Literarische Diagnosen zu Psyche und Politik: Arthur Schnitzler

Geboren in Wien, als Wiener Autor berühmt geworden, gestorben in Wien: Ein anscheinend stabiler, folgerichtiger Lebenslauf erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Vita der Widersprüche und Diskontinuitäten, als ein Beispiel „modernen“ Daseins. Auf den 15. Mai 2022 fällt Arthur Schnitzlers 160. Geburtstag. Seine Stimme, aufgenommen 1907 im Phonogrammarchiv der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, ist hier zu hören.

Medizin und Poesie

1862 wurde Arthur Schnitzler als Sohn eines prominenten Vaters geboren, der eine gründerzeitliche Karriere hinter sich hatte: Im ungarischen Groß-Kanizsa als Sohn eines Tischlers geboren, verdiente sich Johann Schnitzler (1835–1893) sein Medizinstudium als Hauslehrer, stieg zum Universitätsdozenten auf und heiratete 1861 in eine bekannte Wiener Arztfamilie ein. 1880 übernahm er die Leitung der von ihm mitbegründeten Wiener Allgemeinen Poliklinik. Zu seinem Patientenkreis – er war Spezialist für Kehlkopfkrankheiten – zählten Schauspieler und Sänger. Dass sein ältester Sohn in seine Fußstapfen treten sollte, war für den Selfmademan ausgemacht; nicht so für Arthur Schnitzler selbst.

Ab 1871 – zuvor war er von Hauslehrern unterrichtet worden – besuchte er das Akademische Gymnasium, als guter, aber nicht hervorragender Schüler. Wie aus seinem ab 1879 erhaltenen Tagebuch hervorgeht, galt sein Interesse – neben der Liebe – vor allem der Kunst. Im dann doch schließlich wie selbstverständlich aufgenommenen Medizinstudium fühlte er sich „versplittert “, hin- und hergerissen zwischen Wissenschaft und Poesie. Nach der Promotion 1885, als Assistent seines Vaters und als Redakteur von dessen „Internationaler Klinischer Rundschau“, verschärfte sich der Konflikt zwischen der väterlicher Dominanz und den eigenen Neigungen noch, zumal Schnitzler junior ab 1889 erste Beiträge in der Familienzeitschrift „An der Schönen Blauen Donau“ publizierte. 1890 fand dann, unter Mithilfe des unermüdlichen Publizisten Hermann Bahr, eine lockere Gruppierung von Autoren zusammen – neben Schnitzler der gerade sechzehnjährige Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Felix Salten und andere –, die als Jung Wien in Konkurrenz zum Berliner Naturalismus traten. Aber erst 1893, nach dem Tod seines Vaters, hat sich Schnitzler endgültig für eine Schriftstellerlaufbahn entschieden.

Dramaturgie der Seele

Schon Ende 1892 – vordatiert aufs Folgejahr – war ein Einakter-Zyklus erschienen, der als typisch für Schnitzlers Frühwerk gelten sollte: eine lose Episodenreihe um den Lebemann Anatol und dessen zahlreiche Affären. Schnitzlers turbulentes Privatleben in diesen Jahren hat freilich dazu beigetragen, den Habitus der Figur auf ihren Autor zurückzuführen, der in seinem Tagebuch Dutzende rascher Liebschaften verzeichnete. Zwei in den 1880er-Jahren begonnene Beziehungen waren hingegen prägend, auch für seine Werke: die zu Olga Waissnix, der Frau eines niederösterreichischen Hoteliers, die an Schnitzlers Berufung zum Schriftsteller glaubte, und jene zur Schauspielerin Marie Glümer, deren Züge er manchen seiner späteren Protagonistinnen gegeben hat. Denn obwohl er selbst die männlichen Privilegien seiner Zeit durchaus in Anspruch nahm und, bei eigener sexueller Freizügigkeit, etwa auf einen Treubruch  „Mizi“ Glümers als hemmungsloser Wüterich reagierte, haben seine Texte die geschlechtsspezifischen Asymmetrien in eroticis durchaus kritisch reflektiert. Schon Anatols libidinöser Narzissmus wird ironisch gezeichnet. Das Schauspiel aber, mit dem Schnitzler 1895 eine Annahme am Wiener Hofburgtheater und damit der Durchbruch als Dramatiker gelang, „Liebelei“  nämlich, führte außerdem ein charakteristisches soziales Gefälle ein, das zwischen den privilegierten Söhnen der Bourgeoisie und ihren anspruchslosen kleinbürgerlichen Geliebten. In der Zeit- und Sozialkritik blieb Schnitzlers Werk den Anliegen des Naturalismus verpflichtet.

