Couragierte Pionierin der Mädchenbildung: Marianne Hainisch

Realgymnasium statt höherer Töchterschule, freie Berufswahl statt Versorgungsehe waren frühe Anliegen Marianne Hainischs. Die Wegbereiterin des ersten Mädchengymnasiums in Österreich ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei trat sie jahrzehntelang als Rednerin, Publizistin, Organisatorin und internationale Vernetzerin für die rechtliche Gleichstellung von Frauen ein. Eine Würdigung zum 180. Geburtstag.

„Als sie geboren wurde, trug man Reifröcke und Kreuzbandschuhe, und als sie den 88. Geburtstag feierte, flog sie 40 Minuten lang mit einem Flugzeug über Wien“, skizzierte ein Nachruf im „Prager Tagblatt“ 1936 die ungewöhnliche Spannweite an technischen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen, deren Zeugin Marianne Hainisch im Lauf ihres langen Lebens wurde.

Zur Welt gekommen war Maria Anna Theresia Perger am 25. März 1839 in der Ortschaft Gutenbrunn, die damals noch nicht zu Baden bei Wien gehörte. Ihr Vater, Josef Perger (1806–1886), war Kaufmann, die Mutter, Maria (1820–1903), eine Tochter des Seifensieders und nachmaligen Mitbegründers der „Apollo“-Kerzenfabrik Jakob Perl. Sie selbst sah sich in ihren Lebenserinnerungen als „Kind des gebildeten deutsch-österreichischen Bürgertums“. Das begabte Mädchen wurde schon früh gefordert, so musste bereits die 4-Jährige lesen und lange Gedichte lernen. Auch fiel ihr als Erstgeborener der „Löwenanteil an der Erziehungsarbeit“ ihrer Geschwister zu. Ihre Kindheit verbrachte sie zu einem guten Teil in ländlicher Abgeschiedenheit: Ab 1845 lebte die Familie in Hirtenberg an der Triesting, wo Josef Perger einen Kupferhammer und ein Walzwerk gekauft und zusätzlich eine mit modernen englischen Maschinen ausgestattete Baumwollspinnerei errichtet hatte (1851 beschickte er die Londoner Weltausstellung mit Garnen). Für Unterricht und Fremdsprachenkenntnisse der Kinder sorgten in dieser Zeit Hauslehrer und Gouvernanten. Als das nicht mehr genügte, übersiedelte die Familie 1854 nach Wien, wo Mariannes Brüder höhere Schulen besuchten, während ihr eigener formaler Bildungsweg mit dem einjährigen Besuch des Instituts Fröhlich endete.

Mit achtzehn Jahren heiratete Marianne Perger Michael Hainisch (1832–1889), dessen Vater ein Geschäft in Wiener Neustadt und eine Baumwollspinnerei in Aue bei Schottwien besaß. Da Michael sich mit seinem Bruder in der Leitung der Fabrik und deren Wiener Niederlassung abwechselte, zog das Paar in das abgelegene Aue in die Nähe des Semmerings. Hier kamen bald auch zwei Kinder, Michael Hainisch, der spätere Bundespräsident, und Maria, zur Welt. Marianne Hainisch sah sich von da an vor allem als Mutter. Die junge Frau, die sich für Literatur, Philosophie und die Natur interessierte, legte Wert darauf, ihre Kinder selbst zu betreuen und zu unterrichten.

Sezessionskrieg, Baumwollkrise und ein „Weckruf“

Die im Gefolge des Amerikanischen Bürgerkriegs auf Europa übergeschwappte Baumwollkrise traf auch die Fabrik der Hainischs, die durch ihre ungünstige Lage ohnehin benachteiligt war. Das Unternehmen konnte zwar weitergeführt werden, ohne Arbeiter zu entlassen, erholte sich aber nicht und musste schließlich 1877 an Michael Hainischs gleichnamigen Onkel (s. u. Anton Hainisch) verkauft werden. Diese Zeit wurde für Marianne Hainisch zum einschneidenden Erlebnis. Als Weckruf führte sie später stets die Notlage einer Freundin an, deren Mann im Zuge der Krise verarmt war und die Familie nicht mehr ernähren konnte. Dass die Freundin selbst nichts zum Unterhalt beitragen konnte und auf Almosen angewiesen war, öffnete Hainisch die Augen für die Unzweckmäßigkeit der weiblichen Erziehung. „Jetzt wusste ich auch, was es mit meiner Ausbildung war“, erklärte sie rückblickend: „Ich, die ich mein Haus recht und gut versah, was konnte ich, was war ich ohne dasselbe?“. Ihr wurde klar: Um durch eigenen Erwerb für sich sorgen zu können, müssten Mädchen Zugang zur Mittelschule erhalten, statt bloß darauf vorbereitet zu werden, in Gesellschaft zu gefallen und zu heiraten. Im März 1870 trat Hainisch mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit. Auf einer Generalversammlung des wenige Jahre zuvor gegründeten Wiener Frauen-Erwerb-Vereins sprach sie „Zur Frage des Frauen-Unterrichtes“ und forderte dabei die Errichtung eines Unterrealgymnasiums für Mädchen. Letzteren wünschte sie eine „ernste Schule, in der sie hauptsächlich denken lernen“. Obwohl die Rede sehr gut aufgenommen wurde und Hainisch sofort die Ehrenmitgliedschaft eintrug, formierte sich in der Folge Widerstand besonders in den eigenen Reihen. Bis 1892 der Verein für erweiterte Frauenbildung tatsächlich die erste „Gymnasiale Mädchenschule“ eröffnen konnte, sollte es noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern. Auch kostete Hainisch ihr beharrlicher Einsatz viel Kraft:

