Biographie des Monats

Unter Oscar-Verdacht: Die Fotografin und Filmemacherin Erica Anderson

Die vor 100 Jahren in Wien geborene Kamerafrau und Filmproduzentin verwirklichte zusammen mit Regisseur Jerome Hill einen von ihr initiierten Dokumentarfilm über den Nobelpreisträger Albert Schweitzer, der 1957 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.

Erica Anderson wurde als Erika Kellner am 8. August 1914 in Wien geboren. Ihre Eltern waren, wie viele andere, aus den Provinzen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie nach Wien gekommen und hatten 1910 hier geheiratet: Der jüdische Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. Eduard Kellner (ursprünglich Kohn, geb. am 22. Jänner 1874) stammte aus St. Pölten, seine Frau Ilona Rosenberg (geb. am 25. Oktober 1888) aus dem ostmährischen Kremsier (Kroměříč). 1911 kam die ältere Tochter Anita zur Welt, 1914 folgte Erika. Die junge Familie lebte schon damals an der Adresse Landstraßer Hauptstraße 65 im 3. Wiener Gemeindebezirk, an der Eduard Kellner bereits ab etwa 1908 auch als Facharzt praktizierte.

Berufswunsch: Fotografin

Erikas ältere Schwester Anita begann ein Studium der Medizin, das sie aber nach ihrer Heirat mit einem Arzt abbrach. Erika erlernte den besonders unter jungen Frauen aus gutbürglichen assimilierten jüdischen Familien damals beliebten Beruf der Fotografin. Dass auch Frauen in der Studiofotografie erfolgreich sein konnten, hatten jüdische Wienerinnen wie Dora Kallmus, Trude Fleischmann, Edith Barakovich, Pepa Feldscharek, Edith Glogau, Grete Kolliner oder Steffi Brandl bewiesen. In Wien wurden in der Zwischenkriegszeit die meisten der beliebtesten Fotostudios der Reichen und Schönen von jüdischen Frauen geleitet, was sich noch heute im beeindruckenden Who-is-Who der von ihnen fotografierten Clientel widerspiegelt. Die gewerbliche Fotografie versprach eine kreative Tätigkeit in einem modernen, aufstrebenden Metier, das gerade im künstlerisch anspruchsvollsten Segment noch vergleichsweise geringfügig von Männern okkupiert war (im Gegensatz etwa zur Architektur). Frauen hatten dort noch gute Chancen auf Erfolg und es waren vor allem Frauen aus assimilierten jüdischen Familien, die sie ergriffen.

Unfreiwilliger Aufbruch: London und USA

Vorerst arbeitete Erika Kellner im bekannten Atelier von Georg Fayer in Wien. Bis zur erzwungenen Emigration 1938 wohnte sie bei ihren Eltern in der Landstraßer Hauptstraße Nr. 65, Top 11. Die historischen Meldeunterlagen geben als Datum ihrer Abmeldung nach England den 9. November 1938 an. Im Londoner Exil arbeitete sie zunächst in Kunstgalerien. 1939 heiratete sie den britischen Arzt William Adrian Collier Anderson. Die Ehe wurde wenige Jahre später wieder geschieden. 1940 folgte Erika Kellner, die sich nun Erica Anderson nannte, ihren Eltern und ihrer älteren Schwester in die USA. Am New York Institute of Photography absolvierte sie eine Ausbildung zur Kamerafrau. Wie Trude Fleischmann, deren Bekanntschaft sie in den 1940er-Jahren machte, eröffnete Erica Anderson zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in New York ein Fotostudio, das sie an der Adresse 11 West 69th Street bis 1965 führte.

Die Fotografin als Filmemacherin

In den 1940er-Jahren begann Erica Anderson als eine der ersten Frauen in den USA professionell als Kamerafrau und Filmemacherin zu arbeiten. Mit einer 16-mm-Kamera drehte sie viel beachtete Dokumentarfilme u. a. über Henry Moore (1947). Für einen Kurzdokumentarfilm über die Farmersfrau und spätberufene Folk-art-Künstlerin Grandma Moses arbeitete sie erstmals mit dem Regisseur Jerome Hill zusammen. Ein erhaltener Brief Andersons an Hill vom 26. Dezember 1949 legt nahe, dass sie bereits das meiste Material gedreht hatte, bevor Hill als Regisseur hinzukam. Das nur 21-minütige, für seine ungewöhnlichen Kamerablickwinkel gelobte Werk wurde 1950 für den Kurzfilm-Oscar nominiert.

