Antonio Ive (1851–1937) ‒ vergessener Erforscher verklungener Sprachen

Leben und Karriere des Philologen spielten sich in mehrfacher Hinsicht in peripheren Räumen ab. Obschon zu seiner Zeit gut vernetzt, geriet der erste Grazer Ordinarius für italienische Sprache und Literatur vielleicht auch deshalb relativ bald in Vergessenheit. Die Kritik an seinem sprachwissenschaftlichen Werk und diverse teils zeithistorisch bedingte Konflikte trugen ebenfalls das Ihre dazu bei.

Antonio Ive wurde am 13. August 1851 in der istrischen Küstenstadt Rovigno (kroatisch Rovinj) als Sohn der Bürgersleute Pietro Ive und Eufemia Ruffini geboren. Die Eltern ermöglichten ihm nach der Volksschule einen privaten Unterstufen-Gymnasialunterricht bei einem Kleriker, erst in der Oberstufe wechselte er regulär an das Gymnasium von Capodistria (slowenisch Koper). Nach dessen Absolvierung ging er an die Wiener Universität, wo er ab 1869 italienische und klassische Philologie studierte, u. a. bei Adolf Mussafia. Nach Ablegung der Lehramtsprüfung kehrte er 1875 als Supplent an das Gymnasium von Capodistria zurück. Nachdem er noch während seines ersten Dienstjahres eine erste kleine wissenschaftliche Arbeit vorgelegt hatte, trat er im Herbst 1876, unterstützt durch ein Stipendium des Wiener Ministeriums, einen längeren Studienaufenthalt in Italien an, der ihn u. a. nach Rom, Pisa, Mailand und Florenz führte, wo er einige der bedeutendsten italienischen Sprachforscher seiner Zeit kennenlernte. In der Folge wandte sich Ive intensiv der Sprachwissenschaft, und hier vor allem der Dialektologie, zu. Während eines Aufenthalts in seiner Heimat im Sommer 1877 führte er Feldforschungen zu dem heute vom Aussterben bedrohten Istrorumänischen durch, die sich anfangs nicht ganz unproblematisch gestalteten: Die Einwohner des Dorfes Šušnjevica hielten Ive und seine Begleiter offenbar für Spitzel des Fiskus und zeigten sich wenig kooperativ. Das dort gesammelte Material fand als „Aufzeichnungen des Herrn Dr. Antonio Ive“ u. a. Eingang in Franz von Miklosichs „Rumunische Untersuchungen“ von 1882. Ebenfalls im Sommer 1877 begann Ive auch mit der Sammlung folkloristischen Materials (Volkserzählungen, Reime, Rätsel etc.) bei Verwandten in Rovigno.

Ive und das Altvegliotische

An die Wiener Universität zurückgekehrt, legte Ive dort 1878 seine Doktoratsprüfungen ab. Danach brach er mit einem Stipendium nach Paris auf, wo er ebenfalls die romanistische Szene intensiv erkundete, in der Bibliothèque nationale alte Handschriften studierte, viele neue Bekanntschaften schloss und auch das kulturelle und gesellschaftliche Leben genoss. Er blieb bis 1881 in der französischen Hauptstadt. Den Sommer 1879 nützte er, um ‒ auf Anregung Graziadio Ascolis ‒ das damals bereits fast verklungene Dalmatische auf der Insel Veglia (kroatisch Krk) in der Kvarner-Bucht zu dokumentieren. Dabei lernte er Antonio Udina (Tuòne Udaina) kennen, der zwar selbst Dalmatisch nicht mehr muttersprachlich erlernt hatte, dessen Eltern jedoch das Idiom noch untereinander gesprochen hatten. Udina, der 1898 verstarb, gilt heute als letzter Sprecher (mit den erwähnten Einschränkungen) des Dalmatischen, einer balkanromanischen Sprache mit Bezügen zum Rumänischen. Udina war rund zwanzig Jahre später die zentrale Gewährsperson Matteo Giulio Bartolis für dessen von der Akademie der Wissenschaften in Wien herausgegebene Studie „Das Dalmatische“ (1906). Freilich vertritt Ive in seinem Beitrag „L’antico dialetto di Veglia“ (in: Archivio glottologico italiano 9, 1886) einen anderen Standpunkt als später Bartoli: Ihm zufolge handelt es sich bei dem altvegliotischen Dialekt um einen südlichen Vorposten des Rätoromanischen, zu dem bekanntlich auch das Furlanische gehört. In eine ähnliche Richtung dachte er übrigens auch hinsichtlich des Istriotischen, worunter man die archaischen Dialekte des südlichen Istriens (darunter die alte Mundart von Ives Vaterstadt) versteht, deren Einordnung bis heute umstritten ist. Spätestens seit Bartolis Monographie über das Dalmatische war das Verhältnis zwischen Ive und seinem istrischen Landsmann und jüngeren Kollegen jedoch zerrüttet: Bartoli, der im Altvegliotischen zweifelsfrei den nördlichsten Ausläufer des früher über weite Teile der dalmatinischen Küste verbreiteten Dalmatischen sah, warf Ive methodische Schwächen vor und bezweifelte, dass dieser seinen Gewährsmann Udina tatsächlich persönlich getroffen habe. Ive wiederum reklamierte die Entdeckung des Altvegliotischen für sich, Bartoli sei bloß von Neid getrieben.

