Ein beispielloser Kulturtransfer im Exil: Melitta Urbancic (1902–1984)

Die vielseitig begabte Wienerin führte auf Island die Bienenzucht ein.

ROBINSON

Ich bin allein! – Mein Gott, wie soll ich so
fortleben: ohne Blick und ohne Gruß?
Mein Echo nur – Spur von meinem Fuß –
Leben im Weglosen – wie lange? wo?

Kein Maß zählt mir die Zeit: sie ist ganz.
Ganz bleibt die Weite ohne Segel mir.
Um meine Insel schließt ihr blauer Kranz.
Ich bin gerettet. Lebe. JETZT und HIER!

(Melitta Urbancic: Vom Rand der Welt, ed. Gauti Kristmannsson, 2014)

Die Lyrikerin, Schauspielerin und Bildhauerin Melitta Urbancic flüchtet im September 1938 mit ihren drei kleinen Kindern aus Graz nach Reykjavík. Nur einen Monat zuvor ist ihr Mann, der Dirigent, Komponist und Pianist Victor Urbancic (geboren am 9. August 1903 in Wien, gestorben am 4. April 1958 in Reykjavík) allein dorthin aufgebrochen, um den Aufenthalt für seine Familie und seine Unterrichtstätigkeit an einer Musikschule vorzubereiten.

Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, sollte ein Leben lang andauern. Im isländischen Exil trug das Ehepaar Urbancic jedoch zu einem beispiellosen Kulturtransfer bei: Victor Urbancic prägte eine ganze Generation an Musiker:Innen und wurde für sein Schaffen mit dem Ritterkreuz des isländischen Falkenordens ausgezeichnet. Melitta Urbancics lyrisches Werk hat erst posthum in den letzten Jahren auf Island und in Österreich eine späte Würdigung erfahren.

Jugend, Studium, Heirat

Melitta Urbancic wurde als zweite der drei Töchter des Rechtsanwalts Alfred Grünbaum und seiner Frau Ilma, geborene Mauthner, am 21. Februar 1902 in eine bürgerliche, jüdische Familie in Wien geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Wien, wo die Familie in der Elisabethstraße im ersten Bezirk wohnte, sowie in Purkersdorf in Niederösterreich. Sie besuchte das Reformrealgymnasium Luithlen, das 1938 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde. Die Deutschlehrerin Martha Fabian unterstützte das dichterische Talent ihrer begabten Schülerin, die schon als Kind Lyrik schrieb. Großes Vorbild war dabei von Beginn an Rainer Maria Rilkes Poesie. Nach der Matura studierte Melitta von 1922 bis 1925 Anglistik, Germanistik und Philosophie zunächst an der Universität Wien, nahm heimlich auch Schauspielunterricht bei Max Reinhardt, und brach schließlich trotz Einwände des Vaters 1924 nach Heidelberg auf, um dort bei Karl Jaspers und Friedrich Gundolf zu studieren. 2012 kamen ihre "Begegnungen mit Gundolf" heraus. 1928 schloss Melitta Urbancic mit einer sprachwissenschaftlichen Dissertation mit dem Titel „Der fünffüssige Jambus bei Grabbe“ ihr Studium in Heidelberg ab. Es folgten Schauspielengagements in Baden Baden (1927/28), Konstanz (1928/29) und Koblenz (1929/30). Ihr erster Dienstvertrag als „Chargenspielerin“ nennt als Bühnennamen Dr. Melitta Makarska.

Noch in ihrer Studienzeit in Wien lernte Melitta ihren späteren Mann, den Dirigenten, Komponisten und Pianisten Victor Urbancic kennen. Er war der Enkel des Otologen Viktor von Urbantschitsch und ein Verwandter des Oscar-Preisträgers Christoph Waltz. Die beiden heirateten 1930. Melitta folgte ihrem Mann nach Mainz, der dort bereits seit 1926 als Solorepetitor engagiert war, ab 1930 auch als Opernkapellmeister und an der städtischen Musikhochschule. 1931 kam ihr Sohn Peter (Pétur) in Wien zur Welt, 1932 Tochter Ruth in Mainz. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 machte einen weiteren Aufenthalt für die Familie Urbancic in Mainz unmöglich. Victors Arbeitsvertrag als Lehrer an der Hochschule wurde aufgekündigt mit der Begründung, dass er mit einer Jüdin verheiratet sei und diese sich in der Friedensbewegung engagiere. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Wien und einem Engagement an der Oper in Belgrad fand Victor Urbancic am Konservatorium, an der Universität und der Oper in Graz eine Anstellung.

