Rabbiner und Historiker – Aron Tänzer

„Möge dieses Werk, in dem bisher vollständig unerforschtes historisches Material zur Veröffentlichung gelangt, wohlwollende Aufnahme finden […]“. Diesen Wunsch äußerte Rabbiner Aron Tänzer 1905 im Vorwort seines Werks „Die Geschichte der Juden in Hohenems“. Seine Arbeit bildet die Grundlage aktueller genealogischer Forschung. Zu seinem 150. Geburtstag erinnert man sich noch vielerorts an ihn.

Aron Tänzer kam am 30. Jänner 1871 als Sohn von Marie (Maria), geb. Schlesinger (gest. 1906) und Heinrich Tänzer im damals ungarischen Pressburg zur Welt. Genaue Lebensdaten seiner Eltern, die sich bald nach seiner Geburt trennten, fehlen. Jedoch wird in der Literatur manchmal darauf verwiesen, dass die Familie in einer 500-jährigen Rabbiner-Tradition gestanden haben soll. Gesichert ist jedenfalls, dass der Vater neben seiner Tätigkeit als Kaufmann auch eine Rabbinerstelle bekleidete und die Mutter als Weißnäherin tätig war. So wuchs Tänzer als Sohn einer alleinerziehenden und berufstätigen Mutter auch in der Obhut seiner Großmutter Fanni Schlesinger auf, die mit dem Rabbi und Talmudlehrer Hersch Ber Schlesinger verheiratet war.

Beruf und Berufung

An seinem Geburtsort durchlief Aron Tänzer, dem eine Frühbegabung zugeschrieben wird, alle Schulstufen und schloss 1890 die Rabbinatsschule ab. Zwei Jahre später zog er nach Berlin und studierte einerseits an der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Germanistik, Philosophie und semitische Philologie, besuchte andererseits aber auch das orthodoxe Rabbinerseminar. Nach einem erneuten Studienortwechsel folgte 1895 die Promotion in Bern. Im selben Jahr erhielt Tänzer in Obornik auch sein Rabbinerdiplom verliehen. Danach kehrte er in die Habsburgermonarchie zurück, wo er, nach zwei kürzeren Stationen, im ungarischen Totis eine Anstellung als Hilfsrabbiner fand. Dort heiratete er am 2. Juni 1896 die Rabbinertochter Rosa Eleonora Handler (1875–1912). Nach der Hochzeit sollte das Paar jedoch nicht lange im Geburtsort der Ehefrau verweilen, da sich Tänzer noch im Oktober um eine freigewordene Stelle als Rabbiner im weit entfernten Vorarlberg bewarb. Die Israelitische Kultusgemeinde Hohenems, die zum damaligen Zeitpunkt bereits von starker Abwanderung betroffen, aber immer noch sowohl für die jüdische Bevölkerung in Vorarlberg als auch jene Tirols zuständig war, engagierte ihn daraufhin ab Dezember. Die junge Familie bezog eine Wohnung im Rabbinerhaus neben der Synagoge und konnte sich schon wenige Monate später über Nachwuchs freuen. Insgesamt sollten aus der ersten Ehe Tänzers – Rosa starb 1912 mit 37 Jahren – vier Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Beruflich war Tänzer beispielsweise zur Abhaltung der Gottesdienste, zur Erteilung des Religions- und Hebräischunterrichts oder zum Einsatz in Wohltätigkeitsvereinen verpflichtet. Die „Instructionen“ des Rabbinats der Israelitischen Kultusgemeinde sahen neben der gewissenhaften Führung der Matriken auch die „fachmännische Mitwirkung bei der […] Restaurierung der Grabstein-Inschriften“ vor. Daraus leitete Tänzer schnell einen wissenschaftlichen Auftrag an seine Person ab, den er von Beginn an zu erfüllen versuchte.