Akademische Karriere mit Umwegen

Noch von Paris aus initiierte Ive seine Habilitation an der Universität Wien, die 1881 erfolgreich über die Bühne ging und ihm eine Lehrbefugnis für italienische Sprache und Literatur einbrachte. Weil sich an der Universität jedoch vorläufig kein Posten auftat, nahm er eine ihm vorgeschlagene Professorenstelle am Gymnasium in Rovereto an, wo er die folgenden acht Jahre wirken sollte. In der Welschtiroler Kleinstadt war Ive nicht sonderlich glücklich, er stieß sich an den dort praktizierten veralteten Erziehungsmethoden und an dem seinem Geschmack nach viel zu großen Einfluss der Kirche. Die Sommerferien nutzte er weiterhin zur Sammlung linguistischen und folkloristischen Materials im heimatlichen Istrien. 1890 wechselte Ive an ein Gymnasium in Innsbruck, wo er sich sichtlich wohler fühlte, obschon die Tatsache, dass er dort neben Latein, Griechisch und Geographie auch Deutsch unterrichten musste, ihn anfangs etwas in Anspannung versetzte. Ein von ihm angestrebter Wechsel an die Alma Mater der Tiroler Hauptstadt glückte nicht, wofür er in seiner Autobiographie in wenig schmeichelhaften Worten primär den Lehrstuhlinhaber Fortunato Demattio verantwortlich machte. Nichtsdestotrotz publizierte Ive unverdrossen weiter: Noch während seines Aufenthalts in Rovereto hatte er mehrere von ihm getätigte Funde in der Pariser Nationalbibliothek bearbeitet, im Programm seines Innsbrucker Gymnasiums erschien die Studie „Die istrianischen Mundarten“, welche dann auch in der 3. Abteilung der „Xenia Austriaca. Festschrift der österreichischen Mittelschulen zur 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien“ (1893) abgedruckt wurde. Um sich aus der Karrieresackgasse, in der er sich befand, herauszumanövrieren, verfasste er ein Bittschreiben an den in Graz tätigen Sprachwissenschaftler Hugo Schuchardt. Dies sollte seinem Leben eine entscheidende Wendung geben.

