W. H. Auden in Österreich: Selbsterfindung und verborgene Netzwerke

Seine letzten fünfzehn Lebensjahre verbrachte der anglo-amerikanische Dichter Wystan Hugh Auden zu einem guten Teil im niederösterreichischen Kirchstetten. Aktuelle Forschung zu seinem Leben und Wirken in Österreich zeigt, wie Auden sich als Lokaldichter neu erfindet – und diese Rolle auch wieder ablegt. Hinter dem bedeutenden Mann wird ein Netzwerk österreichischer Frauen sichtbar, deren Anteil an seinem Werk bislang unbeachtet geblieben ist.

Am vierten Donnerstag im November wird in den Vereinigten Staaten traditionell Thanksgiving, Erntedank, gefeiert. Ein lyrisches Dankfest widmete seiner österreichischen Wahlheimat W. H. Auden (geboren am 21. Februar 1907; gestorben am 29. September 1973) im autobiografischen Gedichtzyklus „Thanksgiving for a Habitat“ (1965). Geboren im englischen York, war Auden 1939 in die USA emigriert, wo er 1948 den Pulitzer-Preis erhielt. Im selben Jahr begann er wieder vermehrt Zeit in Europa zu verbringen, zunächst auf der italienischen Insel Ischia, die zu seinem langjährigen Sommerdomizil wurde. 1957 erwarb er schließlich ein Haus im niederösterreichischen Kirchstetten. Die Adresse: Hinterholz 6. Gemeinsam mit seinem Lebensgefährten und künstlerischen Partner Chester Kallman verbrachte er dort bis zu seinem Tod bis zu sechs Monate pro Jahr. Dieses Haus war nicht nur der wichtigste Entstehungsort von Audens lyrischem Spätwerk, sondern wurde auch zu einem regen Treffpunkt internationaler Künstler:innen und Intellektueller, einschließlich der Komponisten Hans Werner Henze und Nicolas Nabokov. Kirchstetten war der erste Zufluchtsort des späteren Nobelpreisträgers Joseph Brodsky, nachdem er 1972 als Dissident aus der Sowjetunion emigriert und zunächst in Wien gelandet war.

In dem mit August 1962 datierten, titelgebenden zweiten Gedicht des „Thanksgiving“-Zyklus schreibt das lyrische Ich von sich selbst: „I, a transplant // from overseas“. Und weiter:

Territory, status,
and love, sing all the birds, are what matter:
what I dared not hope or fight for
is, in my fifties, mine, a toft-and-croft
where I needn’t, ever, be at home to
those I am not at home with.

2018 hat Uljana Wolf diese Verse neu ins Deutsche übertragen:

Land, Status und Liebe
sind, was zählt (die Vögel singen’s alle):
Und was ich nicht zu hoffen, worum ich nicht
zu kämpfen wagte, das gehört jetzt mir, Mitte fünfzig:
Haus und Hof, wo ich nie denen traut sein muss,
die mir nicht vertraut sind.

Laut Audens Jugendfreund, dem englischen Dichter und Kritiker Stephen Spender, mit dem er zeitlebens eng verbunden blieb, löste der plötzliche späte Besitz eines Hauses bei Auden immer wieder „Tränen der Dankbarkeit und des Staunens“ aus. In „Thanksgiving for a Habitat“ mischen sich Besitzerstolz und Wunsch nach Stabilität und Geborgenheit mit dem Gefühl des ewigen Fremdseins. So sehr Auden das Haus als sicheren Hafen und kreative Werkstätte schätzte, so blieb er ein ewiger Grenzgänger zwischen den Kulturen und Sprachen: eben ein „Transplantat // aus Übersee“ in der niederösterreichischen Provinz.

Inszenierung als Kichstettener Dichter

Uljana Wolfs Übersetzung von Audens „Hausgedichten“ ist im Sammelband „Thanksgiving für ein Habitat: W. H. Auden in Kirchstetten“ (2018) erschienen, der beispielhaft für das in den letzten zehn Jahren wahrnehmbare verstärkte Interesse an der „Selbsterfindung“ des Dichters als Europäer und insbesondere am Leben und Wirken des amerikanischen Dichters in Österreich stehen kann. Neue Forschung zu Auden in Österreich zeigt, wie der amerikanische Dichter innerhalb seines neuen Lebens- und Arbeitsumfelds positioniert wurde – und sich selbst positionierte.

Paradigmatisch dafür ist eine Fernsehdokumentation des ORF aus dem Jahr 1967. Darin wird eine enge Analogie zwischen Auden und dem österreichischen Dichter Josef Weinheber hergestellt. Und das, obwohl sich politisch und künstlerisch kaum Schnittmengen zwischen den beiden Schriftstellern feststellen lassen – bis auf den Umstand, dass auch Weinheber in Kirchstetten gelebt hatte, bevor er 1945 Selbstmord beging.

