Netzwerkerin der Nachkriegszeit: Elisabeth Liebl (Löcker)

Die Netzwerkerin, Salonière und Arbeitsbeschafferin spielte eine bedeutende Rolle im Wien der Nachkriegszeit. Bis zu ihrem frühen Tod 1961 war sie den beiden Schriftstellerinnen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann zudem eine wichtige Ansprechpartnerin und Vermittlerin.

Managerin des Übergangs

Mitte der 1980er-Jahre erschienen vier Memoiren älterer Herren, die offensichtlich ihre als bedeutend angesehene Rolle im österreichischen und deutschen Kulturbetrieb seit den 1930er-Jahren festschreiben wollten: Was die Bücher des Schauspielers Axel von Ambesser, des Kulturmanagers Egon Seefehlner, des Journalisten Milan Dubrović sowie des Historikers Golo Mann verbindet, ist neben einer gehörigen Portion an Eitelkeit die Erinnerung an Elisabeth Liebl. Liebl selbst hat keinerlei autobiographische Texte publiziert oder hinterlassen, ihr war das (vornehmlich männliche) Bedürfnis, Mitteilungen in eigener Sache zu veröffentlichen, offensichtlich unbekannt. Es war möglicherweise aber auch ihr früher Krebstod 1961, der die Abfassung eines Memoirs verhinderte.

Ambesser, Seefehlner und Dubrović schreiben von einem „oppositionell gesinnten Freundeskreis“ während des „Dritten Reichs“, dessen Mittelpunkt Elisabeth Löcker, wie sie damals hieß, gewesen sei. Treffpunkt sei das ehemalige Wochenendhaus von Anna Freud in Hochrotherd bei Breitenfurt gewesen (das Freud bei ihrer Flucht 1938 hatte verkaufen müssen). Neben Kulturschaffenden waren einige Journalisten des „Neuen Wiener Tagblatts“, einer von den Nationalsozialisten als vorgeblich unabhängiges Flaggschiff der Wiener Presse installierten Zeitung, in dieser Runde vertreten, darunter der Kulturredakteur Zeno Liebl. In diesem „Hochrotherd-Kreis“ ist ein kleiner Ausgangspunkt der Organisation des Kulturbetriebs nach dem Mai 1945 zu sehen: Der Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia etwa stand für das Kontinuum des Österreichischen an sich, Liebl galt den Alliierten als unbelastet und wurde Leiter der Kulturredaktion der Tageszeitung „Wiener Kurier“, und Elisabeth Liebl – seit Beginn der 1940er-Jahre mit Liebl liiert, seit 31. August 1947 mit ihm verheiratet – blieb ihrer Rolle als Mittelpunkt eines Freundeskreises treu. Sie war weiterhin so etwas wie eine Salonière, zugleich baute sie bei ihren beruflichen Tätigkeiten im Verlag der Universal Edition, als maßgebliche Redakteurin der Kulturzeitschrift „Der Turm“ und in den 1950er-Jahren als Mitarbeiterin des Amerikanischen Nachrichtendiensts (AND) ein Netzwerk auf, das sie für ihre Freunde und Freundinnen zu nutzen wusste. Dem Remigranten Hans Weigel etwa erleichterte 1945 ihr Netzwerk die rasche Integration in den Kulturbetrieb; der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, der sie als berufstätige, intellektuelle Frau ein Role Model gewesen sein dürfte, verschaffte sie 1951 eine Anstellung beim AND. Bachmann war zudem lange Zeit Untermieterin in der Wohnung der Liebls.

Zu den besonderen Leistungen Elisabeth Liebls zählt die Ausweitung ihres Netzwerks nach Deutschland unmittelbar nach 1945 – zu einer Zeit, als sich Österreichs Kulturpolitik auf eine austriakische Kontinuität zurückzog und möglichst nicht an Deutschland, dem man die Kriegsschuld zuschob, anstreifen wollte. Liebls Bemühungen um vermehrte Internationalität sind der auf Frankreich fokussierten Netzwerkarbeit der Malerin Hilde Polsterer vergleichbar, die in ihrer Wohnung in der Wiener Heßgasse einen damals ungewöhnlich grenzüberschreitenden Salon führte.

Industriellentochter und Jaspers-Schülerin

Elisabeth Liebls gute Kontakte nach Deutschland waren biographisch bedingt. Sie wurde am 12. April 1906 in ein wohlhabendes Frankfurter Haus hineingeboren. Ihr Vater, Rudolf Euler, war einer der Geschäftsführer der Frankfurter „Metallgesellschaft“, ein Unternehmen, das sein Schwiegervater, Zachary Hochschild, mitbegründet hatte und das bald zu einem international agierenden Konzern der Metallbranche angewachsen war. Elisabeth Euler war also materiell abgesichert und konnte ein Studium (1925–1931) nach ihrem Plaisier wählen. Sie entschied sich für Philosophie und für Heidelberg. Golo Mann, der vierte Memoirenschreiber, erinnert sich an das gemeinsame Studium bei Karl Jaspers und lässt dabei, nicht unüblich für ältere Herren seiner Generation, das Äußere seiner Kommilitonin nicht außer Acht: „Unter den grauen, mageren Pflänzlein der Studenten im Seminar wirkte Bobby wie eine Blume; hübsch und immer geschmackvoll gekleidet“, schreibt er in „Erinnerungen und Gedanken“ (1985). Mann führt an, dass „Bobby“, wie sie genannt worden sei, zu den Lieblingsschülern Jaspers gehört habe, die entweder „sehr reich“ und damit wirtschaftlich unabhängig oder ganz arm und damit notwendigerweise wagemutig gewesen seien. Dass Golo Mann mit seiner Einordnung „sehr reich“ nicht ganz unrecht haben dürfte, zeigen Eulers Studienaufenthalte im Ausland: je ein Semester in Lausanne und Oxford, ihr letztes Semester verbrachte sie in Berlin.