Am zehnten Jahrestag ihrer denkwürdigen Rede notierte sie für sich selbst: „Ueberblicke ich, was ich in den 10 Jahren erlebte an Freude und Leid, vollbrachte an geistiger und materieller Arbeit, so nimmt es mich nicht Wunder, dass ich […] von einer lebensstarken, jungen, schönen, übersprudelnden, leichtbeweglichen, überaus gefeierten Frau zu einer alternden […] geworden bin; […] Es war ein Zeitraum angestrengtester Arbeit […], aber ich habe meine Kinder zu tüchtigen Menschen […] erzogen, meine Tochter verheiratet; inmitten pecuniären Ruins mir und meiner Familie eine angesehene Stellung in der Gesellschaft geschaffen; habe dem weiblichen Unterricht eine breite Gassen gebaut, dem Vorurteil gegen weibliche Gewerbstätigkeit eine tiefe Wunde geschlagen; habe manche verkümmerte Existenz aufgerichtet, ich habe 10 Jahre nicht umsonst gerungen, gearbeitet und gelitten und so darf ich heute vor der Zeit alt, krank und müde […] sein.“

Was wie eine Lebensbilanz klingt, war aber erst der Beginn eines über Jahrzehnte hinweg mit großer Ausdauer und Geschick verfolgten Kampfs um Gleichberechtigung.

Die „Brodfrage der Frau“

Marianne Hainisch sah die Erwerbstätigkeit von Frauen als eine Frage der Notwendigkeit, wie sie 1875 in ihrem zweiten Vortrag „Die Brodfrage der Frau“ ausführte. Gerade auch im Hinblick auf die wachsende Zahl Unverheirateter trat sie gegen die Versorgungsehe und für die Fachbildung von Frauen ein, denen ihrer Überzeugung nach alle Berufe offenstehen sollten, zu denen sie sich befähigt fühlen. Noch bevor Frauen zum Hochschulstudium überhaupt zugelassen waren, wies sie beispielsweise auf die wichtige Rolle hin, die Ärztinnen, wie etwa Frauenärztinnen, gerade in ländlichen Gebieten ausfüllen könnten. Später bezog sie klar Stellung gegen die offen ablehnende Haltung prominenter Vertreter des Fachs und reagierte auf Eduard Alberts polemische Broschüre zum Frauenstudium mit dem Vortrag „Seherinnen, Hexen und die Wahnvorstellungen über das Weib im 19. Jahrhundert“ (gedruckt 1896).

„Alle für Eine und Eine für Alle“ – Zusammenschluss national und international

Auf Vorschlag Auguste Fickerts fuhr Hainisch 1899 als österreichische Delegierte zur zweiten Generalversammlung des International Council of Women (ICW) nach London. Zurück kam die frischgebackene Ehrenvizepräsidentin für Österreich-Ungarn mit dem Auftrag, einen Zusammenschluss der hiesigen Frauenvereine anzuregen, der Konfessionen, Nationalitäten, Stände und Arbeitsgebiete übergreifen sollte. Das Echo war anfangs verhalten, speziell aufseiten der katholischen, sozialdemokratischen sowie tschechischer und ungarischer Vereine. Doch 1914 versammelte der von Hainisch 1902 gegründete Bund österreichischer Frauenvereine (B. Ö. F. V.) bereits 80 Organisationen. Im B. Ö. F. V. arbeiteten mehrere Kommissionen, darunter u. a. eine Unterrichts-, eine Gewerbe-, eine Rechts- sowie eine Friedenskommission unter dem Vorsitz der mit Hainisch befreundeten Bertha von Suttner. Die Vereinszeitschrift „Der Bund“ berichtete bis zu iher Einstellung 1919 über Belange der Frauenbewegung aus aller Welt, Marianne Hainisch trat darin in Dutzenden Beiträgen für ihre Anliegen ein. Als Vertreterin des B. Ö. F. V. fuhr sie vor dem 1. Weltkrieg zu den Frauenweltkongressen nach Berlin, Paris, Genf, Toronto, Dublin und Rom, wobei die Reise nach Kanada die nun schon 70-Jährige u. a. auch nach New York, Chicago und Washington führte. 1918 legte sie den Vorsitz im B. Ö. F. V. zurück.