Weinhebers politische Lyrik im Dienst des Nationalsozialismus bleibt in der TV-Doku bewusst ausgeblendet. Stattdessen werden in Heimatfilm-Ästhetik Verse aus seinem Gedicht „Kirchstetten“ rezitiert, gefolgt von Strophen aus Audens Gedicht „Joseph Weinheber“, die ebenfalls die landschaftliche Schönheit des Orts preisen. So erzählt der Film eine Geschichte, die Auden in den Interview-Passagen eifrig mitschreibt: die Geschichte des amerikanischen Dichters, der sich in seiner niederösterreichischen Wahlheimat als neuer Lokaldichter Kirchstettens und regionale Berühmtheit positioniert, als gefeierter Starautor, den die Liebe zu Wein, zur Oper und der deutschen Sprache hierher geführt hat.

„You’re an angel“: Audens Frauen-Netzwerk in Österreich

In einem Brief aus dem Jahr 1965 bezeichnet Auden sein Weinheber-Gedicht als Bemühen, seiner „Gemeindepflicht“ nachzukommen. Dieser Brief ist an Stella Musulin adressiert, seine engste österreichische Vertraute während des Dichters Kirchstettener Jahre. Vermittelt hatte das Kennenlernen der beiden Christiane Zimmer, die Tochter Hugo von Hofmannsthals. Musulin (1915–1996) war gebürtige Waliserin, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Schriftsteller, Journalisten und Publizisten Janko Musulin, Sohn des habsburgischen Diplomaten Alexander Freiherr Musulin von Gomirje, geheiratet hatte. Als freischaffende Journalistin und Korrespondentin schrieb sie, auf Deutsch und auf Englisch, für „Die Furche“ und „Die Presse“ ebenso wie für den „Economist“ und die „Financial Times“. Das Vorwort zu ihrem Buch „Austria: People and Landscape“ (1971) stammt von W. H. Auden, mit dem sie in engem intellektuellen und persönlichen Austausch stand. Ihre nach Audens Tod verfassten Memoiren sind die wichtigste biografische Quelle zum Leben des Dichters in Österreich.

Briefe aus der kürzlich veröffentlichten privaten Sammlung von Audens Korrespondenz an Musulin dokumentieren nicht nur das Naheverhältnis der beiden „Zugereisten“, sondern vor allem auch die Bedeutung dieser Beziehung für die Arbeit Audens. Als Beispiel dafür kann ein Brief des Dichters vom 23. Dezember 1964 gelten. Von Musulin auf das repressive politische System Südafrikas angesprochen, schreibt Auden, dass Folter das eine Gräuel sei, das er nicht verstehen könne. Er fragt: „Where do the torturers come from? What class? Whom do they marry? To what pubs do they go?“ Audens Weinheber-Gedicht wird kurze Zeit später diese Fragen in Verse übersetzen: „In what bars are they welcome? // What girls marry them?“ Auch bei der Übersetzung dieses Gedichts ins Deutsche arbeitete Musulin mit dem Dichter zusammen. Gänzlich aus ihrer Feder hingegen stammt die deutsche Übersetzung einer Rede, die Auden anlässlich der Tagung „Lyrik 70“ in Neulengbach hielt. Auden schrieb an Musulin: „You’re an angel“. In der Literaturzeitschrift „Podium“ (April 1971), in welcher der deutsche Text abgedruckt wurde, fehlt indes der Name der Übersetzerin.

Herta Staub

Auch die Wiener Schriftstellerin Herta Staub (1908–1996) übersetzte Audens Gedichte ins Deutsche. In den frühen Siebzigerjahren organisierte sie eine Auftrittsmöglichkeit für den Dichter im Rahmen der Wiener Festwochen und setzte sich für eine Publikation ausgewählter Gedichte in Österreich ein. Mit dem Ziel einer kulturpolitischen Förderung Audens in Wien und einer stärkeren Verankerung seines Werks in der österreichischen Literaturszene ließ Staub ihre Beziehung innerhalb der Lokalpolitik spielen.

Hilde Spiel

Als produktivste Vermittlerin von Audens Werk in Österreich kann die britisch-österreichische Schriftstellerin und Journalistin Hilde Spiel (1911–1990) gelten. Ihrer Feder verdankt sich der größte Teil der zeit seines Lebens ins Deutsche übersetzten Gedichte W. H. Audens. Spiel war Teil der Jury, welche Auden 1966 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur zuerkannte. Auf ihre Einladung hin las Auden im selben Jahr vor dem österreichischen PEN-Club, als dessen Generalsekretärin sie von 1966 bis 1971 fungierte; als Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Ver Sacrum“ publizierte sie Gedichte von Auden zusammen mit ihren Übersetzungen.