Die Geschichte der Juden in Hohenems

Am Ende seiner Amtszeit in Hohenems sollte er der Gemeinde ein rund 800-seitiges Werk hinterlassen, das nicht nur deren Geschichte sehr ausführlich darlegte, sondern vor allem auch mit Informationen zum Status quo aufwarten konnte. Tänzer verfasste darin Biographien seiner Vorgänger im Rabbineramt und beschäftigte sich mit Themen wie Handel und Gewerbe, der Jüdischen Schule oder rituellen Anstalten. Außerdem erforschte er den Jüdischen Friedhof, fertigte dazu ein Gräberverzeichnis samt Lageplan an und legte eine Grabnummerierung fest. Während einige von Tänzer verzeichnete Gräber heute leider nicht mehr erhalten sind, lassen sich auf so manchem Grabstein weiterhin die eingravierten Zahlen entziffern. Seine Forschungen zum Friedhof veröffentlichte er bereits 1901, bettete sie mit Ergänzungen aber auch in sein Gesamtwerk ein, das im Jahr seines Wechsels nach Meran 1905 dort erschien. Eine darüber hinaus äußerst wertvolle Quelle für die im Jüdischen Museum Hohenems betriebene Genealogieforschung befindet sich mit dem Familienregister im letzten Kapitel seines Buchs. Darin stützte er sich auf die handschriftlichen Vorarbeiten von Oberlehrer Moritz Federmann (1840–1916) und Heinrich Löwengard (1836–1912) und fertigte Familienstammbäume an. Dabei verzichtete er, schon damals auf den Schutz persönlicher Daten bedacht, auf die Angabe der Geburtsjahre von noch lebenden Personen. Seine Forschungsarbeit, die er regelmäßig auch in Vorträgen, manchmal in seiner Funktion als Vorsitzender des Hohenemser „Bildungsclubs“, präsentierte, führte Tänzer ehrenamtlich für die Marktgemeinde Hohenems fort. Der Rabbiner, der von seinem Freund Bürgermeister August Reis mit der Anlage eines Registers beauftragt wurde, ist somit als Begründer des heutigen Stadtarchivs zu verstehen.

Über Meran nach Göppingen und in den Krieg

Im Mai 1905 übersiedelte Tänzer nach Meran, blieb dort knapp zweieinhalb Jahre und bearbeitete den Nachlass seines Universitätsprofessors aus Berliner Studienzeiten Moritz Lazarus. Eine längerfristige Zukunft war ihm in der Kurstadt aber nicht beschieden, da sich die Differenzen zwischen Innsbruck, Meran und Hohenems ob der Einrichtung eines eigenständigen Rabbinatsbezirks für Südtirol nicht ausräumen ließen. So bewarb sich Tänzer schon bald für eine Anstellung im württembergischen Göppingen, die er bereits mit September 1907 antrat. Dort bezog er abermals Quartier im Haus neben der Synagoge, in welchem er bis zu seinem Lebensende beheimatet sein sollte. Er konnte an sein Wirken in Hohenems anschließen und zeichnete sich beispielsweise durch die Einrichtung einer Volksbücherei, der heutigen Stadtbibliothek, aus. Darüber hinaus hielt er Vorträge, verfasste Beiträge für verschiedene Zeitungen und gab 1910–14 die „Straßburger Israelitische Wochenschrift“ heraus. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete auch eine Zäsur im Leben Tänzers, der sich zu Kriegsbeginn freiwillig zum deutschen Heer meldete. Seine zweite Gattin Bertha Strauss (1876–1943), die er 1913 in Heilbronn geheiratet hatte, gebar noch im Juli 1915 ihr zweites gemeinsames Kind. Kurz darauf erreichte ihn der Einberufungsbefehl der Bug-Armee. Bis zum Kriegsende wurde er als Feldrabbiner eingesetzt und war dabei meist in Brest-Litowsk, der vom Krieg stark zerstörten Stadt am Ufer des Bug, und weiter östlich in Pinsk stationiert. Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit richtete er Volksküchen für die kriegsgeplagte Bevölkerung ein und arbeitete im Lazarett. Aber auch in wissenschaftlicher Hinsicht versuchte er der Situation etwas abzugewinnen und hielt Vorträge, wie etwa vor einem Offizierskorps der Militäreisenbahn über „Juden in Polen“ im Juni 1916. Außerdem veröffentlichte er diverse Zeitungsartikel und verfasste mit Werken wie „Die Geschichte der Juden in Brest-Litowsk“ (1918) in jener Zeit auch Bücher. Die persönlichen Eindrücke brachte er zudem im handschriftlichen Kriegstagebuch und später in den getippten Kriegserinnerungen zu Papier. Der Krieg war noch nicht lange ausgestanden, als der mit mehreren Orden dekorierte Tänzer mit dem grassierenden Antisemitismus und dem später folgenden nationalsozialistischen Umschwung konfrontiert wurde. Dennoch beschäftigte er sich weiterhin in wissenschaftlichen Abhandlungen mit Themen seines Forschungsfelds und veröffentlichte 1927 sein Werk zur „Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen“ sowie zehn Jahre darauf jenes zur „Geschichte der Juden in Württemberg“. Kurz nach dessen Erscheinen verstarb Tänzer am 26. Februar 1937.

