FERNE NIRGENDS UND ÜBERALL – Hertha Kräftner

Zum 70. Todestag der Schriftstellerin am 13. November

Erster Schnee

Do 13 11:

Träumte von einem Zimmer, wo Hertha Kräftner begraben lag. Jemand hatte über dem Grab ein surrealistisches Bild angebracht.

Früh noch etwas Zeit gehabt.

Erster Schnee fiel.

(Aus dem Tagebuch von Andreas Okopenko. Eintrag vom 13. November 1952, dem ersten Jahrestag von Hertha Kräftners Tod)

Zu viele Gedanken stürzen auf mich los

Hertha Kräftner wurde am 26. April 1928 in Wien geboren. Ihr Vater Viktor und ihre Mutter Rosa zogen bald darauf von Wien zunächst ins mittelburgenländische Neutal, 1937 übersiedelte die Familie nach Mattersburg. Im Jahr 1940 kam ihr Bruder Günter zur Welt. Hertha Kräftner ging in Mattersburg zur Schule und maturierte 1946 am dortigen Realgymnasium. In der ausnahmslos von ihr selbst gestalteten Maturazeitung kam bereits früh ihr schriftstellerisches Talent zum Ausdruck. Erste Tagebucheinträge und Gedichte entstanden zu dieser Zeit. Sie zeugen von der reichhaltigen Imaginationskraft des Mädchens und einer schon früh ausgeprägten Sprachsensitivität. Ich möchte immerfort Gedichte schreiben, aber zu viele Gedanken stürzen auf mich los, lautet ihr erstes überliefertes Selbstzeugnis.

Ein Jahr vor ihrem Schulabschluss, im September 1945, starb der Vater an den schweren Verletzungen, die ihm Monate zuvor ein in das Haus der Familie eingedrungener Soldat der Roten Armee zugefügt hatte. Das Sterben des Vaters sollte die Dichterin zeitlebens verfolgen. Immer wieder beschrieb sie in ihrem Werk Visionen vom Auftauchen des toten Vaters: Aber dafür werden immer im Herbst die Toten so unruhig, / und da kommt an manchen Abenden / mich mein Vater besuchen / und trägt einen blauen wollenen Schal (Die Eltern im Herbst, November 1950).

Bald nach der Matura übersiedelte Hertha Kräftner nach Wien zu ihrer Tante, bei der sie bis zu ihrem Tod wohnte. Sie begann ein Studium und fing an, sich mit Lyrik und da besonders intensiv mit Rilke auseinanderzusetzen. Viele ihrer Gedichte sind Zugeständnisse an die Symbolkraft der Rilke’schen Poesie, wovon auch ihre literarische Hinwendung zum Engelsmotiv zeugt, beispielsweise im Litaneien-Zyklus (1950). Augenfällig scheint zudem der Einfluss Georg Trakls auf Motivik und Stimmung ihrer Lyrik. Gedichte wie Oktober (1950) oder Freitag (1951) zeigen deutliche Spuren des expressionistischen Dichters, nicht zuletzt in Hinblick auf die poetische Auseinandersetzung mit Tod, Verfall, Wahnsinn, dem Religiösen und dem Dunkel-Geschlechtlichen.

Hertha Kräftner lernte 1947 den Bibliothekar Otto Hirss kennen, den sie in Briefen ‚Anatol‘ nannte. Mit Hirss blieb sie bis an ihr Lebensende in einer Beziehung verbunden, die sich als fortwährende emotionale Zerreißprobe herausstellen sollte. Sie wurde zu einer obsessiv Liebenden. Immer häufiger war in Hertha Kräftners Selbstzeugnissen von psychischen Krisen die Rede; sie bezeichnete sich selbst wiederholt als krank, depressiv und neurotisch.

1948 nahm Hertha Kräftner in Wien ein Studium der Philosophie und Psychologie auf und interessierte sich in besonderem Maße für Vorlesungen über Psychiatrie. Gleichzeitig begann sie, als Dichterin auch verstärkt öffentlich in Erscheinung zu treten. Unterstützt von Hermann Hakel und Hans Weigel, die als zwei der wichtigsten literarischen Agenten dieser Zeit auftraten, konnte sie einige ihrer Gedichte und Prosastücke in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichen. Zur ersten Publikation verhalf ihr Hermann Hakel, der für den österreichischen P.E.N.-Club  um die Nachwuchsförderung in der schwierigen Zeit nach dem 2. Weltkrieg bemüht war. Ihr Gedicht Einem Straßengeiger fand Eingang in den 1. Jahrgang (1948/49) der von Hakel herausgegebenen Zeitschrift Lynkeus. Es sollten weitere Veröffentlichungen folgen, unter anderem im Wort in der Zeit und in den Stimmen der Gegenwart. Die Neuen Wege, die Publikation des Theaters der Jugend, druckte Hertha Kräftners während einer Parisreise im September 1950 entstandene Skizze Pariser Tagebuch, für die ihr im Sommer 1951 der erste Prosapreis der Zeitschrift zuerkannt wurde.