Darüber hinaus zogen vor allem Schnitzlers Prosatexte durch profunde Einsichten in seelische Mechanismen die Aufmerksamkeit auf sich. Als Erzähler reüssierte er, ebenfalls 1895, mit der Novelle „Sterben“ , die beim renommierten S. Fischer Verlag in Berlin erschien (mit Samuel Fischer hatte Schnitzler auch den Verleger seines Lebenswerks gefunden). Die dialektische Zuspitzung der Affekte eines Todkranken und seiner Gefährtin zeigte  eine tiefenpsychologische Subtilität, die – viele Jahre später – auch Sigmund Freud an Schnitzler rühmen sollte.

Karriere und Krisen

In der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre nahm Schnitzlers Laufbahn einen steilen Aufschwung, der zunächst 1899 in der Verleihung des Bauernfeldpreises gipfelte. Im selben Jahr aber starb zu seiner tiefen Erschütterung Marie Reinhard, die sein Leben vier Jahre lang geteilt hatte und Mutter seines 1897 tot geborenen Sohnes gewesen war; ein Gefühl der persönlichen Vereinsamung sollte Schnitzler, trotz aller Popularität, lebenslang begleiten.

Öffentlich gab es, neben den schriftstellerischen Erfolgen, um sein Werk immer wieder Kontroversen: Mit dem am Abend der französischen Revolution spielenden Einakter „Der grüne Kakadu“ (1899) zog er sich den Unwillen des Hofes zu, die satirische Monolognovelle „Lieutenant Gustl“ (1900) brachte ihm wütende Attacken der völkisch-nationalen und militaristischen Presse ein. In diese Kampagne mischten sich deutlich antisemitische Töne – Angriffe dieser Art setzten sich in den kommenden Jahrzehnten immer vehementer fort. Im Roman „Der Weg ins Freie“ (1908) sollte Schnitzler dann ein Spektrum jüdischen Verhaltens unter den Bedingungen eines zunehmend aggressiver werdenden Judenhasses charakterisieren.

Dennoch stieg Schnitzler in den nächsten Jahren zum international bekanntesten österreichischen Schriftsteller auf. Mit dem Künstlerdrama „Der einsame Weg“ (1904) fällte Schnitzler ein endgültiges Urteil über den egoistisch-bindungslosen Typus Mann, der kulturkritisch später als „impressionistischer Mensch“ klassifiziert werden sollte. Für die Komödie „Zwischenspiel“ (1905) erhielt Schnitzler 1908 den renommierten Grillparzerpreis der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Das Gesellschaftsstück „Das weite Land“ schließlich wurde 1911 von neun großen Bühnen des deutschen Sprachraums gleichzeitig uraufgeführt; Schnitzlers Berliner Regisseur Otto Brahm, mit dem ihn eine von gegenseitiger (Selbst-)Ironie erhellte Freundschaft verband, nannte es einen „Höhepunkt“ in Schnitzlers Schaffen. Und 1912 feierten nicht nur die Theater Schnitzlers 50. Geburtstag; bei S. Fischer erschien eine siebenbändige Gesamtausgabe, und zu seinen „schönen und ernsten poetischen Schöpfungen“ gratulierte niemand Geringerer als Sigmund Freud.

Solche Anerkennung traf zusammen mit scheinbar ungetrübtem privatem Glück: Schnitzler war Familienvater (und Hausbesitzer) geworden. 1902 kam – noch unehelich – sein Sohn Heinrich auf die Welt. Mit dessen Mutter, der Gesangs- und Schauspielschülerin Olga Gussmann, verband Schnitzler seit 1900 eine Liebesbeziehung. 1903 wurde die Ehe geschlossen; 1909 kam die Tochter Lili zur Welt. Im Jahr darauf übersiedelte man in das Haus Sternwartestraße 71, das Schnitzler bis zu seinem Lebensende bewohnte.

