens 100. Geburtstag, in: Der Schlern 9, 1928, H. 5, S. 186ff.; K. Kraus, Literatur und Lüge, 1929, S. 23ff.; H. E. Lampl, Nova über Henrik Ibsen und sein Alterswerk. Das „Tagebuch“ der Emilie Bardach, 1977; D. Grieser, Im Rosengarten, 1996, S. 25ff.; J. Templeton, New Light on the Bardach Diary: Eight Unpublished Letters from Ibsens´s Gossensass Princess, in: Scandinavian Studies 69, 1997, H. 2, S. 147ff.; G. Ennemoser, Die Zeit des Nobeltourismus, in: Der Schlern 78, 2004, H. 5, S. 18f.; G. Ennemoser, Ibsens Flirt. Wie eine Bekanntschaft in Gossensaß Henrik Ibsens Leben veränderte, in: Erker 21, September 2009,  S. 42f.; J. Templeton, Ibsen’s Women, 2009, s. Reg.; G. Kierdorf-Traut, Henrik Ibsen (1828–1906) und Emilie Bardach in Gossensaß – eine Begegnung, in: Der Schlern 86, 2012, H. 3, S. 112ff. (mit Bild); I. d. Figueiredo, Henrik Ibsen. The Man & The Mask, 2019, s. Reg.; IKG, Wien; Henrik Ibsen Dokumentation, Gossensaß (Zugriff: 2. 5. 2023).

(Irene Nawrocka)

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