GEDENKBUCH

für die Opfer des Nationalsozialismus
an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Fassade und Siegel der Akademie der Wissenschaften. Bild: ÖNB-Bildarchiv, Sign. L 32.608-C bzw. Siegelsammlung des Archivs der ÖAW

Karl Bühler, 1934 kMI, 1938 kMA


geb. am 27. Mai 1879 in Meckesheim bei Heidelberg, gest. am 24. Oktober 1963 in Los Angeles (CA, USA)

Karl Bühler wurde 1934 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI) der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde er inhaftiert. Nach seiner Emigration 1938 wurde der Psychologe als korrespondierendes Mitglied im Ausland (kMA) geführt. 1940 wurde er aus der Akademie ausgeschlossen, 1945 wurde seine Akademiemitgliedschaft reaktiviert.

Karl Bühler wurde als Sohn des Eisenbahnangestellten Ludwig Bühler und seiner Frau Bertha, geb. Emmerich, in Meckesheim bei Heidelberg geboren. 1899 nahm er das Studium der Medizin an der Universität Freiburg auf, wo er im Jahr 1903 promovierte. Im Jahr 1904 promovierte er in Philosophie an der Universität Straßburg mit seiner Dissertation „Studien über Henry Home“. Ab 1903 arbeitete er als Assistent am Psychologischen Institut der Universität Freiburg. 1906 wurde er Assistent von Oswald Kulpe (1862–1915) am Psychologischen Institut der Universität Würzburg, er habilitierte sich im Jahr 1907 und folgte Kulpe 1909 an die Universität Bonn. 1913 ernannte ihn die Universität München zum ao. Professor der Psychologie.

1918 wurde Karl Bühler als o. Professor für Psychologie an die Technische Hochschule in Dresden, 1922 als o. Professor für Philosophie an die Universität Wien berufen. Hier wirkte er am Aufbau des Psychologischen Instituts der Universität sowie des neu gegründeten Psychologischen Instituts der Gemeinde Wien mit, das dem Pädagogischen Institut der Gemeinde Wien angeschlossen war. Während dieser Tätigkeit absolvierte er Gastprofessuren an der Stanford, Johns Hopkins und Harvard University (1927 bis 1928) und an der University von Chicago (1929). 1929 war er Präsident der Deutschen Psychologischen Gesellschaft. 1931 wurde er erster Präsident der „Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“, die von Paul Lazarsfeld (1901–1976) geleitet wurde und wo die berühmte Marienthal-Studie entstand. Bühlers Ehefrau, die habilitierte Psychologin Charlotte Bühler (1893–1974), geb. Malachowski, begründete am Psychologischen Institut der Gemeinde Wien eine kinder- und jugendpsychologische Abteilung.

Karl Bühler wurde nach dem „Anschluss“ als Gegner des Nationalsozialismus eingestuft und von 23. März bis 7. Mai 1938 aus politischen Gründen inhaftiert. Von der Universität Wien wurde er Ende Mai des selben Jahres zwangspensioniert. Seine Frau Charlotte, die jüdischer Herkunft war, hielt sich im März 1938 im Ausland auf und kam nicht mehr nach Wien zurück. Karl Bühler gelang es, im Oktober dieses Jahres mit den beiden Kindern Ingeborg (geb. 1917) und Rolf (1919–1984) nach Norwegen zu emigrieren, wo er eine Gastprofessur an der Universität von Oslo erhielt. Karl Bühler emigrierte 1939 von Norwegen in die USA, seine Frau im Jahr darauf. 1939 bis 1940 war Karl Bühler Professor für Psychologie am College of St. Scholastica in Duluth (MN). Von 1940 bis 1945 wirkte er am College of St. Thomas in St. Paul (MN). Dazwischen lehrte er vorübergehend an der Clark University in Worcester (MA). 1945 übersiedelte er nach Los Angeles, wo er bis 1963 eine Privatpraxis betrieb. Zugleich war er Assistant Clinical Professor of Psychiatry an der Medical School der University of Southern California, Los Angeles und bis 1963 Consulting Psychologist am Cedars of Lebanon Hospital in Los Angeles. Karl Bühler verstarb im Jahr 1963 in Los Angeles.

Die Akademie der Wissenschaften wählte Bühler im Jahr 1934 zum korrespondierenden Mitglied im Inland (kMI), 1938 in eine korrespondierende Mitgliedschaft im Ausland (kMA) umgewidmet. Im Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 3. Oktober 1940 wurde der Akademie der Wissenschaften mitgeteilt, dass Karl Bühler und weitere sechs namentlich genannte Mitglieder – Walther Brecht, Franz Boas, Viktor Franz Hess, Alfred Hettner, Hermann Mark, Erwin Schrödinger – auszuscheiden seien. Nachdem sie in ihrer ersten Sitzung nach Kriegsende am 18. Mai 1945 die „Rückberufung der wirklichen und korrespondierenden Mitglieder, die im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen des Jahres 1938 ausgetreten sind“, beschlossen hatte, kehrte Bühler wieder als korrespondierendes Mitglied im Ausland (kMA) an die Akademie zurück.