Schwieriger Einstand als Universitätsprofessor in Graz

Schuchardt, den Ive zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich kannte, setzte sich daraufhin für die Errichtung eines Extraordinariats für italienische Sprache ein und empfahl für dieses Ive. Anfang 1894 wurde Ive schließlich zum außerordentlichen Professor für italienische Sprache und Literatur an der Grazer Universität ernannt. Doch schon seine ersten Auftritte an der Hochschule lösten eine Kontroverse aus: Ive las auf Italienisch, obschon er die Lehrveranstaltungen auf Deutsch angekündigt hatte. Dies war offenbar deutschnationalen Kreisen ein Dorn im Auge, v. a. weil diese befürchteten, dass dies Vorlesungen in slowenischer Sprache nach sich ziehen könnte. Die Universitätsgremien befassten sich eingehend mit der Causa, die durch Indiskretion auch in die Tagespresse gelangte. Schuchardt brach eine Lanze für seinen Protegé, unterstützt durch den Slawisten Gregor Krek. Das Ministerium in Wien entschied im Oktober 1894 den Konflikt weitgehend zu Gunsten Ives, hielt ihn jedoch dazu an, auch Ergänzungsvorträge auf Deutsch zu halten. Nichtsdestotrotz war durch die unschöne Debatte gleich zum Auftakt von Ives universitärer Karriere viel Porzellan zerschlagen worden: Er zeigte sich enttäuscht vom Lehrkörper und pflegte zu diesem von nun an kaum noch Beziehungen. Die große Ausnahme stellte Schuchardt dar, den er nun mehr denn je verehrte und dessen sachwortgeschichtliche Forschungen er in den Folgejahren immer wieder unterstützte, sei es als Informant oder aber als Vermittler von Artefakten etwa aus den Bereichen Fischerei oder Spinnerei: Mehrere Gegenstände der im Wiener Volkskundemuseum aufbewahrten Objektsammlung Schuchardts wurden von Ive beigesteuert oder vermittelt.

Zwischen den Stühlen

Ives politische Haltung ist am ehesten als nationalliberal zu beschreiben. Er setzte sich wiederholt für die Schaffung einer italienischen Universität in Triest ein, wozu es jedoch im Rahmen der Doppelmonarchie nicht mehr kam. Zahlreiche Italiener aus dem Küstenland und aus dem Trentino studierten in Graz, im Studienjahr 1894/95 waren es immerhin 234, also rund 15 Prozent der Studenten. Viele von ihnen politisierten sich zunehmend und die Spannungen mit der deutschnationalen Studentenschaft wuchsen. 1907 kam es im Zusammenhang mit der erwähnten Forderung nach einer italienischen Hochschule zu Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen. Ive unterstützte seine Landsleute, in seinen Memoiren beschreibt er, wie er in seinem Haus die Blessuren, die sie dabei davontrugen, versorgte. Bereits im Februar desselben Jahres hatte Ive anlässlich des Todes des italienischen Dichters und Nobelpreisträgers Giosuè Carducci ein Gedicht deklamiert, das man durchaus als irredentistisch auslegen konnte, was ihm eine behördliche Vorladung eintrug. Andererseits verweigerte die Accademia dei Lincei in Rom 1909 dem Österreicher Ive die Einsicht in ihr ortsnamenkundliches Material. Und im istrischen Wochenblatt „La Fiamma“ spottete man 1911 über die Verleihung des Kommandeurkreuzes des Ordine della Corona dʼItalia an Ive – der devote österreichische Patriot hätte wohl eher den Franz-Joseph-Orden verdient ...