Lebendige Erinnerung

Von seinem Ableben wurde in der Presse nur wenig Notiz genommen, was nicht zuletzt auch seinem letzten Willen entsprach, in dem er sich 1935 „keinerlei Dankrede, Nachruf oder dergleichen“ wünschte. In seinem Testament legte er auch die Grabinschrift fest, in welcher er seine Rabbiner-Laufbahn sowie die wissenschaftlichen Werke in den Vordergrund stellte. Das Grab befindet sich in der israelitischen Abteilung des Göppinger Friedhofs, wo an selber Stelle bereits seine erste Frau Rosa beerdigt wurde. Auch seine zweite Ehefrau Bertha, die 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt verhungerte, wird auf dem Grabstein erwähnt. Heute erinnert an ihn in Göppingen u. a. das 2002 nach ihm benannte ehemalige Wohn- und nunmehrige Rabbiner-Tänzer-Haus. Bereits 1984 wurde eine Gedenktafel zu seinen Ehren in der Göppinger Stadtbibliothek angebracht, 1988 seine historische Abhandlung zur jüdischen Gemeinde neu aufgelegt. In Vorarlberg erschien sein Werk zu den Hohenemser Juden schon 1971 und 1982 erneut. 1987 folgte unter dem Titel „Rabbiner Dr. Aron Tänzer. Gelehrter und Menschenfreund“ eine Ausstellung im Vorarlberger Landesarchiv, welche danach in Göppingen gezeigt wurde. 2005 wurde erneut eine Schau zu seiner Person an beiden Orten präsentiert, diesmal im 1991 eröffneten Jüdischen Museum Hohenems und im seit 1992 bestehenden Jüdischen Museum Göppingen-Jebenhausen. Nicht zuletzt ist wohl die weiterhin intensiv gelebte Verbindung zu Nachkommen Hohenemser Jüdinnen und Juden (darunter auch seiner eigenen Familie) Hinweis darauf, wie wohlwollend Tänzers genealogische Forschungen noch heute im Jüdischen Museum Hohenems aufgenommen werden.


Weitere Werke (Auswahl): Der israelitische Friedhof in Hohenems, 1901; Die Geschichte der Juden in Hohenems und im übrigen Vorarlberg, 1905, Reprint 1971, 1982; Die Mischehe in Religion, Geschichte und Statistik der Juden, 1913; Brest-Litowsk. Ein Wahrzeichen russischer Kultur im Weltkriege, 1917.


Literatur (Auswahl): NDB; ÖBL; I. Wegscheider, Dr. A. T.: Leben und Werk, in: Rabbiner Dr. A. T., ed. K. H. Burmeister, 1987, S. 42ff.; W. Prechtel, Versuch einer ersten Bibliographie A. T.s, ebd., S. 84ff.; K. Rueß, Rabbiner Dr. A. T., 2002; Vorarlberg Chronik, 2005, S. 162f.; Heimat Diaspora, ed. H. Loewy, 2008, s. Reg. (mit Bild); T. Albrich, Jüdisches Leben im historischen Tirol 2, 2013, s. Reg. (mit Bild); Hohenems-Lexikon, 2020, S. 310f.; Jüdisches Museum Hohenems, Vorarlberg; Hohenems Genealogie (mit Bild, Zugriff: 24. 11. 2020); Leo Baeck Institute, New York, USA.

(Raphael Einetter)