Euler wählte als Thema ihrer Dissertation die „Philosophische Deutung von Sündenfall- und Prometheusmythos“ und konzentrierte sich dabei auf Kierkegaard, Hegel und Kant, die „Meister des Philosophierens“. Jaspers schreibt 1931 in seinem Gutachten, dass die Arbeit verdiene, „mit der Note II, eher noch besser, censiert zu werden“. Der Doktorvater kritisiert die stellenweise zum Vorschein kommende Pedanterie der Autorin, hebt aber hervor, dass „sie offenbar von der Sache persönlich ergriffen“ sei, was der Arbeit zugute komme. Ob Jaspers eine akademische Karriere Eulers unterstützt hätte, ist bei diesem Gutachten fraglich. Elisabeth Euler verlässt jedenfalls unmittelbar nach der Promotion 1931 das akademische Umfeld, 1933 lässt sie noch ihre Dissertation in kleiner Auflage als Buch drucken. Im September 1931 heiratet sie den Österreicher Otto Löcker und geht mit ihm nach Wien. Von ihrem Ehemann ist praktisch nichts bekannt, er dürfte im mittleren Management tätig gewesen sein. Er taucht in einem Jahrbuch 1943 als Mitarbeiter der „Semperit Gummiwerke AG“ auf, möglicherweise war er, weil in einem rüstungsrelevanten Betrieb tätig, unabkömmlich gestellt. Die Scheidung von Löcker erfolgte am 28. April 1947.

Kritikerin, Linkskatholikin

Außer den Hinweisen auf Elisabeth Löckers zentrale Rolle im „Hochrotherd-Kreis“ ist aus ihrer Wiener Zeit vor 1945 nichts bekannt. Sie konnte jedenfalls nach 1945 auf ihre Heidelberger und Frankfurter Beziehungen zurückgreifen, was ihr Kontakte zur Zeitschrift „Die Wandlung“ (1945–1949), herausgegeben von Karl Jaspers und Dolf Sternberger, sowie zu den maßgeblich von Eugen Kogon, dem Autor der bahnbrechenden Analyse „Der SS-Staat“ (1946), betreuten „Frankfurter Heften“ (1946–1954), ermöglichte. In den „Frankfurter Heften“ trat Elisabeth Liebl als Rezensentin in Erscheinung – sie schrieb allerdings stets unter Pseudonym (ein Umstand, der einem nachhaltigen Andenken an ihr Schaffen zusätzlich im Wege stand). „Claudia Frank“ machte sich in dieser Zeitschrift vor allem für die beiden Schriftstellerinnen Gertrud von le Fort und Luise Rinser stark, die, wie Liebl, an grundsätzlichen christlichen Fragen interessiert waren.

In Österreich gehörte sie zu den wenigen, die 1946 an den 60-jährigen Exilanten Hermann Broch erinnerten und auf den im Jahr davor in den USA auch auf Deutsch erschienenen Roman „Der Tod des Vergil“ hinwiesen. Liebl beteiligte sich – immer als „Claudia Frank“ – an den publizistischen Diskussionen zur Frage einer moralischen Erneuerung nach den Kriegsgräueln, die auch in der damals bestimmenden Zeitschrift „Plan“ geführt wurden. In den von ihr und ihrem zweiten Mann Zeno Liebl redigierten Nachkriegszeitschriften „Der Turm“ und „Europäische Rundschau“ schrieb sie zum einen selbst (da war das Pseudonym natürlich von Vorteil) und bot zum anderen Schreibenden aus ihrem Netzwerk – wie der jungen Ilse Aichinger – Veröffentlichungsmöglichkeiten. Und Elisabeth Liebl war wohl die Erste, die einen Überblick über die österreichische Nachkriegsliteratur versuchte: 1949 schrieb sie in der Tübinger Zeitschrift „Welt und Wort“ davon, dass Kafka und Kraus noch nicht wieder lesbar seien in Österreich, sie weist auf die wenigen nach 1945 gedruckten Exilantinnen (Hilde Spiel, Annemarie Selinko) und Remigrantinnen (Adrienne Thomas) hin und sieht beim „Nachwuchs“ einige Versprechen, aber nur bei einem Buch „schon eine Erfüllung“: bei Aichingers Debüt „Die größere Hoffnung“.

