Rosa Zifferer: Philanthropin auf dem Weg zur Emanzipation

Unter den vielen Jüdinnen, die sich im 19. Jahrhundert in Vereinen engagierten, ragt eine besonders hervor: Rosa Zifferer, geborene Schüler. Die Ehefrau des Baumeisters Donat Zifferer leitete einen der größten jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereine Wiens, gründete eines der ersten Arbeiterinnen-Erholungsheime in Europa und wurde eine zentrale Figur im Wiener Wohlfahrtswesen.

Rosa Schüler wurde am 19. September 1851 in Paderborn in eine bürgerliche, jüdische Umgebung geboren. Ihr Vater Simon, Kaufmann aus Gesecke, entstammte der äußerst kinder- wie talentreichen Familie des Moses Schüler, von der uns ein wunderbar lebendiges Porträt überliefert ist: Die Dichterin Else Lasker-Schüler, eine Cousine von Rosa, beschreibt in mehreren Werken die gemeinsamen Vorfahren, die sich durch Bildung und Humor auszeichneten.

Familiengründung

Relativ bald nach Rosas Geburt zog die Familie nach Berlin. Nunmehr Bankier und Stadtverordneter, war der Vater in der Lage, seiner Tochter eine sehr großzügige Mitgift zu überlassen, als diese 1872 heiratete. Der Bräutigam war der aus Mähren stammende Donat Zifferer, Baumeister und Unternehmer in Wien, später Direktor der Leopoldstädter Baugesellschaft. Das Paar bezog ein schön gestaltetes Haus am heutigen Rooseveltplatz nahe der Votivkirche – eine Adresse, die hervorragend zum gutbürgerlichen Status der jungen Familie passte. Donat Zifferer entwickelte bald eine derart umfangreiche Bautätigkeit, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse sicherlich nichts zu wünschen übrigließen.

Das Paar bekam drei Kinder, Tochter Elisabeth (geb. 1874) sowie die Söhne Erwin (geb. 1876) und Hans (geb. 1883). Während die Tochter später den bekannten Architekten Ernst von Gotthilf-Miskolczy heiratete, der mit dem Vater gedeihlich zusammenarbeitete, wurde Erwin Apotheker, Sohn Hans Jurist. Die Apotheke des Sohnes in der Gudrunstraße, deren Arisierung der Enkel Rudolf Zifferer erleben musste, besteht sogar noch heute.

Sobald die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, suchte die tatkräftige Rosa Zifferer nach Wegen, den neuen Freiraum zu gestalten. Dabei ergänzte sich das Ehepaar Zifferer nahezu kongenial. Wie ihr Ehemann, der sich in vielfältiger und großzügiger Weise humanitär engagierte, so wandte sich auch seine Frau der Wohlfahrt zu. Ohne Wahlrecht, Studienmöglichkeit und meist auch Berufstätigkeit war der Gestaltungsspielraum bürgerlicher Frauen sehr beschränkt. Umso mehr interessierten sie sich für das nach 1848 aufkeimende Vereinswesen, das es ihnen erlaubte, eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Wohltätigkeit galt als zu Frauen passend, sie entsprach dem Bild der fürsorgenden Mütterlichkeit, sie spielte aber auch in der jüdischen Religion traditionell eine große Rolle. Außerdem bot sie einen Weg, sich bestens ins Stadtleben zu integrieren und gleichzeitig die jüdische Herkunft zu pflegen. So entstanden bis zum Krieg eine ganze Reihe jüdischer Frauenwohltätigkeitsvereine, und es scheint, dass „… jede junge, in besseren Verhältnissen lebende Frau, sobald sie einem Kind das Leben gegeben hatte, sich verpflichtet fühlte, dem ‚Frauenverein‘ als Mitglied beizutreten“, wie es in einem Vereinsbericht heißt.

Vereinsgründung

Als 1893 bei der Synagoge in der Müllnergasse im Bezirk Alsergrund ein jüdischer Frauenwohltätigkeitsverein unter dem Namen „Frauenhort“ entstand, fiel die Wahl für den Vorsitz auf Rosa Zifferer. Ihre Persönlichkeit, die laut Zeitgenossen Agitationskraft und Arbeitseifer mit Klugheit und Beredsamkeit verband, war eine Empfehlung. Zusammen mit ihrer Herkunft und der Ehe mit einer bekannten Wiener Persönlichkeit entsprach sie genau jener Elite, aus der sich der Vorstand solcher Vereine üblicherweise rekrutierte.

Anfänglich orientierte sich der Frauenhort an den Zielen traditioneller Wohltätigkeit, die hauptsächlich darauf abzielte, Leid durch kleine Geld- und Naturalspenden zu lindern, und geprägt war von bürgerlich-paternalistischen Vorstellungen von Armut. So überzeugten sich die Vorstandsdamen in unzähligen persönlichen Besuchen (bis zu tausend pro Jahr!) von der Unterstützungswürdigkeit der Armen, wobei ein gutes Schulzeugnis und ein Trauschein Bedingung waren. Bedacht wurden Wöchnerinnen, erwerbsunfähig Gewordene und Schulkinder jüdischen Glaubens, ursprünglich aus dem neunten Bezirk, doch schon bald auch aus dem übrigen Stadtgebiet. Im Gegensatz zu manch anderem Verein bemühte sich der Frauenhort allerdings, die Armen nicht zu beschämen, und verzichtete deshalb auf öffentliche Zuwendungen.

