Der Pathologe Carl Freiherr von Rokitansky begründete bekanntlich im 19. Jahrhundert gemeinsam mit Joseph von Škoda und Ferdinand von Hebra eine neue Schule der Wiener Medizin, die wesentlich durch seine eingehende Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen und seine politische Haltung zum Liberalismus geprägt war.
Weniger bekannt sind die Verbindungen der Familie Rokitansky zu den Künstlerfamilien Weis-Ostborn, Hüttenbrenner, Lablache, Thalberg, Einsle und Teltscher. Ebenso bestanden freundschaftliche Beziehungen zu Antonio Salieri, Franz Schubert und Franz Grillparzer, die wiederum indirekte Verbindungen zu Ludwig van Beethoven ergaben. Wissenschaftliche Verbindungen zu Beethoven entstanden aus der Tatsache, dass Carl von Rokitansky gemeinsam mit seinem Vorgesetzten Johann Wagner im März 1827 die Leiche Beethovens im Schwarzspanierhaus obduzierte.
Carl Rokitansky wurde am 19. Februar 1804 in Königgrätz als Sohn des humanistisch gebildeten Kreiskommissärs von Leitmeritz, Prokop Rokitansky (1771–1813), geboren und im römisch-katholischen Glauben erzogen. Auch seine Mutter Theresia (1772–1827) stammte als Tochter des ersten Königgrätzer Kreiskommissärs Wenzel Lodgman Ritter von Auen (1740–1816) aus einer Beamtenfamilie. Als Carl acht Jahre alt war, verstarb sein Vater. Fortan lebte die Familie in eher bescheidenen Verhältnissen. Der Erziehungsstil seiner Mutter war liberal. Prägend waren für den jungen Carl ihre Worte zur künftigen Berufswahl ihrer Söhne, die „Alles“ erlaubte, außer „Soldaten“ und „Pfaffen“. 1818 ging Rokitansky nach Prag, mit der ursprünglichen Intention Philologie zu studieren. Nach dem philosophischen Einführungsunterricht entschied er sich jedoch 1821 für ein Medizinstudium, wechselte 1824 an die Universität Wien und wurde dort 1828 promoviert.
Durch die musikalischen Salons in Wien lernte er seine Gattin, die international anerkannte Konzertsängerin Marie Weis (1806–1888), eine Schülerin Antonio Salieris, kennen. Sie sang gemeinsam mit Franz Schubert und Franz Liszt und unterrichtete ihre beiden ältesten Söhne, den späteren Hofopernsänger Hans (1835–1909) und den Konzertsänger Victor Rokitansky (1836–1896). Die beiden jüngeren Söhne Karl (1839–1898) und Prokopp (1842–1922) setzten die Familientradition als Mediziner fort. Karl leitete später die Universitätsklinik für Gynäkologie in Graz, Prokopp wurde Internist und fungierte als Rektor der Universität Innsbruck.