Die Österreichische Frauenpartei

Für Hainisch war der Stimmzettel zwar „keine Herzenssache“ gewesen, sie hatte darin schließlich aber das „Alpha und Omega“ zur Erlangung der Gleichberechtigung erkannt. Nach Einführung des Frauenwahlrechts 1918 wurde sie zweimal auch politisch aktiv. So kandidierte sie – wenngleich erfolglos – bei der Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung 1919 für die Bürgerlich-demokratische Partei, auf deren Plakaten sie als Rednerin aufschien. 1929–1932 dann war sie Vorsitzende, später Ehrenvorsitzende der neu gegründeten Österreichischen Frauenpartei, einer laut Programm „im Interesse der Frau arbeitende[n] Organisation, welche den inneren und äußeren Frieden, das materielle Wohl und die geistige Höherentwicklung des Volkes anstrebt“. Zielsetzung war u. a. die Vermittlung zwischen den anderen Parteien, die Durchsetzung der „staatsgrundgesetzlich gewährleisteten Gleichberechtigung aller Staatsbürger ohne Unterschied von Geschlecht und Konfession“, das Streben nach gesetzlicher Anerkennung der Hausfrauentätigkeit als Beruf sowie eine Kranken- und Altersversicherung für Hausfrauen. Als Publikationsorgan fungierte „Das Wort der Frau“ (1931-1933). Darin gab Hainisch 1932 als politische Richtlinie die Gegnerschaft zur „Hitler-Bewegung“ vor, da diese darauf ausgehe, Frauen ihre Rechte zu nehmen, sie ins Haus zurückversetzen wolle und ihnen die Möglichkeit nehme, sich im Erwerbsleben fortzubringen.

Hainisch und der Muttertag

„Who rocks the cradle rules the world“, zitierte Hainisch einen englischen Dichter in ihrem Vortrag „Die Mutter“, in dem sie die fundamentale Bedeutung von Müttern für die Gesellschaft herausarbeitete. Für sie stand bei allem Einsatz für die Berufstätigkeit von Frauen die Bedeutung der Mutterschaft immer außer Zweifel. Liebe allein könne bei dieser Aufgabe aber nicht genügen, sie war der Meinung, dass Mütter auch „tüchtige Erzieherinnen“ werden sollten, und bemühte in dieser Sache ein Goethe-Wort, wonach jene Frau die beste sei, die ihren Kindern im Notfall auch den Vater ersetzen könne. Für Mütter forderte Hainisch Unterstützung in Form sozialer Vorkehrungen wie Wöchnerinnenheime, staatlich besoldete Hauspflegerinnen, Mutterberatungsstellen, Krippen, Kindergärten und Schülerhorte. Besonders wies sie auf das Missverhältnis hin, in der die Leistung von Müttern für die Gesellschaft zu ihrer rechtlichen Stellung nach dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch stand, und forderte dessen Reform.

Dass Marianne Hainisch auch zur Fürsprecherin des Muttertags in Österreich wurde, verwundert daher nicht. Dem amerikanischen Vorbild folgend waren in Europa Muttertagsfeiern bereits in Schweden, Holland und Deutschland veranstaltet worden. 1923 übernahm Hainisch in Österreich den Ehrenvorsitz eines entsprechenden vorbereitenden Komitees, und am 25. Mai 1924 wurde in Wien feierlich der erste Muttertag begangen.