Hübsch und gutgewachsen

Der Kontakt zu Hermann Hakel war 1948 entstanden. Hakel gab noch Jahre später an, sie bei den ersten persönlichen Begegnungen als „eine besonders hübsche, gutgewachsene zwanzigjährige Studentin“ wahrgenommen zu haben – hinter diesen Eindruck trat die Wertschätzung ihres schriftstellerischen Talents und ihres Werkes zunächst zurück. Im Winter 1948/49 wurde Hans Weigel auf die Kräftner aufmerksam. Die Konkurrenten Weigel und Hakel buhlten in der Trümmerphase der Nachkriegsjahre um junge Talente, die das vorherrschende Vakuum mit historisch möglichst unbelasteter Literatur füllen sollten. Weigel, der im Café Raimund einen literarischen Zirkel um sich versammelt hatte, wollte Hertha Kräftner überzeugen, einen Roman zu verfassen; das Projekt misslang. Später sollte er eine Gedenkrede auf Hertha Kräftner formulieren – In memoriam Hertha Kräftner erschien nach ihrem Tod unter anderem in den Zeitschriften Wort in der Zeit und Protokolle.

Den Kontakt zu Weigel hatte Viktor Frankl hergestellt, der Logotherapeut und Psychiater, den die Studentin Hertha Kräftner bei Vorlesungen am psychologischen Institut kennengelernt hatte. Literarisch verehrte sie den um 25 Jahre älteren Frankl symbolistisch verschlüsselt in ihrer Prosa Beschwörung eines Engels als Gabriel Lion. Unter diesem Pseudonym hatte Frankl einige Jahre zuvor in der Kulturzeitschrift Der Brenner eine dramatische Parabel Synchronisation in Birkenwald veröffentlicht. In Kräftners Beschwörung (1950) verschmolz sie die Gestalt, die sie im Text mit Gabriel Lion anrief, mit dem Wesen des Erzengels Gabriel. Der Engel symbolisierte für Kräftner sowohl ein Reinheitsideal der metaphysischen Hinwendung als auch die Sehnsucht nach Hingabe, Verschmelzung und emotionalem Halt. Die dichte Prosa zeugt vom poetischen Ringen zwischen Nähe und Distanz: Ich weiß nicht, was Ferne ist. Manchmal spüre ich sie nirgends, manchmal überall.

In einem 1949 verfassten, später überarbeiteten Prosatext mit dem Titel Der Kopf hatte Hertha Kräftner die surreale Erfahrung des Kopfverlusts im physischen Sinn mit eindrücklichen Bildern beschrieben. Aber was immer sie versuchte, sie passte nicht zu ihrem Kopf. Das Motiv könnte zum einen auf die von Depressiven oft wahrgenommene Spaltung von Kopf und Körper verweisen, zum anderen aber auch als Ausdruck einer auf ihr körperliches Erscheinungsbild reduzierten, also „kopflosen“ Frau in einer vom männlichen Blick dominierten Welt gelten. Der gleichnishafte Text weist offenkundige Anklänge an Kafka auf, über den Hertha Kräftner 1950 eine Dissertation zu verfassen begann: „Die Stilprinzipien des Surrealismus, nachgewiesen an Franz Kafka.“ Diese Arbeit wurde nie abgeschlossen.

Es geht mir sogar herrlich

Hertha Kräftner wurde nur 23 Jahre alt und hinterließ ein überschaubares literarisches Werk, das bis heute keine breite Leserschaft gefunden hat. In Anthologien kamen ihre Texte selten vor, in Buchform versammelt erschienen sie erst Jahre nach ihrem Tod. Wenn von Hertha Kräftner die Rede war, so geschah dies lange Zeit in Zusammenhang mit ihrem Freitod im Jahre 1951.

Hans Weigel bezeichnete Hertha Kräftner einmal als eine Selbstmörderin auf Urlaub. Tatsächlich trägt ein 1950 entstandener Prosatext den Titel: Wenn ich mich getötet haben werde. Darin nahm sie die Reaktion der Nachwelt auf ihren Selbstmord schon als Gedankenspiel, nicht ohne eine gewisse Koketterie, vorweg. Als noch vordergründiger erwies sich das Thema in einer längeren autofiktionalen Prosa, den Notizen zu einem Roman in Ich-Form, an dem sie bis kurz vor ihrem Lebensende schrieb.

Im August 1951 hielt Hertha Kräftner sich in Salzburg auf. Es geht mir sehr gut. Es geht mir sogar herrlich, schrieb sie von dort an ‚Anatol‘, da gehörte die umkämpfte Liebesbeziehung bereits der Vergangenheit an. Noch im Herbst lernte sie am Institut für Psychologie den dortigen Assistenten und späteren Fotografen und Journalisten Wolfgang Kudrnofsky kennen, mit dem sie in den letzten Wochen ihres Lebens eine Verbindung einging. Am 13. November 1951 starb sie in Wien an einer Überdosis Veronal.