Rokitansky arbeitete ab 1827 als unbesoldeter Praktikant, ab 1832 als supplierender und ab 1834 als leitender ao. Professor an der Pathologisch-anatomischen Prosektur im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. 1844 erhielt er das erste Ordinariat für pathologische Anatomie im deutschsprachigen Raum, zugleich wurde dieses Fach im Medizinstudium obligat. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Junge Wiener Medizinische Schule, die nach den neuen wissenschaftlichen Methoden von Rokitansky entwickelt wurde. Sein Denkansatz dabei war, den Ursprung oder den Auslöser einer Krankheit mit Hilfe der Anatomie zu ergründen. Im Laufe seines Lebens führte Rokitansky daher rund 60.000 Obduktionen durch. Er verglich die Krankengeschichte mit dem späteren Obduktionsprotokoll des Patienten. So erkannte er, dass die Symptomata, was übersetzt eigentlich Zufälle bedeutet, keine Zufälle waren, sondern sichtbare Zeichen einer Organerkrankung. In enger Zusammenarbeit mit dem Internisten Joseph von Škoda war es nun erstmalig möglich, Krankheitsverläufe zu beschreiben und vor allem Diagnosen zu erstellen. Aus diesen Forschungen entstand zwischen 1842 und 1846 Rokitanskys dreibändiges Handbuch der pathologischen Anatomie. In diesem Lehrbuch, das zu einer verpflichtenden Lektüre für alle Medizinstudenten der Habsburgermonarchie wurde, beschrieb er die Erkrankungen jedes einzelnen Organs systematisch, und erklärte, anhand welcher sichtbaren, tastbaren oder abhörbaren äußeren Merkmale eine Diagnose erstellt werden konnte. Sein Handbuch wurde rasch in mehrere Sprachen übersetzt und fand praktisch weltweite Verbreitung. Allerdings waren die Rezensionen zum dritten Band, den speziell Rudolf Virchow kritisierte, so kontrovers, dass er diesen Band überarbeitete. Rokitansky beschrieb in der Erstfassung, dass der Verlauf einer bestehenden Entzündung von den verschiedenen Formen von Protein und Fibrin im Blut bestimmt wird und dass erkrankte Blutbestandteile (Dyskrasien) Einfluss auf das Gewebe in seiner zellulären und interzellulären Dimension haben. Diese Wechselwirkung wollte er in seiner sogenannten Krasenlehre bewusst machen, konnte diese damals aber chemisch noch nicht beweisen und wurde verhöhnt. Daher strich er dieses Kapitel, setzte sich in Folge aber für die Schaffung zweier neuer Lehrkanzeln ein, nämlich dem Institut für Medizinische Chemie und dem Institut für allgemeine und experimentelle Pathologie, um die Forschung auf diesen Gebieten voranzutreiben. Erst die Forschungsergebnisse der letzten 30 Jahre konnten jedoch die visionäre Dimension von Rokitanskys Humoralpathologie bestätigen.
Nichts desto trotz reisten ab 1833 Mediziner aus aller Welt nach Wien, um Rokitanskys neue Methoden zu erlernen. Damit wurde die Wiener Prosektur zu einem bedeutenden Schauplatz des Umbruchs, wo der Paradigmenwechsel von der spekulativen naturphilosophischen Medizin hin zur systematisch wissenschaftlichen Medizin stattfand.
Auch wenn Rokitansky primär an Präparaten forschte, war ihm der Patient als Mensch stets wichtig. Daher warnte er eindringlich davor, die Freiheit der Naturforschung zu missbrauchen, da die Würde des Menschen verloren ginge, wenn der Mensch nur mehr als Objekt der Forschung gesehen werde, womit er bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage der Ethik in der Medizin thematisierte.
Die systematische Erforschung jedes einzelnen Organs bewirkte auch die Entstehung neuer klinischer Fachdisziplinen. Als Pathologe und Philosoph betrachtete Rokitansky kranke Menschen aus ganzheitlicher Perspektive. Als Humanist forderte er vehement, dass psychisch Kranke, damals als „Irre“ bezeichnet, das gleiche Recht auf Diagnostik, Behandlung und Heilung haben, wie Patienten mit physischen Erkrankungen. So beantragte er unter anderem die Schaffung der ersten Klinik für Psychiatrie in Österreich, die er unter die Leitung von Theodor Meynert stellte. Der hohe Stellenwert, der nun der Psyche zugeschrieben wurde, ebnete nicht nur den Weg für Sigmund Freuds Forschungen zur Neurologie und Psychoanalyse, sondern er hatte auch Einfluss auf Künstler wie Arthur Schnitzler, Gustav Klimt, Egon Schiele und später auch Oskar Kokoschka, die ihren Blick fortan unter das oberflächliche Äußere wandten und die Darstellung der Gefühle ihrer Modelle in den Vordergrund stellten.
Als universitärer Funktionsträger (mehrmals Dekan sowie 1852/53 erster frei gewählter Rektor der Universität Wien) setzte sich Rokitansky für die Lehr- und Lernfreiheit ein. In seinem Universitätsprogramm trat er für die Öffnung der Universität Wien in Bezug auf die zunehmende Migration von Studenten aus östlichen Kronländern ein, und bemühte sich, dem einsetzenden Nationalismus entgegenzuwirken. Ab 1867 kämpfte er als lebenslanges Mitglied des Herrenhauses und Vertreter der Liberalen für die Gleichstellung aller Konfessionen und ihren Zugang zur Bildung.