Allerdings legt sein Tagebuch Zeugnis davon ab, dass auch diese Jahre nicht sorgenfrei waren. Schon seit Herbst 1896 litt Schnitzler an Otosklerose, einer Verknöcherung des Innenohrs, was zu Schwerhörigkeit und quälenden Ohrgeräuschen führte. Nicht nur die Theaterbesuche litten darunter, auch Schnitzlers Liebe zur Musik – er pflegte regelmäßig das Klavierspiel – wurde beeinträchtigt. In Gesellschaft fühlte er sich durch sein Leiden isoliert; in Zusammenhang damit stehen auch die häufigen Klagen über das Gefühl der Vereinsamung. Tatsächlich verlor Schnitzler Freunde, sowohl im übertragenen Sinn als auch buchstäblich: Das Verhältnis zu Hugo von Hofmannsthal etwa wurde dadurch getrübt, dass dieser deutliche Distanz zu den jüdischen seiner Vorfahren nahm – was Schnitzler „Snobismus“ nannte. Ins Jahr 1911 fiel der Tod seiner Mutter Louise Markbreiter, die in ihrer völligen Unterordnung unter zuerst den Gatten, dann die Familie in Schnitzlers Aufzeichnungen bislang nur eine schattenhafte Rolle gespielt hatte; die tiefe Bindung an sie wird erst nachträglich sichtbar. 1912 starb der unverbrüchlich treue Otto Brahm, und zwar während der Berliner Premiere der „Komödie“ „Professor Bernhardi“, die in Österreich verboten war: In diesem Stück wird mit bestechender Klarsicht eine Intrige gegen einen jüdischen Spitaldirektor geschildert, die sich ins Politische ausweitet. Nicht nur gibt es brisante Einblicke in zeitgenössische Verhältnisse; mit der kompromisslosen Darstellung von Opportunismus und Populismus antizipiert es auch späteres – und heutiges – staatliches Elend.

Krieg und Katastrophen

Im Sommer 1914 urlaubte die Familie Schnitzler in der Schweiz und wurde dort von den Kriegsnachrichten erreicht. Das Bewusstsein, einen Epochenbruch zu erleben, hatte Schnitzler sofort. Wiewohl er zumindest anfangs kein radikaler Kriegsgegner war, hat er sich im Gegensatz zu vielen Schriftstellerkollegen zur Propaganda nicht hergegeben. Der Verlauf des Krieges überzeugte ihn dann gänzlich von dessen Bestialität; in vielen postum veröffentlichten Notizen, „Und einmal wird der Friede wiederkommen“ (1939 im Bermann-Fischer Verlag, Stockholm erschienen), äußerte er Verzweiflung und Fassungslosigkeit gegenüber der kollektiven Phantasielosigkeit, die sich unter dem Wort „Krieg“ verbarg, dessen Inhalt – „Mord, Verstümmelung, Raub, Plünderung, Seuche, Blindheit, Läuse, Vergiftung, lebendiges Verbrennen, Ersticken, Verdursten“ – er sich nicht vorstellen konnte. 1915 begann er sich mit seiner Autobiographie zu beschäftigen, die Fragment blieb und erst 1968 unter dem Titel „Jugend in Wien“ erschien. Öffentliche, antisemitisch grundierte Ausfälle gegen den „Erotiker“ Schnitzler, der der „stählernen“ Kriegszeit nicht gewachsen sei, nahmen zu. Der Proklamation der Republik im November 1918 stand Schnitzler dann skeptisch gegenüber; politisch votierte er fortan für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, weil er sich von einem Regime der Christlich-Sozialen – zu Recht – nichts Gutes versprach.

In der Tat führte 1921 die Inszenierung des schon 1896/97 entstandenen Einakter-Zyklus „Reigen“– eine ironische Darstellung der Liebes-Rhetorik vor und nach dem Geschlechtsakt, und zwar quer durch die sozialen Schichten – zu einem spektakulären Theaterskandal: Der spätere Bundeskanzler Ignaz Seipel trat persönlich gegen das „Schmutzstück“ auf, drei Tage später wurde die Aufführung gestürmt. In Berlin, wo der Zyklus schon Ende 1920 uraufgeführt worden war, kam es zu einem Prozess gegen Theaterleiter und Schauspieler. Fortan spaltete sich die Rezeption Schnitzlers: Einerseits galt er, vor allem in der Gegenüberstellung zur nachrückenden Generation der Expressionisten, als veralteter Repräsentant der zu Ende gegangenen Monarchie – wenn man ihn nicht gleich der jüdisch-dekadenten Amoral bezichtigte; andererseits wurde vor allem sein erzählerisches Spätwerk – etwa die Novellen „Fräulein Else“ (1924) und „Spiel im Morgengrauen“ (1927) oder der Roman „Therese“ (1928) – als Meisterstücke von triftiger Psychologie und scharfer Milieubeobachtung gewürdigt. Vor allem die internationale Rezeption hielt an und bediente sich auch neuer Medien: So wurde „Spiel im Morgengrauen“ 1931 von Metro-Goldwyn-Mayer als erster Schnitzler-Tonfilm gedreht.

