Entdecker, Hüter und Promotor der küstenländischen „Altertümer“: Pietro Kandler

Er kann als fast prototypischer Vertreter jener sprachlich diversifizierten, doch kulturell und politisch geeinten wissenschaftlichen Elite der Habsburgermonarchie gelten, die im Spannungsfeld zwischen Peripherie und den Zentren des Forschungsbetriebs wirkte. Als Rechtshistoriker und „Altertumsforscher“ hat er Grundlegendes für das Küstenland geleistet, doch im Schatten der Nationalismen des 20. Jahrhunderts verblasste die Erinnerung an den kaisertreuen Triestiner. Vor 150 Jahren verstarb der gut vernetzte Polyhistor.

Pietro Kandler kam am 23. Mai 1804 in Triest zur Welt. Sein familiärer Hintergrund war bürgerlich: Vater Paolo war Zeichenlehrer und Bühnenbildner, die Mutter Giovanna Cerutti Tochter eines renommierten Triestiner Arztes. Die Familie des Vaters stammte ursprünglich aus Schottland und trug den Namen Chandler, Vorfahren ließen sich in Wien nieder. Ein Chandler war Gärtner in einer der kaiserlichen Residenzen und nach einer unglücklichen Liebesbeziehung zu einer Hofdame nach Triest versetzt worden, wo er fortan als Förster im ebenfalls kaiserlichen Bosco Farneto oberhalb der Stadt wirkte – so zumindest schildert es Kandlers Schwager, der Schriftsteller und Maler Gaetano Merlato, in seiner Biographie von 1872.

Faszination Rechtsgeschichte

Der junge Pietro war begabt und wurde deshalb auf das Staatsgymnasium in Capodistria geschickt, damals das urbane und kulturelle Zentrum Istriens. Seine akademische Laufbahn setzte er an der Universität Padua fort, wo er Jus studierte. Noch als Student erhielt er 1822 ein Stipendium für einen mehrjährigen Studien- bzw. Forschungsaufenthalt in Wien. Die dort gemachten Erfahrungen sollten seine Weltanschauung grundlegend prägen. An der juridischen Fakultät der Wiener Universität belegte er Vorlesungen bei Thomas Dolliner und Franz von Egger und entdeckte seine Passion für die Erforschung der historischen Rechtsinstitute einer Stadt oder Region. So suchte er nach historisch-juridischen Dokumenten und vergessenen literarischen Texten über das Österreichische Küstenland. Zugleich führte ihn seine Wander- und Reiselust von der Hauptstadt aus in die nördlichen und östlichen Länder des Kaiserreichs. 1826 schloss Kandler sein Jusstudium an der Universität Pavia mit einem Doktortitel ab und kehrte in seine Heimatstadt zurück.

Archäologiepionier und kulturwissenschaftlicher Netzwerker

Im Vormärz trat Kandler in die Anwaltskanzlei Domenico Rossettis ein, seines Zeichens eine der zentralen Gestalten des gesellschaftlich-kulturellen Lebens der Stadt Triest. Diese erlebte damals ihre große Blütezeit und entwickelte sich zu einem kosmopolitischen Handelszentrum ersten Ranges. Nicht zuletzt über Vermittlung Rossettis brachte sich Kandler immer mehr in das Kulturleben der Stadt ein, etwa als Mitglied der 1810 gegründeten Società di Minerva und Mitarbeiter an deren seit 1829 erscheinenden Zeitschrift „Archeografo Triestino“.

Kandler begann nun, sich das Umland Triests und die benachbarte Halbinsel Istrien regelrecht zu „erwandern“. Als Folge seiner Entdeckungsreisen zu Fuß sowie – in übertragenem Sinne – durch die Bestände diverser Archive initiierte er erste archäologische Ausgrabungen in der Region. Besonderes Interesse weckten in ihm dabei Pola mit seiner imposanten antiken Arena, Aquileia mit seinen Relikten aus der Römerzeit und vor allem der frühchristlichen Basilika sowie die sogenannten Castellieri, vorrömische Befestigungsanlagen auf den Hügeln um Triest sowie im Inneren Istriens. Durch diese Aktivitäten kam Kandler allmählich in Kontakt zu Vertretern der jeweiligen lokalen Intelligenzija – oft Laienhistoriker –, mit denen er ein enges Forschungs- und Informationsnetzwerk knüpfte. Ein Ergebnis dieses Networkings war nicht zuletzt 1846 die Gründung des Wochenblatts „L’Istria“, das bis 1852 im Verlag des Österreichischen Lloyd in Triest erschien.

