Er war an fast allen großen Filmproduktionen der Wiener Stummfilmzeit beteiligt und musste schließlich – wie viele andere jüdische Filmschaffende – vor dem NS-Regime fliehen. Im Shanghaier Exil gründete Arthur Gottlein (1895–1977) ein Puppentheater und spielte Stücke von Johann Nestroy und Ferdinand Raimund, zuerst auf Deutsch, dann auch auf Chinesisch.
Arthur Gottlein wurde am 15. Juni 1895 in Wien geboren. Seine Eltern Emil und Hermine Gottlein waren jüdische Kaufleute, die wenige Jahre vor Arthurs Geburt aus Böhmen bzw. Mähren nach Wien gekommen waren. Zunächst wohnhaft in der Leopoldstadt, übersiedelte die Familie bald nach Favoriten, wo die Eltern einen Gemischtwarenhandel betrieben. Arthur Gottlein besuchte zunächst die Handelsschule, um jedoch etwas später ins Schauspielfach zu wechseln. Im Jahr 1920 heiratete er seine große Liebe Hermine Knöpfmacher.
Bereits mit 18 Jahren begann er beim Film zu arbeiten und kam im Laufe seiner Karriere mit den ganz Großen seiner Zeit in Berührung: Arthur Gottlein arbeitete mit den Wiener Filmpionieren Louise und Anton Kolm, außerdem für den legendären Filmproduzenten Graf Sascha Kolowrat. Im Ersten Weltkrieg war er im Kriegspressequartier beschäftigt, später wirkte er in verschiedenen Positionen (vor allem als Aufnahme- und Produktionsleiter) bei rund 100 (Stumm-) Filmproduktionen mit. So war er Regieassistent bei den monumentalen Stummfilmwerken „Sodom und Gomorrha“ (1922) und „Die Sklavenkönigin“ (1924). Bei rund 15 Spielfilmen der frühen 1920er-Jahre führte Gottlein selbst Regie, etwa bei dem Operettenfilm „Der Rastelbinder“ (1927) sowie einigen Kurztonfilmen nach Drehbüchern von Karl Farkas, wie „Unter den Dächern von Wien“, „Justizmaschine“ (beide 1931) und „Lampel weiß alles“ (1932). Und ganz nebenbei stellte er über 100 Kultur- und Werbefilme her, für die er nicht nur das Skript schrieb, sondern auch den Schnitt übernahm. Früh zeigte sich eine Charaktereigenschaft, die ihn sein Leben lang begleiten würde, nämlich gelebte Solidarität und Hilfsbereitschaft. 1922 zählte er zu den Begründern des Filmbunds, einer Interessensvertretung verschiedener Berufsgruppen der Filmbranche.
Auch für Arthur Gottlein stellte wie für viele andere jüdische Filmschaffende das Jahr 1938 und der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich eine einschneidende Zäsur in seiner Arbeit dar. Noch 1937 stand er als Aufnahmeleiter beim in Österreich letzten unabhängig gedrehten Spielfilm hinter der Kamera, „Der Pfarrer von Kirchfeld“, inszeniert vom Regiepaar Jakob und Louise Fleck (sie hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes Anton Kolm ihren jüdischen Kameramann geheiratet). An dieser Produktion wirkten einige bedeutende Personen mit, die bald darauf von der Verfolgung durch das NS-Regime besonders betroffen waren: Der Produzent Siegfried Lemberger und sein Kameramann Ernst Mühlrad wurden im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet. Der Drehbuchautor Friedrich Torberg, der für diesen Film das Pseudonym Hubert Frohn verwendete, flüchtete über Paris und Lissabon in die USA. Der Textdichter Hans Weigel und der Schauspieler Karl Paryla überlebten im Schweizer Exil. Der Komponist Viktor Altmann entkam nach Großbritannien. Der Komponist Karl M. May flüchtete über Paris nach Spanien und starb 1943 in Madrid. Die Schauspieler Hans Jaray und Ludwig Stössel gingen in die USA ins Exil, Louise und Jakob Fleck nach Shanghai.
Auch Gottlein verließ wenige Monate später seine Heimat. Ein Vertrag mit der amerikanischen Filmproduktionsfirma Minerva Pictures ermöglichte ihm zunächst die Flucht auf die Philippinen. Gottlein drehte in Manila einige Filme auf Englisch und in der Landessprache Tagalog, darunter eine musikalische Komödie mit dem Titel „Huling Pagluha“ (deutsch „Die letzten Tränen“, 1940). In dieser Produktion spielte auch das Komikerpaar Pugo & Togo mit, die beiden waren bekannte und beliebte Stars des damaligen philippinischen Kinos.