Frühes Verstummen

In wissenschaftlicher Hinsicht beschäftigte sich Ive, der 1902 zum Ordinarius aufstieg, während seiner Grazer Jahre einerseits weiterhin mit Dialektologie, wobei neben den Dialekten Istriens („I dialetti ladino-veneti dellʼIstria“, 1900) zunehmend jene des Latiums, das er 1902–07 wiederholt bereiste, in den Fokus rückten. Doch auch seiner Liebe zur Volkspoesie und Volkserzählung blieb er treu und veröffentlichte 1900–03 entsprechendes Material von der Insel Veglia. 1907 folgten Volkslieder aus der Gegend um Velletri in den Albaner Bergen („Canti popolari velletrani“). Seine Beschäftigung mit dem Volkslied prädestinierte ihn für eine Mitarbeit an der breit angelegten Sammelaktion zur Dokumentation von Volkspoesie und -musik „Das Volkslied in Österreich“ (kurz auch „Volksliedunternehmen“), die 1902 ihren Ausgang nahm. Hier gehörte er dem leitenden Hauptausschuss an und fungierte daneben als Obmann der Arbeitsausschüsse für das italienische Volkslied „in dem Küstenland und Dalmatien“ sowie „in Süd-Tirol“ (worunter man das Trentino verstand). Doch fällt auf, dass mit seiner Monographie von 1907 Ives Publikationstätigkeit abrupt endet. Im April 1916 heiratete er die Witwe Katharina Picco, geb. Pinter, doch wurde die Ehe noch im selben Jahr wieder geschieden. Warum Katharina Ive Jahre später dann doch als „tieftrauernde Gattin“ die Parte firmierte, konnte nicht geklärt werden. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs durfte Ive an der Universität Graz verbleiben, musste jedoch 1919 ein Gelöbnis auf den Staat Deutschösterreich ablegen. Zwei Jahre später trat er in Ruhestand. 1924 begann er mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, die den lapidaren Titel „Memorie inutili“ tragen. 1971 von Giuseppe Radossi ediert, sind sie ein (nicht nur in wissenschaftshistorischer Hinsicht) interessantes Zeitdokument. Sie brechen jedoch 1908 ab. Über Ives Lebensabend ist so gut wie nichts bekannt, nur dass er diesen offenbar äußerst zurückgezogen und – wie es in einem Nachruf hieß – als Sonderling geltend verbrachte. Antonio Ive verstarb hochbetagt am 9. Jänner 1937 in Graz. Seine umfassende Bibliothek und seinen Nachlass vermachte er seiner Geburtsstadt, wo auch seine sterblichen Überreste beigesetzt wurden.

Nicht einmal zehn Jahre nach seinem Tod sollte ein historisches Ereignis Ives Heimat Istrien auf dramatische Weise verändern: Im Zuge des sogenannten Exodus (italienisch esodo) verließ nach Kriegsende der Großteil der italienischsprachigen Einwohner das Land, ganze Dörfer und Städte wurden entvölkert. Dies lässt Ives dialektale und ethnographische Dokumentationen heute noch wertvoller erscheinen.


Weitere Werke: Canti popolari istriani raccolti a Rovigno, 1877; La famiglia Della Zonca, con saggi di dialetto dignanese, 1877; Novelline popolari rovignesi, 1877; Fiabe popolari rovignesi, 1878; Novelline, storie, leggende in veglioto odierno, in: Archivio per lo Studio delle tradizioni popolari 19–20, 1900–01; Canti poplari in veglioto odierno, in: Archivio per lo Studio delle tradizioni popolari 21, 1902; Indovinelli in veglioto odierno, in: Archivio per lo Studio delle tradizioni popolari 22, 1903; Proverbj in veglioto odierno, in: Archivio per lo Studio delle tradizioni popolari, 22, 1903; Le memorie inutili, ed. G. Radossi, in: Quarto concorso d’arte e di cultura Istria Nobilissima. Antologia delle opere premiate, 1971, S. 49ff. ‒ Nachlass: Muzej Grada Rovinja / Museo della Città di Rovigno, Rovinj/Rovigno, Kroatien.


Literatur: Grazer Volksblatt, 14. 1. 1937; Öffentliche Sicherheit 17, 1937, Nr. 2, S. 11 (Parte), Nr. 3, S. 7; G. Radossi, in: Quarto concorso d’arte e di cultura Istria Nobilissima. Antologia delle opere premiate, 1971, S. 21ff.; D. Proietti, in: Dizionario biografico degli italiani 62, 2004; Ž. Muljačić, in: Hrvatski biografski leksikon 6, 2005; M. Smolica, Antonio Ive (1851.‒1937.). Knjižnica jednog profesora / Antonio Ive (1851‒1937). Biblioteca di un professore, 2007 (mit Bild); V. Schwägerl-Melchior – J. Mücke, in: Grazer Linguistische Studien 85, 2016, S. 165ff.; Hugo Schuchardt Archiv (online, Zugriff 16. 12. 2023); Pfarre Graz-St. Leonhard, Universitätsarchiv, Graz, beide Steiermark; Universitätsarchiv, Wien; Pfarre Rovinj/Rovigno, Kroatien.

(Hubert Bergmann)