Rokitansky erhielt zahllose nationale und internationale Ehrungen und Auszeichnungen. Besonders erwähnt seien hier jedoch nur seine wichtigen Funktionen als Präsident der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1850-78, als Vizepräsident (ab 1866) sowie als Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien (ab 1869). 1874 wurde er in den Freiherrenstand erhoben.
Eine der prägenden Obduktionen in Rokitanskys Karriere war mit Sicherheit jene von Ludwig van Beethoven 1827 gemeinsam mit Johann Wagner, denn der angehende Arzt setzte sich zum Ziel, die Ursache der Taubheit des Künstlers zu ergründen. Rokitansky beschrieb im Obduktionsbefund, dass Beethovens Hörnerven zusammengeschrumpft und marklos waren. Da das Schädelgewölbe Beethovens eine durchgehende Verdickung von insgesammt einem halben Zoll (12mm) aufwies (physiologisch beim Erwachsenen um 6mm), wurde später als Ursache der Ertaubung auch eine Knochenerkrankung, ein sogenannter Morbus Paget, vermutet. Es ist anzunehmen, dass Rokitansky mit dem britischen Pathologen James Paget, den er persönlich kannte, Beethovens Befund diskutierte.
Diese Suche nach neuen naturwissenschaftlichen Erklärungen von Erkrankungen prägte ab nun Rokitanskys Lebenswerk und bedingte unter anderem den bereits erwähnten Paradigmenwechsel in der Medizin. Ab diesem Zeitpunkt änderte sich daher auch die Protokollführung von Obduktionsberichten. Bis dahin wurden in den Protokollen meist nur die klinischen Beobachtungen sowie die Diagnose vom behandelnden Arzt angegeben und vom Pathologen durch die Beschreibung des Krankheitsbildes ergänzt, pathologische Diagnosen fehlten. Nun entwickelte sich die Pathologie von einer beschreibenden zu einer erklärenden Wissenschaft, die oft von der klinischen Diagnose divergente Erkenntnisse erbrachte, somit aber die Todesursache erklären konnte.
Beethovens Tod revolutionierte nicht nur Rokitanskys medizinische Sichtweisen, sondern war gleichzeitig Ausganspunkt für künftige enge freundschaftliche, aber auch verwandtschaftliche Verbindungen der Familie Rokitansky in die damalige Kulturlandschaft Österreichs.
Franz Schubert besuchte gemeinsam mit dem Grazer Komponisten Anselm Hüttenbrenner, dessen Bruder, Joseph Hüttenbrenner, sowie dem Maler Joseph Eduard Teltscher den schwerkranken Beethoven; Teltscher zeichnete Beethoven am Totenbett. Bei der Totenmesse in der Augustinerkirche wurde das Mozart-Requiem unter anderem von dem Opernsänger Luigi Lablache aufgeführt. Die Grabrede auf Beethoven wurde von Franz Grillparzer verfasst.
Damals ahnte noch niemand, dass die Familien Rokitansky, Teltscher, Hüttenbrenner und Lablache einige Jahre später familiär verbunden waren. Hans Rokitansky heiratete die Enkeltochter Luigi Lablaches, Theres Lablache, Victor Rokitansky die Großnichte von Joseph Teltscher, Gabriele Edle von Lechner, und Prokopp Rokitansky seine Cousine, die Großnichte von Anselm Hüttenbrenner, Maria Weis Edle von Ostborn.
Eine indirekte Verbindung bestand zwischen Beethoven und Rokitanskys späterer Ehefrau Marie Weis. Sie war wie Beethoven eine Schülerin Antonio Salieris, der die junge Künstlerin besonders förderte. Beinahe hätte Weis in der Uraufführung von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 im Kärntnertortheater in Wien gesungen, doch sie verzichtete auf eine Bühnenkarriere und lehnte ein Engagement am Wiener Kärntnertortheater ab. Weis trat öffentlich nur in Musikvereinskonzerten, in Wohltätigkeitskonzerten, in Kirchen sowie in Musikalischen Salons auf. Des Öfteren wurde sie auch von einem weiteren Salieri-Schüler, nämlich Franz Liszt, am Klavier begleitet.