Liebls Mitarbeit am deutschen „Zentralorgan“ des sogenannten Linkskatholizismus, den „Frankfurter Heften“, zeugt von einem Wandel ihrer religiösen Orientierung: Die Familie ihrer Mutter war jüdisch, der Vater evangelisch (die Eltern überlebten den Weltkrieg als „privilegierte Mischehe“), sie selbst schreibt 1930 in einem Lebenslauf, „evangelisch-lutherischer Confession“ zu sein. Ihre Übersiedlung nach Österreich dürfte auch eine Hinwendung zum Katholizismus nach sich gezogen haben. Liebls Netzwerk nach 1945, zu dem etwa Otto Mauer zählte, ist klar katholisch determiniert, sämtliche Zeitschriften, für die „Claudia Frank“ schrieb, hatten – explizit oder implizit – eine katholische Ausrichtung. Ein „progressiver“, sozialreformatorisch ausgerichteter Katholizismus hatte es allerdings in Österreich bereits im Austrofaschismus schwer und war auch nach 1945 nicht karrierefördernd.

Wittgenstein

1953 erschien in den „Frankfurter Heften“ ein Wittgenstein-Porträt Ingeborg Bachmanns, das den Philosophen in Bezug zum „Wiener Kreis“ setzte. Es ist anzunehmen, dass Bachmann sich mit ihrer Freundin Elisabeth Liebl darüber austauschte. Vielleicht war es die um 20 Jahre jüngere Schriftstellerin, die Liebls Interesse an Wittgenstein weckte. Es sollte jedenfalls ihr letztes Arbeitsthema werden: Um 1960 übersetzte sie für eine Buchpublikation die Wittgenstein-Erinnerungen Norman Malcolms, eines US-amerikanischen Philosophen, der 1938 Wittgenstein in Cambridge kennengelernt hatte. Und 1961 schrieb sie ein Wittgenstein-Porträt für den Westdeutschen Rundfunk. Den zehnten Todestag Wittgensteins am 29. April erlebte sie noch, nicht aber die Ausstrahlung ihres „Hörbilds“ am 18. Juni.

Elisabeth Liebl starb am 25. Mai 1961. In der Parte heißt es, sie sei auf einem „kleinen Friedhof bei Wien“ beigesetzt worden. Dass der Ort ihrer letzten Ruhestätte nicht genannt wird, passt zu dieser selbstbewussten Netzwerkerin, die sich öffentlich völlig zurücknahm und nur unter Pseudonym publizierte. In ihren Briefen an die Freundin Ilse Aichinger schreibt sie von gelegentlichen Ausflügen nach Vösendorf südlich von Wien, wo sie im Grünen und in der kleinen Kirche Kraft tanke. Auf dem dortigen Ortsfriedhof findet sich das Grab des Ehepaars Liebl.


Weitere Werke (unter Ps. Claudia Frank): „Erinnern oder Vergessen?“, in: Plan 1, 1945, H. 2, S. 133f.; Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“, in: Das Silberboot 11, 1946, S. 115f.; Wenn erst ..., in: Plan 1, 1946, H. 5, S. 404f.; Österreichische Literatur seit 1945, in: ‪Welt und Wort. ‪Literarische Monatsschrift‬ 4, ‬1949, S. 169–171;‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬‬ Gertrud von Le Fort (Reihe „Das Porträt“), in: Frankfurter Hefte 7, 1952, S. 786–789; „Tut etwas“ (Rezension von Luise Rinsers „Daniela“), in: Frankfurter Hefte 7, 1953, S. 562–564; Ein Eremit auf dem Lehrstuhl. Ein Hörbild über Ludwig Wittgenstein. Westdeutscher Rundfunk, Erstsendung: 18. 6. 1961. Band der Aufzeichnung: Deutsches Literaturarchiv Marbach.‬‬‬‬‬‬‬‬


Literatur: I. Bachmann, Ludwig Wittgenstein (Reihe „Das Porträt“), Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophie-Geschichte, in: Frankfurter Hefte 7, 1953, S. 540–545; ‬‬‬‬‬‬N. Malcolm, Ludwig Wittgenstein. Ein Erinnerungsbuch. Übers. v. C. Frank, 1960 (Neuausgabe 1987); E. Seefehlner, Musik meines Lebens. Vom Rechtspraktikanten zum Opernchef in Berlin und Wien, 1983, S. 88; A. von Ambesser, Nimm einen Namen mit A, 1985, S. 190; M. Dubrovic, Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés, 1985, S. 263; G. Mann, Erinnerungen und Gedanken. Tl. 1: Eine Jugend in Deutschland, 1985, S. 293–299; W. Straub, Im Schatten von Bachmann und Aichinger. Die Netzwerkerin Elisabeth Löcker (1906–1961), in: Journal of Austrian Studies 55, 2022, H. 1, S. 79–98; Universitätsarchiv Heidelberg, Deutschland.

(Wolfgang Straub)


Wir danken der Erbengemeinschaft nach Ingeborg Bachmann und dem Universitätsarchiv Heidelberg für die Bereitstellung des Bildmaterials.