Die Strategin

Das große Arbeitspensum, das sich Hainisch auferlegt hatte, erforderte neben Disziplin eine straffe Tagesstruktur. An erster Stelle stand nach ihrem Selbstverständnis die Familie, daneben fand sie aber Zeit, um in der Parlamentsbibliothek, wo ein fixer Arbeitsplatz für sie reserviert war, Fachfragen zu studieren. Zu ihren organisatorischen und publizistischen Tätigkeiten hatten sich zahlreiche (Ehren-)Funktionen gesellt (Reichsbund für Erziehung und Unterricht, Volksbildungsverein, Ethische Gemeinde, Good-Will-Day, Wiener Pfadfinder etc.). Und nicht zuletzt war eine ausgedehnte Korrespondenz zu bewältigen. Unter den Adressaten der erhaltenen Briefe finden sich Namen wie Alice und Tomáš Garrigue Masaryk, Friedrich Jodl, Marie von Ebner-Eschenbach oder Rosa Mayreder. Über ihre Arbeitsmethode berichtete die Mitarbeiterin Charlotte Janeczek später, sie sei so einfach wie wirksam gewesen, nämlich immer nur einen Teilaspekt herauszugreifen, für dessen Durchsetzung die Zeit reif schien, das Problem exakt durchzudenken und so lange mit Geduld und Zähigkeit zu verfolgen, bis es gelöst war, und zwar durch die Unwiderlegbarkeit von Argumenten. Das habe ihr die einzigartige Stellung im öffentlichen Leben, aber auch die maßgebliche Hilfe einflussreicher Männer gesichert. Eine andere Mitarbeiterin erinnerte sich, dass Hainisch auf den monatlichen Vorstandsversammlungen des B. Ö. F. V. Meinungsverschiedenheiten geduldig zuhörte, bis es ihr zu bunt wurde und sie mit der Hand auf den Tisch klopfte und entschied, was und wie es zu machen sei. Sie traf den Nagel auf den Kopf, und alle fügten sich. „So wurden Ideen verwirklicht, die auch heute noch Bestand haben.“

Ihre Leistungen wurden mit dem Ehrenzeichen der Universität Wien (1927) und der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien (1929) gewürdigt.

Marianne Hainisch starb am 5. Mai 1936 in Wien, einige Wochen nach ihrem 97. Geburtstag. Sie wurde in Eichberg am Semmering beigesetzt.

Anlässlich ihres 150. Geburtstags erschien 1989 eine Sonderbriefmarke mit ihrem Porträt.


Werke (Auswahl): Zur Frage des Frauen-Unterrichtes, 1870; Die Brodfrage der Frau, 1875; Ein Mutterwort über die Frauenfrage, in:  Jahresbericht des Vereines für erweiterte Frauenbildung in Wien, 1892; Seherinnen, Hexen und die Wahnvorstellungen über das Weib im 19. Jahrhundert, 1896; Bericht über den International Council mit einem Rückblick auf die österreichische Frauenbewegung an der Jahrhundertwende, 1901; Aufwand und Erfolg der Mittelschule vom Standpunkte der Mutter, 1904; Frauenarbeit, 1911; Die Mutter, 1913 (Neuaufl. 2016, hrsg. von Th. Elsen – S. St. Klein).

Teilnachlässe befinden sich in der Wienbibliothek im Rathaus, in der Österreichischen Nationalbibliothek, im Österreichischen Staatsarchiv sowie in Privatbesitz.


Literatur: Prager Tagblatt, 6. 5. 1936 (mit Bild); NDB; ÖBL; H. Laessig, Marianne Hainisch und die österreichische Frauenbewegung, phil. Diss. Wien, 1949; Marianne Hainisch, in: 60 Jahre Bund Österreichischer Frauenvereine, [1964], s. 7ff. (mit Bild); M. Hainisch, 75 Jahre aus bewegter Zeit. Lebenserinnerungen eines österreichischen Staatsmannes, bearb. v. F. Weissensteiner, 1978; Begegnung mit Marianne Hainisch. Frauenrecht – Frieden – Muttertag, ed. L. Perger, 1986 (mit Bildern); F. Weissensteiner, Große Österreicher des 20. Jahrhunderts, 1997, S. 66f. (mit Bildern); M. Friedrich, „Ein Paradies ist uns verschlossen …“. Zur Geschichte der schulischen Mädchenerziehung in Österreich im „langen“ 19. Jahrhundert, 1999, s. Reg.; A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms, ed. F. de Haan u. a., 2006 (mit Bild); R. Seebauer, Frauen, die Schule machten, 2007, s. Reg.; Ch. Teschl-Hofmeister, Marianne Hainisch (1839–1936) als Publizistin, DA Wien, 2009 (mit Werkverzeichnis); Marianne Hainisch. Eine Frauenrechtlerin aus Baden. Katalogblätter des Rollettmuseums Baden Nr. 93, [2014]; M. Königshofer, „Ein Mädchen sein wird nicht mehr bedeuten ausgeschlossen sein … Mädchenbildung in den Tagebüchern und Publikationen von Marianne Hainisch (1839-1936), phil. Diss. Wien, 2015; M. Hainisch, Die Mutter, hrsg. v. Th. Elsen – S. St. Klein, 2016 (mit Bildern); Pfarre Baden-St. Stephan; Pfarre Wien-St. Stephan.

(Eva Offenthaler)

Wir danken dem Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek für die kostenlose Überlassung von Bildmaterial.