Im Jahr 1941 wurde aufgrund des Kriegsverlaufes und des Ausbruchs des Pazifikkrieges aus einem Besuch Gottleins in Shanghai ein mehrjähriger Aufenthalt. Die lange Zeit der Emigration – 1939 bis 1949 – ist anhand von Dutzenden handgeschriebenen Taschenkalendern fast Tag für Tag rekonstruierbar. Arthur Gottlein gibt hier Auskunft über alle Stationen seiner Flucht, seine Arbeitsprojekte und seine weiteren Pläne. Wie viele andere Exilanten fand auch er in Shanghai keine Beschäftigung in seinem angestammten Beruf, der Filmbranche. Um zu überleben waren Fantasie und Kreativität gefragt, und so gründete er die „Shanghaier Puppenbühne“, ein Marionetten-Theater. Er suchte Kontakt zu Puppenbauern und Näherinnen, organisierte Proben und Auftritte. Keine einfache Aufgabe, wie Gottlein im Vorwort eines Programmheftes schrieb: „Jede Schraube, jedes Stückchen Material war nicht nur ein finanzielles Problem, sondern ein Felsblock, der aus dem Wege geräumt werden musste.“
In Gottleins Nachlass im Filmarchiv Austria in Wien existieren Theatertexte mit handschriftlichen Hinweisen und Anmerkungen, das Ensemble – bestehend aus befreundeten SchauspielerInnen und SängerInnen – spielte Wiener Volksstücke, zunächst auf Deutsch, dann auch auf Englisch und Chinesisch. Auf dem Programm standen Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ und Johann Nestroys „Lumpazivagabundus“ (unter dem Titel „Drei liederliche Burschen“), beide in der Bearbeitung durch den Wiener Arzt und Schriftsteller Hugo Alt. Nur wenige Fotografien des Theaters sind erhalten geblieben. Diese geben aber einen interessanten Einblick in die sehr professionelle Gestaltung der kleinen (Wander-)Puppenbühne. Die Vorstellungen waren überaus beliebt, und in diversen Exilzeitschriften wurden die Puppenspiele als etwas ganz Neues für Shanghai ausführlich beschrieben. Im Mai 1942 erfuhr man zum Beispiel aus einem von Gottlieb aufbewahrten Zeitungsausschnitt, dass bei der Bearbeitung von „Der Bauer als Millionär“ die Zahl der Figuren von 28 auf zehn reduziert wurde und fünf Puppenspieler die 1,20 Meter breite und einen Meter hohe Bühne gleichzeitig bespielen konnten. Einen „Eisernen Vorhang“ gab es genauso wie zahlreiche Scheinwerfer, die Tag- und Nachtszenen beleuchteten. Die Puppen entwarf Gottlein selbst; sie sollen – so wird es im Zeitungsartikel beschrieben – berühmten SchauspielerInnen ähnlich gesehen haben. Neben den Volksstücken spielte er auch eine Art Revue, mit Live-Gesang und einem Salonorchester.
Je weiter der Krieg voranschritt, desto schwieriger wurde es für die Flüchtlinge in Shanghai. Zu dieser Zeit lebten rund 18.000 jüdische Flüchtlinge in der chinesischen Metropole, darunter rund 5.000 ÖsterreicherInnen. 1943 wurden sie in einem Stadtviertel zusammengepfercht, dem „Shanghaier Ghetto“. Es folgten Jahre der Not und des Elends. Arthur Gottleins Puppentheater wurde zerstört, keine der Figuren ist erhalten geblieben. Bis Kriegsende lebte das Ehepaar Gottlein von Almosen und etwas Geld, das Hermine Gottlein mit dem Verkauf von selbstgestrickten Handschuhen verdiente. In den ersten Shanghaier Nachkriegsjahren setzte sich Arthur Gottlein für andere Exilanten ein und nutzte seine Kontakte, um ihre Weiterreise vor allem in die USA in die Wege zu leiten. Er selbst wollte als einer der wenigen wieder zurück nach Österreich. 1949 bestiegen schließlich auch er und seine Frau Hermine in Shanghai ein Passagierschiff und erreichten nach einer langen und beschwerlichen Reise rund um den halben Erdball – die Fahrt führte über Manila nach San Francisco und New York bis nach Neapel – am 12. April 1949 ihre Heimatstadt Wien.
Ein wirklicher Neuanfang im Filmgeschäft gelang Arthur Gottlein in Wien nicht mehr. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit dem Verfassen von Zeitungsartikeln, etwa für die jüdische Gemeindezeitung oder diverse Filmzeitschriften. Außerdem begann er sich erneut gewerkschaftlich zu engagieren und war jahrelang Vorstand der Gewerkschaft Kunst und freie Berufe. Und er begann zu sammeln: Porträtaufnahmen von österreichischen Filmschaffenden ab den 1910er-Jahren, Fotografien der ersten Filmateliers in Wien, Plakate, Dokumente, Zeitungsausschnitte. Kurz vor seinem Tod vermachte er diese umfangreiche Sammlung dem Filmarchiv Austria. Am 16. September 1977 starb der vielfach mit Preisen und Ehrungen ausgezeichnete Arthur Gottlein im Alter von 82 Jahren in Wien.
Weitere Werke: Der österreichische Film – Ein Bilderbuch von Arthur Gottlein, 1976 (mit Bild). – Filmografie (Auswahl): Cherchez la femme!, 1920/1921 (Regie-Assistenz); Namenlos, 1923 (Darsteller); Madame Blaubart, 1930/1931 (Aufnahmeleitung); Tagebuch der Geliebten, 1935 (Regie-Assistenz, Aufnahmeleitung); Fräulein Lilli, 1936 (Regie-Assistenz).
Literatur: Ch. Kanzler, Reisen ins Ungewisse: Der Wiener Filmschaffende Arthur Gottlein im fernöstlichen Exil, in: Feuchtwanger und Exil, ed. F. Stern, 2011, S. 427ff.; U. Jürgens, Louise, Licht und Schatten: die Filmpionierin Louise Kolm-Fleck, 2019, s. Reg.; U. Jürgens, Der Mann in der zweiten Reihe, in: Wina, Juli 2020 (Zugriff 9. 11. 2020); Ch. Kanzler, Arthur Gottlein, ÖBL online; Nachlass Arthur Gottlein, Filmarchiv Austria, Wien; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien.
(Uli Jürgens)