Unter der Ägide von Rosa Zifferer entwickelte der Verein ein höchst ausgefeiltes System an Spenden und Werbemaßnahmen und nahm an mehreren wichtigen Ausstellungen wie der berühmten Internationalen Hygiene Ausstellung in Dresden teil. So kam es, dass der Frauenhort zu einem der größten und erfolgreichsten jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereine wurde. Um 1910 hatte er über 800 Mitglieder, darunter viele mit Rang und Namen, welche auch heute noch bekannt sind, wie Elise Richter oder die Familie von Käthe Leichter. Wer sich allerdings hinter dem Spender „schöner Gustav“ verbarg, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Heimgründung

Bald erkannte der Vorstand, dass diese Form der Wohltätigkeit eher Almosencharakter hatte und längerfristig wenig bewirken konnte. Bereits vor 1900 war damit begonnen worden, Arbeiterinnen auf Erholungsurlaub in Kurorte wie Meran zu schicken. Nun sollte auch die Prävention in den Blick genommen werden. Die Einnahmen wurden, teils gegen öffentlich artikulierten Widerstand, zurückgelegt, bis der Frauenhort imstande war, ein Ferienhaus zu erwerben. Damit konnten fast 150 Frauen – nicht nur Arbeiterinnen, sondern aus allen Teilen der Gesellschaft – vier Wochen Erholung in schöner Umgebung finden. Der moderne Vorsorgegedanke hatte Einzug gehalten.

Am 6. Juni 1909 wurde das Kaiser Franz Josef-Arbeiterinnen-Erholungsheim in Sautern bei Seebenstein feierlich eröffnet. Die Villa in der heutigen Seebensteiner Straße 42 wurde vom Kaiser mit seinem Namen ausgezeichnet und galt als das erste Heim dieser Art in Europa. Folgerichtig erhielt Rosa Zifferer in Anerkennung ihrer Verdienste noch im selben Jahr den Kaiserin Elisabeth-Orden II. Klasse.

Frauenrechte

Zifferer zählte nun zu den bedeutendsten Philanthropinnen des jüdischen Wien und übernahm eine Reihe weiterer Funktionen: Sie war erste Vizepräsidentin des „Verbandes zur Unterstützung armer israelitischer Wöchnerinnen“, wurde ins Kuratorium der Zentralstelle für das jüdische Armenwesen gewählt und war externes Mitglied der Kommission für die Versorgungsanstalt der Israelitischen Kultusgemeinde. Gemeinsam mit ihrem Gatten setzte sie sich erfolgreich für die Zentralisierung der Wohlfahrt ein und trat auch privat als großzügige Spenderin in Erscheinung. Wie viele aus dem liberalen jüdischen Bürgertum verstand sie sich nicht nur als Jüdin, sondern als patriotische Bürgerin und war eine treue Anhängerin des Kaiserhauses.

Es passt ins Bild dieser aufgeschlossenen Frau, dass sie sich auch für Frauenfragen interessierte. Der Frauenhort befand sich unter den Gründungsvereinen des bürgerlichen Bundes österreichischer Frauenvereine, und Rosa Zifferer wurde in seine Finanzkommission gewählt. Unter den Unterzeichnerinnen eines Versammlungsaufrufs für das Wahlrecht von Frauen findet sich ihr Name ebenso wie unter den Mitgliedern eines Komitees für die Gründung eines Frauenclubs.

Als Rosa Zifferer am 4. Februar 1911 an den Folgen einer Operation starb, hinterließ sie ihrer Nachfolgerin im Amt, Regine Kopstein, ein wohlbestelltes Feld. Und so beschrieb ihr Wirken eine langjährige Wegbegleiterin, Clotilde Benedikt, wunderbar treffend: „Ich habe wohl zwei Frauen, Rosa Zifferer und Regine Kopstein, aber nie einen Mann gekannt, der in seiner Schöpfung so aufging …“.


Literatur: Illustrirtes Wiener Extrablatt, 15. 3. 1902; Die Zeit, 8. 12. 1905, 5. 2. 1911, 14. 11. 1912; Neues Wiener Journal, 4. 5. 1919; Dokumente der Frauen, 1900, Bd. 3, Nr. 2, S. 69f.; Blatt der Hausfrau 14, 1903, S. 824; XI. Jahresbericht des „Frauenhort“ …, 1904, S. 48; Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine 1, 1906, Nr. 5, S. 6, 6, 1911, Nr. 3, S. 2; XIV. Jahresbericht des „Frauenhort“, 1907, S. 8; Wiener Bilder 14, 1909, Nr. 25, S. 6, 15, 1910, Nr. 8, S. 7f. (mit Bild); Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift 28, 1911, S. 90f.; M. Friedrich, in: Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert, ed. B. Mazohl-Wallnig, 1995, S. 125ff.; E. Torggler, Jüdische Frauenwohltätigkeitsvereine in Wien von 1867–1914, phil. DA Wien, 1999, passim; S. Bauschinger, Else Lasker-Schüler, 2004, S. 8ff.; E. Torggler, in: Geschlecht, Religion und Engagement. Die jüdischen Frauenbewegungen im deutschsprachigen Raum, ed. M. Grandner – E. Saurer, 2005, S. 57ff.; R. Alison, Jewish Women in fin de siècle Vienna, 2008, S. 50; Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, ed. E. Adunka – G. Lamprecht – G. Traska, 2011, S. 9, 59, 62; R. Contreras, in: Eine versunkene Welt. Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt – Wechselland, ed. J. Hagenhofer u. a., 2. Auflage 2020, S. 187f.; E. Lasker-Schüler, Konzert, 2020, S. 145ff.; Israelitische Kultusgemeinde, Wiener Stadt- und Landesarchiv, beide Wien, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abt. Ostwestfalen-Lippe, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, alle Deutschland.

(Elisabet Torggler)

Für das Bildmaterial bedanken wir uns bei der Autorin, bei Heinz Radinger sowie beim Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.