In die Zwischenkriegszeit fielen eine Reihe privater Katastrophen: 1921 wurde Schnitzlers Ehe, die schon länger durch aufreibende Krisen zermürbt war, offiziell geschieden. Seine Tochter, seit 1927 mit einem Offizier der italienischen faschistischen Miliz verheiratet, starb 1928 an den Folgen einer Schussverletzung, die sie sich nach einem Streit mit ihrem Mann zugefügt hatte. Den Verlust des sehr geliebten Kindes hat Schnitzler nicht mehr überwunden. Während die langjährige Beziehung zu Clara Katharina Pollaczek für beide unbefriedigend verlief, fasste Schnitzler eine letzte tiefe Zuneigung für seine – verheiratete – französische Übersetzerin Suzanne Clauser. Am 21. Oktober 1931 ist Schnitzler – vermutlich an einem Gehirnschlag – gestorben; er wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Die Katastrophe des „Dritten Reiches“, das seine Werke umgehend auf die „Schwarzen Listen“ setzte und verbrannte, musste er nicht mehr miterleben.


Weitere Werke (siehe auch Projekt Gutenberg-DE, online, Zugriff 21. 4. 2022): Tagebuch 1879–1931. Unter Mitwirkung von P. M. Braunwarth u. a., hrsg. von der Kommission für Literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 10 Bde., 1981ff.; Arthur Schnitzler: Dramen und Erzählungen, ed.  H. Kim, 2007; Arthur Schnitzler: Tagebuch. Digitale Edition (Zugriff 21. 4. 2022); Arthur Schnitzler digital. Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931) (Zugriff 21. 4. 2022); Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren 1888–1931 (online, Zugriff 21. 4. 2022); Werke (online, Zugriff 21. 4. 2022); Werke in historisch-kritischen Ausgaben, ed. K. Fliedl (online, Zugriff 21. 4. 2022).


Literatur: NFP, 22. 10. 1931NDBÖBL; P. de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, 1970, s. Reg.; R. Urbach, Schnitzler-Kommentar, 1974; A. Pfoser u. a., Schnitzlers Reigen: zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte 1, 1993; U. Weinzierl, Arthur Schnitzler: Lieben, Träumen, Sterben, 1994; I. Nawrocka, Verlagssitz Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933–1950), in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 53, 2000, s. Reg.; K. Fliedl, Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert, 2003; K. Fliedl, Arthur Schnitzler, 2005; N. Beier, „Vor allem bin ich ich …“. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk, 2008; Projekt Gutenberg-DE (online, Zugriff 21. 4. 2022).

Tondokumente: Gespräch zwischen Alexander Lernet-Holenia und Friedrich Torberg … u. a. über … Arthur Schnitzler, Sammlung Radio Mitschnitte der Österreichischen Mediathek, 1957; Heinrich Schnitzler liest aus den Tagebüchern von Arthur Schnitzler, Österreichische Gesellschaft für Literatur, 1975; Von Tag zu Tag – Die 50. Wiederkehr von Todestag Arthur Schnitzlers. Renate Wagner im Gespräch mit Heinrich Schnitzler, Österreichische Mediathek, 1981; Tondokumente aus dem Phonogrammarchiv. Historische Stimmen aus Wien 4. Arthur Schnitzler und Schriftsteller seiner Zeit, ausgewählt und kommentiert von Peter Michael Braunwarth, OEAW PHA CD 4, 1997; Stimmporträts, kommentiert von P. M. Braunwarth u. a., OEAW PHA CD 8, 1999.

Filmdokumente: Arthur Schnitzler in Stockholm, 18. Mai 1923; Das Porträt Arthur Schnitzler, WDR, 1969; Arthur Schnitzler – Vom Dichter der Moderne zum Weltautor, Arthur Schnitzler-Archiv Freiburg, 2021.
 

(Konstanze Fliedl)

Wir danken für die kostenlose Bereitstellung von Bildmaterial dem Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien) sowie der Tonaufnahmen Arthur Schnitzlers dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.