Kandler trug dadurch entscheidend dazu bei, die noch junge archäologische und historische Forschung zum triestinisch-istrischen Raum zu institutionalisieren. Nicht umsonst definierte Merlato „L’Istria“ als ersten und wichtigsten „kulturellen Speicher“ des Küstenlandes. Die darin veröffentlichten Studien wurden zur unverzichtbaren Grundlage für alle später sich mit dem Raum befassenden Gelehrten. Kandlers Ruf als Archäologe und Epigraphiker reichte bald über die Grenzen des Küstenlands hinaus und drang bis nach Wien sowie weitere europäische Metropolen: 1844 stattete Kaiser Ferdinand I. Pola einen feierlichen Besuch ab und stellte die dortigen archäologischen Stätten unter allerhöchsten Schutz, während Theodor Mommsen den Triestiner Gelehrten als Korrespondenten für sein „Corpus Inscriptionum Latinarum“ gewann. 1853 ernannte die Central-Commission für Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale in Wien Kandler zum „Conservator für die Baudenkmale des Küstenlandes“. Im August desselben Jahres wurde Kandler schließlich als wirkliches Mitglied in die kaiserliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Daneben gehörte er auch den Akademien von Venedig und Turin sowie dem Deutschen archäologischen Institut in Rom an.

Antikes Erbe als Identitätsstifter und Tourismusmagnet

Im Zuge seiner archäologischen und historischen Studien reifte in Kandler die Idee, die Ergebnisse seiner Forschungen einem breiteren Publikum zu präsentieren. Eine solche museale Sammlung sollte seiner Auffassung nach nicht zuletzt identitätsstiftend wirken. Die Stadtgemeinde Triest vertraute Kandler die Leitung eines Projekts für die Gründung eines klassischen Museums für „Altertümer“ an, das dem 1768 in Triest ermordeten legendären Ahnherrn des Klassizismus Johann Winckelmann gewidmet sein sollte. 1843 konnte Kandler so den „Orto lapidario“ der Öffentlichkeit übergeben, angelegt auf dem Gelände eines ehemaligen Friedhofs, in unmittelbarer Nähe der Kathedrale San Giusto. Dort war zehn Jahre zuvor bereits ein Kenotaph zu Ehren Winckelmanns eingeweiht worden. Dieses neu geschaffene Lapidarium war die Initialzündung für das jedoch erst ein Jahr nach Kandlers Tod gegründete Museo dʼAntichità, das unmittelbar an die erwähnte Gartenanlage anschließt und bis heute unter dem Namen Museo d’Antichità J. J. Winckelmann besteht.

Kandlers Konzeption des Gartens sah vor, steinerne Zeugen der Geschichte des Küstenlandes systematisch zu präsentieren. Dabei richtete sich sein Blick jedoch nicht ausschließlich auf die Vergangenheit, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft. Die moderne Freihafenstadt Triest und deren Bewohner verfügten nur bedingt über damals als solide gewertete „kulturelle Traditionen“. Kandlers Museumsprojekt sollte darauf abzielen, den Triestinern die Idee einer Zugehörigkeit zu einer (wenn auch in gewissem Sinne imaginierten) historischen Gemeinschaft und damit eine Identität zu verschaffen – mittels ihres kulturellen Erbes. Durch das Studium der eigenen Vergangenheit sollte zudem eine verstärkte Identifikation mit dem neu geschaffenen Kronland Österreichisches Küstenland erfolgen. Nebenbei wurde ein originelles Museumskonzept, nämlich das eines Freilichtmuseums, entwickelt.

Kandler verfasste auch – teilweise in Koautorschaft, etwa mit dem Großhändler und Bankier Pasquale Revoltella – Reiseführer über Triest, Aquileia, Grado und die wichtigsten Städte Istriens (z. B. „Guida al forestiero nella città di Trieste“, 1844), die in mehreren Sprachen publiziert wurden. Kandlers diesbezügliche Aktivitäten standen nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem eben im Entstehen begriffenen Fremdenverkehr, um dessen Förderung sich das Triestiner Bürgertum bemühte.

Schwierige Gratwanderung: Kandler und die Politik

Schon 1842 wurde Kandler, dessen damalige politische Haltung als gemäßigt liberal und kaisertreu bezeichnet werden kann, zum Prokurator der Stadt Triest und zum Präsidenten des Gemeinderats gewählt. Im Jahr zuvor war der erst 35-jährige Franz Graf von Stadion-Warthausen als neuer Gouverneur des Küstenlandes nach Triest gekommen und Kandler avancierte schon bald zu dessen engstem Mitarbeiter. Er unterstützte ihn bei der Ausarbeitung von Plänen für eine Verwaltungsreform, wobei ihm sein rechtshistorisches Wissen von großem Nutzen war: Als Vertrauter Stadions stellte er die überlieferten Rechtstexte neu zusammen und edierte sie, sodass dieser sie als Grundlage für seine Reformen verwenden konnte. Der so entstandene fünfbändige „Codice diplomatico istriano“ (1847) kann als Kandlers Hauptwerk gelten.