Der Briefwechsel zwischen Auden und Spiel (am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek) beleuchtet nicht nur ihre intensive Arbeitsbeziehung. Auden ersuchte Spiel auch um Hilfe, als er in Konflikt mit den österreichischen Steuerbehörden geriet. 1972 wurde Auden mit einer Einkommenssteuer-Nachzahlung in der Höhe von 464.309 Schilling konfrontiert, wogegen er beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde einlegte. So bat er Spiel darum, eine englischsprachige Erklärung, die sein Anwalt im Fall einer Gerichtsverhandlung auf Deutsch vortragen sollte, zu übersetzen.

In diesem Statement dementiert Auden, dass sein Werk von Geschichte und Landschaft seiner österreichischen Wahlheimat beeinflusst sei, wie dies nach Ansicht des Finanzamts Audens Weinheber-Gedicht belegt. Im Widerspruch zur (Selbst-)Inszenierung als Kirchstettener Lokaldichter im österreichischen Fernsehen nimmt in dieser Erklärung Auden die Rolle eines gelegentlichen Gastes im Land ein. Aus der Stellungnahme spricht nun der internationale Lyrik-Star, der mit einem handfesten „world-scandal“ droht und damit, Österreich für immer zu verlassen. Spiel übersetzte den Text (Auden antwortete: „You’re an angel“) und sandte ihn an Bundeskanzler Bruno Kreisky mit der Bitte um seine Intervention. Wie Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv belegen, hob das Finanzministerium in der Folge die Entscheidung der Steuerbehörden – aufgrund eines Formalfehlers – auf.

Eine kollaborative literarische Praxis

Es ist nicht neu, dass Auden kaum Kontakte zu den Hauptfiguren der etablierten österreichischen Literaturszene der 1960er- und 70er-Jahre, wie Ernst Jandl (der Auden auch übersetzt hat) oder Thomas Bernhard (mit dem Musulin Auden in Kontakt bringen wollte), unterhielt. Was die Archivrecherche jedoch sichtbar macht, ist ein Netzwerk von Frauen um Auden, deren Anteil an seinem lyrischen Schaffen in Österreich – und damit an diesem besonderen Aspekt der österreichischen Literaturgeschichte nach 1945 – bislang unbeleuchtet geblieben ist. Die wiederholte und vielfach flektierte Formulierung „You’re an angel“ wird mithin zur Chiffre für eine kollaborative literarische Praxis, in der zugleich der Anteil der künstlerischen Partnerinnen ausgeblendet bleibt.

In der Nacht vom 28. zum 29. September 1973 verstarb Auden in seinem Hotelzimmer in der Wiener Walfischgasse nach einer Lesung für die Österreichische Gesellschaft für Literatur; dieser letzte Lyrikvortrag ist als Tondokument online verfügbar. Der Schriftsteller liegt in Kirchstetten begraben. Das Arbeitszimmer und ein Teil des Dachbodens seines österreichischen Hauses beherbergen heute eine Dauerausstellung, die 2015 vom Literaturwissenschaftler Helmut Neundlinger neu kuratiert und von Peter Karlhuber gestaltet wurde.


Weitere Werke: The Complete Works of W. H. Auden. Poems Volume II: 1940–73, ed. E. Mendelson, 2022.


Literatur: S. Spender, Wystan Hugh Auden, 1907–1973, in: Harvard Advocate 108, 1973, S. 60; H. Carpenter, W. H. Auden: A Biography, 1981; S. Musulin, Auden in Kirchstetten, in: „In Solitude, for Company“: W. H. Auden after 1940, ed. K. Bucknell – N. Jenkins, 1995, S. 207ff.; S. Smith, Introduction, in: The Cambridge Companion to W. H. Auden, 2005, S. 1ff.; A. Brunner, Wystan Hugh Auden und das literarische Leben in Wien, 2009; E. Mendelson, Early Auden, Later Auden, 2017; H. Neundlinger, Thanksgiving für ein Habitat. W. H. Auden in Kirchstetten, 2018; T. Frühwirth, An Austrian Auden: A Media Construction Story, in: Life Writing 16, 2019, S. 159ff.; S. Mayer – T. Frühwirth, The Auden Musulin Papers: Persona, Life Writing, and the Digital; in: Caring for Cultural Studies 1, ed. A. Ganser, 2022, S. 141ff.; Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin (Zugriff 28. 9. 2022).
Tondokumente: W. H. Auden, Gedichte / Poems, Österreichische Gesellschaft für Literatur, 1973; S. Musulin, W. H. Auden und die Österreicher, Österreichische Gesellschaft für Literatur – Österreichische Mediathek, 1977; M. G. D. O'Sullivan, Die Prävalenz der Metrik in Audens „Kirchstettner Gedichten“ aus der Sicht des Übersetzers, Niederösterreichische Gesellschaft für Kunst und Kultur – Österreichische Mediathek, 1984.
Filmdokument: Das österreichische Porträt: W. H. Auden, ORF, 1967.

(Timo FrühwirthSandra Mayer)

Wir bedanken uns bei „ZEITzeigen – Wissenschaftlicher Verein für die Geschichte des westlichen Wienerwalds“ für bisher unveröffentlichtes Bildmaterial.