Karl Bühler leistete grundlegende Forschungsarbeiten auf den Gebieten der Denkpsychologie, der Gestaltwahrnehmung, der Sprach- bzw. Ausdruckspsychologie sowie der Kinderpsychologie. Unter anderem wurde ihm im Jahr 1962 der Preis der Stadt Wien verliehen. 1960 wurde der Psychologe mit der Wundt-Plakette der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP) ausgezeichnet. Die DGP vergibt den Charlotte- und Karl-Bühler-Preis an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Nach den beiden Forschern ist eines der „Tore der Erinnerung“ am Campus der Universität Wien benannt.


Schriften (Auswahl)


  • Karl Bühler, Duplizitätstheorie der Farbenwahrnehmung (nach Helmholtz und von Kries), Dissertation, Universität Freiburg 1903.
  • Ders., Der Einfluß niederer Temperaturen auf die Funktion der Froschnerven, Dissertation, Straßburg 1904.
  • Ders., Gestaltwahrnehmung. Experimentelle Untersuchungen, Stuttgart 1913.
  • Ders., Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1918.
  • Ders., Die Krise der Psychologie, Jena 1927.
  • Ders., Ausdruckspsychologie, 1934.
  • Ders., Die Zukunft der Psychologie und die Schule, Wien 1936.


Quellen und Literatur (Auswahl)


    • Archiv der ÖAW, Personalakt.
    • Archiv der ÖAW, Protokoll der Gesamtsitzung am 25. Oktober 1940 (A957).
    • Archiv der ÖAW, Protokoll der Gesamtsitzung am 18. Mai 1945 (A994).
    • Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, University of Oxford (File 343/11).
    • Mitchell G. Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Mitchell Ash – Josef Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 2), Göttingen 2015, 29–172, hier: 74, 85, 88, 89, 105, 107, 111, 115, 127.
    • Gerhard Benetka – Thomas Slunecko, Desorientierung und Reorientierung – Zum Werden des Faches Psychologie in Wien, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 267–280.
    • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, Bd. 2: The Arts, Sciences, and Literature, München [u.a.] 1983, 169.
    • Hans Joachim Dahms – Friedrich Stadler, Die Philosophie an der Universität Wien von 1848 bis zur Gegenwart, in: Katharina Kniefacz – Elisabeth Nemeth – Herbert Posch – Friedrich Stadler (Hg.), Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert, Göttingen 2015 (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 1), 77–131, hier: 78, 91, 93–95, 97, 99, 104, 107, 110, 107, 112–114, 123, 125.
    • Achim Eschbach, Karl Bühler. Bericht über sein Wirken an der Universität Wien 1922–1938, in: Dietrich Albert (Hg.), Bericht über den 34. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Wien 1984, Göttingen 1985, 80–88.
    • Achim Eschbach, Gabi Willenberg, Karl Bühler, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft (Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 2), Münster 22004, 297–305.
    • Johannes Feichtinger, Die verletzte Autonomie. Wissenschaft und ihre Struktur in Wien 1848 bis 1938, in: Katharina Kniefacz – Elisabeth Nemeth – Herbert Posch – Friedrich Stadler (Hg.), Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert, Göttingen 2015 (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 1), 259–292, hier: 88–290.
    • Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945 (= Campus-Forschung 816), Frankfurt am Main–New York 2001, 25, 33, 127, 151, 172, 345, 369–372.
    • Christian Fleck, Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933, Frankfurt–New York 2015, 241–243, 305–307, 337–339, 343, 349, 356.
    • Herbert Matis, Ausschluss von Mitgliedern, in: Johannes Feichtinger – Herbert Matis – Stefan Sienell – Heidemarie Uhl (Hg.), Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945. Katalog zur Ausstellung, Wien 2013, 55–62.
    • Hubert Rohracher, k.M. Karl Bühler, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Almanach f. d. J. 1964, 114. Jg., Wien 1965, 321–330.
    • Friedrich Stadler, Philosophie – Konturen eines Faches an der Universität Wien im langen 20. Jahrhundert, in: Karl Anton Fröschl – Gerd B. Müller – Thomas Olechowski – Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innensichten aus der Universität. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik (= 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert 4), Göttingen 2015, 471–488, hier: 473–475.
    • Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, 112, 113, 189, 211, 215, 219, 250, 254, 257.


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