Aber auch zu Schubert gab es eine enge Verbindung. Er musizierte gemeinsam mit Marie und ersuchte sie mehrmals, seine Lieder auf „Sanglichkeit“ zu überprüfen. Marie trat zudem als eine der ersten Schubertinterpretinnen regelmäßig im musikalischen Salon des Juristen und Autors Ignatz Edler von Sonnleithner auf, wo unter anderem dessen Neffe Franz Grillparzer verkehrte.
Grillparzer wiederum unterzeichnete gemeinsam mit Rokitansky sowie mit über 90 Schriftstellern und Intellektuellen im März 1845 die sogenannte Schriftstellerpetition zur Lockerung des Zensurgesetzes. Darüber hinaus unterstützte er die liberalen Bestrebungen des Mediziners insbesondere in Hinblick auf dessen Forderungen nach den Konfessionsgesetzen.
Der Kreis zwischen Beethoven und der Familie Rokitansky schließt sich über Joseph Haydn. Der Anatom Franz Josef Gall versuchte in seiner Schädellehre Bezüge zwischen Schädelform, Charakter und geistiger Veranlagung von Menschen nachzuweisen. Dieser Forschungsansatz fand bald Nachahmer, unter anderem Josef Karl Rosenbaum, der die musikalische Genialität Haydns durch die Untersuchung dessen Schädels zu verifizieren und damit gleichzeitig Galls Theorie zu bestätigen versuchte. Dafür ließ er den Leichnam auf dem Hundsturmer Friedhof exhumieren und den Schädel abtrennen. Als Fürst Nikolaus Esterhazy 1820 anlässlich eines Besuches des Haydn-Verehrers Herzog von Cambridge sich seines Versprechens erinnerte Haydn gebührend in Eisenstadt beizusetzen, ließ er Haydn exhumieren, wodurch der Skandal aufgedeckt wurde und die Suche nach dem Schädel begann. Dieser wurde von einem Komplizen Rosenbaums versteckt und später an dessen Hausarzt ausgehändigt. Jener Karl Haller wiederum übergab den Schädel Rokitansky, der ihn im Pathologisch-Anatomischen Institut der Universität Wien verwahrte. Rokitanskys Nachfolger Hans Kundrath ließ den Schädel Hans Rokitansky zustellen. Dieser übergab ihn gemeinsam mit seinem Bruder 1895 der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde. 1954 konnte dann der Schädel mit den Gebeinen Haydns in der Kirche zu Oberberg-Eisenstadt zusammengeführt werden.
Literatur: Wurzbach; A. W. Thayer, Ludwig van Beethovens Leben 5, 1908, S. 490; O. E. Deutsch, Schubert, 1983, S. 220; H. Jesserer – H. Bankl, in: Laryngo-Rhino-Otologie 65, 1986, S. 592; P. Clive, Beethoven and his world, 2001, s. Reg.; H.-P. Zenner, in: Deutsches Ärzteblatt 99, 2002, S. 2762ff.; Carl Freiherr von Rokitansky 1804–78 …, ed. H. Rumpler – H. Denk, 2005, S. 22; F. Seebacher, Freiheit der Naturforschung! Carl Freiherr von Rokitansky und die Wiener medizinische Schule, 2006, S. 26; Stephan Zweig, Die Welt von Gestern, Neuaufl. 2009, S. 400; U. Rokitansky–Tilscher, in: Strukturen und Netzwerke, Medizin und Wissenschaft in Wien 1848–1955, ed. D. Angetter u. a., 2018, S. 331ff., 787ff.; B. Biwald, Ein Schädel sucht seinen Körper, AEIOU Österreich-Lexikon im Austria-Forum (Online, Zugriff 14. 3. 2017); H. Rokitansky, Aus meinem Leben, Manuskript II, o. J., Familienarchiv Rokitansky, Wien.
(Ursula Rokitansky-Tilscher – Daniela Angetter)