Ein Kalender voll Gift und Liebe

Hertha Kräftner hatte ihren Tod Wochen in Vorhinein vorbereitet und Phiolen mit Veronal gehortet. Sie hatte sich über die richtige, das heißt: mit Sicherheit tödliche Dosierung des Medikaments in einem medizinischen Taschenkalender informiert, in den sie überdies Liebesgedichte schrieb. Leb wohl. Hab es gut. Trink Mohn und träume, lauteten die letzten Zeilen ihres letzten Briefs, geschrieben am Tag des selbstgewählten Tods, gerichtet an den ehemaligen Geliebten Harry Redl. Im Jahr zuvor war Redl nach Kanada ausgewandert, während Hertha Kräftner sich in Paris aufgehalten und bis zuletzt darauf gehofft hatte, dass Redl ihr dorthin nachreisen und sie treffen würde. In Briefen sprach sie ihn mit ‚Knabe Elis‘ an.  Es ist eine Seereise bis zu dir / weil immer das Meer / vor der Liebe ist / und auf dem Meer nur der Sturm, schrieb Hertha Kräftner 1950 an den im fernen Kanada weilenden Redl. Sie machte konkrete Pläne, nach Vancouver auszuwandern, doch am Ende fehlte ihr die Kraft dazu.

Von außen betrachtet scheint ihr Tod umso unbegreiflicher angesichts des neu gefundenen Liebesglücks ihrer letzten Tage und Wochen. Ich bin dir dankbar, ich habe nicht gewusst, was Leben ist, schrieb sie am ersten November 1951 an Wolfgang Kudrnofsky. Später würde Hans Weigel in seiner Gedenkrede fragen: Konnte sie das Glück nicht ertragen? Das Grab von Hertha Kräftner befindet sich am Friedhof Wien-Atzgersdorf.

Erst 1963 erschien mit Warum hier? Warum heute? eine von Otto Breicha und Andreas Okopenko herausgegebene Auswahl aus Kräftners Gesamtwerk; 1977 wurde das Buch unter dem Titel Hertha Kräftner – Das Werk ohne die in der Erstausgabe vorhandenen Zeichnungen von Kurt Absolon neu aufgelegt. 1997 erschienen chronologisch geordnet nachgelassene Schriften Kräftners unter dem Titel Kühle Sterne. Günter Unger gründete 1988 in Mattersburg die Hertha-Kräftner-Gesellschaft. Der Nachlass Hertha Kräftners (Werke, Korrespondenzen, Lebensdokumente, Sammlungen) wird in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt, wo er seit 2012 zugänglich ist.


W.: Hertha Kräftner, Kühle Sterne, ed. G. Altmann –M. Blaeulich, 1997; Hertha Kräftner. Das Werk. Mit Anmerkungen von H. Weigel, G. Unger und A. Okopenko. ed. O. Breicha – A. Okopenko, 2003.


L.: G. Lion, Synchronisation in Birkenwald, in: Der Brenner, 1948, S. 92ff. (online https://brenner.oeaw.ac.at/, Zugriff 5.10.2021); G. Biesinger, Der posthume Roman „Hertha Kräftner“, in: Wort in der Zeit 10, 1964, H. 1,  S. 55f.; S. Grossi, Die psychogrammatische Struktur der Dichtung Hertha Kräftners, Diss. Salzburg, 1973; E. Gerstl, Hertha Kräftner – ein Beispiel weiblicher Selbstaufgabe, in: Unter einem Hut. Essays und Gedichte, 1993; K. Fliedl, Kein Fall für Philister. Zur neuen Hertha-Kräftner-Ausgabe, in: Wespennest 108, 1997, S. 101ff.; B. Bálaka, Sehnsucht nach Wüsten und Meeren, in: Wiener Zeitung, 9.11.2001; „Zum Dichten gehört Beschränkung“. Hertha Kräftner – Ein literarischer Kosmos im Kontext der frühen Nachkriegszeit, ed. E. Polt-Heinzl, 2004; G. Altmann, Hertha Kräftner, 2007; G. Unger, Ich ging vorbei am Tränenstrauch. Hertha Kräftner – Dichtung und Todessehnsucht, Mattersburg 2014 (Kat.); A. Okopenko, Tagebuch 03.11.1952–23.11.1952. Digitale Edition, ed. R. Innerhofer u. a. (https://edition.onb.ac.at/okopenko/o:oko.tb-19521103-19521123/methods/sdef:TEI/get?mode=p_47, Zugriff 3.10.2021).

(Silvia Waltl)

Wir danken Dr. Günter Unger für die kostenlose Bereitstellung des Porträts von Hertha Kräftner.