Es muss in dieser Zeit gewesen sein, wie Melitta Urbancics zweite Tochter, die Musikerin, Feldenkrais-Pädagogin und Übersetzerin Sibyl Urbancic, in einem unveröffentlichten Interview erzählt, dass Melitta bei Karl von Frisch im Salzkammergut die Bienenzucht erlernte. Brunnwinkl am Wolfgangsee war für den Entdecker der Bienentanzsprache und späteren Nobelpreisträger der Kindheitsort erster Erkundungen in Fauna und Flora. Auch Melitta Urbancic war von Kindheit an besonders tierliebend und naturverbunden, wie Sibyl Urbancic erzählt. Als kleines Mädchen beobachtete sie in Wien die schwere Misshandlung eines Pferdes durch seinen Kutscher, was sie zur Vegetarierin werden ließ. Sibyl Urbancic, ihr drittes Kind, kam 1937 in Graz zur Welt. Zur gleichen Zeit hielt Melitta Urbancic ihre ersten eigenen Bienen im Garten. Sie trug nie eine Maske oder einen Handschuh, wenn sie mit den Bienen arbeitete. „Sie kennen mich. Sie stechen mich nicht. Wenn ich mich gegen sie anziehe, dann betrachten sie mich als Feind“, meinte sie.

Den Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich im März 1938 erlebte die Familie als traumatisch. Der Vater Alfred Grünbaum starb kurz danach am 10. April 1938. Nach dessen Tod konvertierte Urbancic zum Katholizismus, um die Religion ihres Mannes anzunehmen. Victor Urbancic, mittlerweile stellvertretender Direktor des Konservatoriums in Graz, wurde von den an die Macht gekommenen Nationalsozialisten eine Scheidung von seiner jüdischen Frau nahegelegt, was dieser ablehnte. Nach Bemühungen, in der Schweiz oder in den USA eine Beschäftigung zu bekommen, gelang ein Stellentausch mit seinem ehemaligen Studienkollegen Franz Mixa, einem in Island tätigen österreichischen Komponisten, der am Aufbau eines Musikkonservatoriums in Reykjavík beteiligt war. Victor Urbancic reiste im August 1938 allein dorthin, um die Lage zu sondieren. Die Familie sollte nachkommen.

Flucht und Exil in Island

Melitta Urbancic folgte ihrem Mann nur einen Monat später mit ihren drei kleinen Kindern. Sie verließ nach einem Verhör durch die Gestapo ihre Wohnung in Graz und fuhr umgehend nach Wien zu ihrer Mutter. Dort gelang es ihr nicht, diese zum Mitzukommen zu überreden. Spätere Versuche, sie nach Island nachzuholen, scheiterten an den dänisch-isländischen Behörden. Ilma Grünbaum wurde deportiert und starb im Jänner 1943 im Ghetto Theresienstadt.

Nach der Flucht quer durch Europa landete Melitta in der absoluten Fremde, im Gepäck die Papiere, ein wenig Schmuck und einen Messingtopf mit dem hauseigenen Honig. Reykjavík zählte damals an die 35.000 Einwohner, hatte kaum asphaltierte Straßen und ein erst im Aufbau begriffenes Musikleben. Die Schriftstellerin verlor nicht nur ihre Heimat und ihr Elternhaus, sondern als Schauspielerin, Sprachwissenschaftlerin und Philosophin auch ihr ureigenstes Werkzeug: die Sprache. Außerdem pflegte das Island der 1940er und 1950er-Jahre in gesellschaftlicher Hinsicht noch einen sehr restriktiven Umgang mit Frauen. Das Ankommen in Island bedeutete einerseits ihre Rettung, andererseits aber für eine selbst für damalige mitteleuropäische Verhältnisse ungewöhnlich hoch gebildete Frau auch einen Kulturschock; jedoch gelang es Melitta Urbancic im Laufe ihres neuen Lebens, all ihre erworbenen geistigen Fähigkeiten in der Fremde einzusetzen.

Ein für Melitta Urbancic zeitlebens wichtiger philosophischer Begriff sowohl in ihrer Dichtkunst als auch in ihrer Einstellung dem Leben gegenüber wurde ihr im Exil zum Überlebensschlüssel: Kairos, in der griechischen Mythologie der Gott des günstigen Augenblicks, der im Gegensatz zu Chronos steht, dem Gott der messbaren Zeit. Melitta Urbancic glaubte nicht an die Vergänglichkeit des Lebens, sondern an dessen Dauer. Sie verarbeitete ihre Empfindungen als Vertriebene, Holocaust-Überlebende und Heimatsuchende als Dichterin im Exil und offenbarte in der sprachlichen Tonalität des Fin de Siècle und in traditionellen Reimformen einen singulären Blick auf die Atlantikinsel mit den heute wieder aktuellen Themen wie Heimatverlust und Fremde.

Es entstanden hunderte Gedichte, die zu Melitta Urbancics Lebzeiten vereinzelt in Anthologien und Zeitungen erschienen bzw. auch in ihre Korrespondenz Eingang fanden. Sie tauschte sich schreibend in unzähligen Briefen aus, unter anderen – als glühende Sozialdemokratin – mit Persönlichkeiten wie Bruno Kreisky oder Christian Broda. 2014 wurden posthum der noch von ihr konzipierte Lyrikband „Vom Rand der Welt“ zweisprachig in Reykjavík veröffentlicht und 2022 in Wien ein Auswahlband mit dem Titel „Unter Sternen“, herausgegeben von Astrid Nischkauer und Agneta Hauber, die sich eingehend mit Melitta Urbancics Poesie in eigenen Arbeiten auseinandergesetzt haben.