Im Revolutionsjahr 1848 erwies sich Kandler als kaisertreu, obschon er als gemäßigt Liberaler eine Autonomie der Stadt Triest befürwortete. Dagegen nahm er seine Wahl ins Frankfurter Parlament nicht an, da er eine Eingliederung der ehemals venezianischen Teile Istriens in den Deutschen Bund ablehnte. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts nahm er immer konservativere Standpunkte ein und geriet so zwangsläufig in Konflikt mit den erstarkenden liberalnationalen italienischen Parteien Triests und Istriens. Kandlers Verbundenheit mit dem Haus Habsburg zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass er auch in die Errichtung und Ausstattung von Schloss Miramare involviert war. So lieferte er das Bildprogramm für die von Cesare Dell’Acqua geschaffenen Gemälde für das Schloss und zeichnete auch für die lateinischen Inschriften verantwortlich. Bis 1865 vertrat Kandler das großteils von Slowenischsprachigen bewohnte Karstumland im Triestiner Gemeinderat, ehe an seiner Stelle Ivan Nabergoj als erster Slowene ins Stadtparlament gewählt wurde. Kandler reagierte empört, wobei antislawische Töne nicht ausblieben. Insbesondere nach 1867 verschärften sich seine Auseinandersetzungen mit dem nunmehr immer stärker italienisch-nationaliberal gesinnten Bürgertum. Politisch zunehmend isoliert und an einer Krebserkrankung leidend, zog sich Kandler ins Privatleben zurück, ehe er am 18. Jänner 1872 in seiner Wohnung an der Via del Lazzaretto Vecchio verstarb. Kandlers Tod löste eine heftige Auseinandersetzung rund um seinen Nachlass aus. Mehrere prominente istrianische Familien legten sogar Geld zusammen, um diesen anzukaufen.

Die italienische Historiographie, und hier vor allem die national grundierte Triestiner Stadtgeschichtsschreibung, hat Kandler meist als klassischen Typus des braven, angepassten, kaisertreuen italienischsprachigen und der Monarchie loyalen Untertanen dargestellt. Seine ablehnende Haltung gegenüber den italophilen, frühirredentistischen Kreisen Triests wurde ihm negativ ausgelegt. Kandler geriet so allmählich in Vergessenheit, was etwa daran ersichtlich ist, dass einem sein Name bei einem Besuch des Museo Winckelmann heute nicht mehr unterkommt. Dabei wurde vielfach übersehen, dass Kandler auf unterschiedliche Weise – sei es als Jurist und Historiker, später als Archäologe und Museumsgründer – ein innovativer Kopf war, der die Grundlagen für die Regionalgeschichtsschreibung des nördlichsten Teils des Adriaraums und dessen touristische „Verwertung“ legte. Und dabei kulturelle sowie historische Bezüge und Verbindungen noch ohne nationale Scheuklappen dachte.


Weitere Werke: Cenni al forestiero che visita Pola, 1845; Cenni al forestiero che visita Parenzo, 1845; Indicazioni per riconoscere le cose storiche del Litorale, 1855; Iscrizioni dei tempi romani rinvenute nell’Istria Tergeste, 1855; Storia del Consiglio dei Patrizi di Trieste dall’anno 1382 all’anno 1809, 1858; Three days at Trieste, 1858 (gem. mit P. Revoltella u. a.); Iscrizione romana del secolo IIII dell’era comune tratta da vecchi ruderi in Veglia, 1862; Emporio e Portofranco di Trieste, 1864; Indagini sullo stato materiale dellʼantica Aquileia, 1865.


Literatur: G. Merlato, Cenni biografici su Pietro Kandler, triestino, giureconsulto, archeologo, storico ..., 1872; N. Cobolli, Di Pietro Kandler, appunti e memorie, 1903; A. Andreoni – P. Demuru, La Facoltà politico legale dellʼUniversità di Pavia nella restaurazione 1815–48. Docenti e studenti, 1999; Dizionario Biografico degli Italiani 62, 2004; Istarska enciklopedija, 2005; F. Toncich, Istrien 1840–1914. Eine kulturelle Versuchsstation des Habsburgerreiches, 2021; Universitätsarchiv, Wien; Archivio storico diocesano di Trieste, Civici Musei di Storia e Arte, alle Triest, Italien.

(Francesco Toncich – Hubert Bergmann)

Das Bildmaterial wurde den Autoren dankenswerterweise vom Bildarchiv Austria (Wien) sowie von Jack Widdowson (Triest) zur Verfügung gestellt.