Melitta Urbancic bekam im Mai 1945 noch eine Tochter, Eiríka, und unterrichtete Deutsch, Französisch und Englisch, übersetzte u. a. isländische Volksliedtexte, die ihr Mann für einen Volksliedband gesammelt hatte und die aufgrund seines plötzlichen Todes im April 1958 nicht mehr erschienen, ins Deutsche und Englische, und begann sich der Bildhauerei zu widmen. Außerdem wurde sie Anfang der 1950er-Jahre zur Bienenpionierin in Island. Man könnte sagen: Nomen est omen, denn Melitta heißt auf Altgriechisch Biene bzw. im übertragenen Sinn auch Dichterin.

Es gelang ihr, über mehrere Jahre in dem damals klimatisch noch viel kälteren Island Bienen, die sie zuerst aus Schottland bezog, zu züchten. Ein gewisser Jónas Þór hatte im Jahr 1935 den allerersten Bienenzuchtversuch in Akureyri im Norden der Insel gestartet, jedoch überlebte das Volk den Winter nicht. Melitta Urbancic begann ihre Bienenzucht im eigenen Garten am Stadtrand von Reykjavík. Die Isländer kannten auf ihrer Insel noch keine Bienen und hatten Angst vor den fremden Insekten. Aus einem Artikel in der Zeitung „Alþýðublaðið“ aus dem Jahr 1951 geht hervor, wie Melitta Urbancic diese zu beschwichtigen versuchte, indem sie betonte, dass Bienen nur stechen, wenn sie sich bedroht sehen. Es war ihr Wunsch, den Menschen auf Island den Umgang mit diesen Insekten nahezubringen und die Bienenzucht aufzuziehen. Dadurch meinte sie auch, einen Teil ihrer Dankesschuld an ihr zweites Heimatland Island abzuleisten. Melitta Urbancic bestellte aus dem Ausland die notwendigen Gerätschaften, wie zum Beispiel eine Honigschleuder, und züchtete über neun Jahre lang erfolgreich Bienen. Gleichzeitig gab sie ihr Wissen weiter und trug damit bei, in Island den geistigen Boden für die Bienenzucht vorzubereiten.

Am 17. Februar 1984 starb Melitta Urbancic in Reykjavík. Begraben aber ist sie in ihrem Kindheitsort, auf dem Friedhof in Purkersdorf in Niederösterreich. Auf dem Grabstein ihres Mannes wurde ihr Name ergänzt.


Weitere Werke: KAIROS – Ein Dialog, in: Der literarische Zaunkönig. Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft, 2008, Nr. 1, S. 58; (M. Grünbaum), Begegnungen mit Gundolf, ed. G. Eschenbach, 2012.


Literatur: Geir Gígja, Býrækt, in: Frey 48, 1953, Nr. 3–4, S. 57f.; Pétur Urbancic, Vielseitig, engagiert, anpassungsfähig …, in: Der literarische Zaunkönig 6, 2008, H. 1, S. 54–58; Frá hjara veraldar. Melitta Urbancic (1902–1984) – í útlegð frá Austurríki á Íslandi/Vom Rand der Welt. Melitta Urbancic (1902–1984) – Österreichisches Exil in Island. Sýning í Þjóðarbókhlöðu/Ausstellung in Islands National Bibliothek, Reykjavík 2014 (Kat.); Agneta Hauber, Einsame Worte am Rand der Welt. Melitta Urbancic – Eine Analyse ihrer Lyrik, Examensarbete för kandidatexamen i tyska, 2015; Rudolf Habringer, Das Unergründliche und das Banale. Essays, 2017, S. 87–128; Peter Stenberg, The Saga of Melitta Urbancic, in: Scandinavian-Canadian Studies/Études scandinaves au Canada 24, 2017, S. 210–225; Markus Helmut Lenhart, Geschichte ohne Brüche?, in: Stand und Perspektiven der NS-Forschung in der Musik 2, ed. Klaus Aringer u. a., 2021, S. 141–152; Astrid Nischkauer, „alles Wortwerden ist ein erregendes Verdichten schweifender Gedanken“ – Melitta Urbancic, in: Zwischenwelt 39, 2022, Nr. 1–2, S. 22–27; Gunilla Eschenbach, Urbancic dankt mit einem Gedicht – Melitta Urbancic an Karl Jaspers, 20. April 1956, in: S.O.S. Exilbriefe aus dem Deutschen Literaturarchiv, ed. Nikola Herweg, 2022, S. 193–196; Agneta Hauber, Melitta Urbancic: Lyrik am Rand der Welt. Exil und Integration in Island, 2022; Matriken, Archiv der IKG, Wien; Matriken, Universitätsarchiv, Wien; biografiA (Zugriff: 24. 1. 2023); Verein für Gedenkkultur Stolpersteine in Graz (Zugriff. 24. 1. 2023).

(Ursula Scheidle)