Der Film über Albert Schweitzer

Gemeinsam mit Hill gestaltete sie auch ihren bekanntesten Dokumentarfilm über den großen deutsch-französischen Humanisten und Friedensnobelpreisträger (1952) Albert Schweitzer, ein Projekt, das auf ihre Initiative zurückging. Sie war es auch, die Schweitzer davon überzeugte, daran mitzuwirken. In enger Zusammenarbeit mit Hill als Regisseur trat sie mit diesem unter dem Namen Hill & Anderson Productions auch als Produzentin auf. Anderson filmte, Hill führte Regie und Schweitzer steuerte nicht nur den Text des Voice-over bei, sondern sprach ihn für die deutsche und die französische Fassung des Films auch noch gleich selbst. Gedreht wurde sowohl im afrikanischen, von Schweitzer gegründeten Hospital in Lambaréné, damals Französisch-Äquatorialafrika, heute Gabun, als auch in Schweitzers Heimatort Günsbach im Elsass, Frankreich. Der erste Teil des Films handelt von Schweitzers Werdegang. In eingestreuten Spielszenen stellen sein Enkel Phillip Eckert und seine Schwester Adele Woytt den Menschenfreund als Kind und seine Mutter dar. Im zweiten Teil wurde ein typischer Tag im afrikanischen Hospital in Lambaréné portraitiert. Dabei musste sich Anderson mit zahlreichen, „einzigartigen“ Schwierigkeiten auseinandersetzen, wie wir aus dem Vorspann erfahren: Pilzbefall auf Kameraobjektiven, eine Hitze, die Filmmaterial zum Schmelzen brachte, das Fehlen von Elektrizität, der enge Raum in der Krankenstation und natürlich das immense Arbeitspensum ihres Protagonisten, den sie so wenig wie möglich stören wollte. Nach sechsjähriger Produktionszeit wurde „Albert Schweitzer“ 1957 mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet – seltsamerweise ging er nur an Jerome Hill als Produzenten. Der Filmkritiker der New York Times Bosley Crowther schrieb, dass man nicht erwartet könne, dass ein 80-Minuten-Film dieses außergewöhnliche Leben in all seinen Facetten darzustellen vermöge, aber sicherlich seien die wichtigsten, alles durchziehenden Aspekte des Dienstes am Menschen und christlichen Beispiels in der Karriere des großen Gelehrten, Musikers und Arztes darin warm beleuchtet worden. 2013 erschien eine digital restaurierte Fassung von „Albert Schweitzer“ auf DVD. In einem begleitenden Text findet sich endlich auch eine Würdigung der entscheidenden Rolle Erica Andersons am Entstehen dieses Films.

Ausklang

1966, im Jahr nach Schweitzers Tod, kaufte Erica Anderson ein Grundstück in Great Barrington, Massachusetts, wo sie das Albert Schweitzer Friendship House, eine Gedenkstätte für Albert Schweitzer, gründete. Am 23. September 1976 starb sie selbst in Great Barrington. 1996 musste die Gedenkstätte aus finanziellen Gründen geschlossen werden. Durch Vermittlung der Bibliothekarin und Schweitzer-Forscherin Antje Bultmann Lemke, mit der Anderson seit 1973 befreundet gewesen war, gelangten die Bestände mit Bibliothek, Handschriften, Tonbandaufzeichnungen und 37.000 Bilddokumenten an die Syracuse University Libraries im US-Bundesstaat New York. Das meiste davon hat mit Albert Schweitzer zu tun. Diese Erica Anderson Collection ist bis heute unbearbeitet.

Literatur: Übersee. Flucht und Emigration österreichischer Fotografen 1920–1940, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Wien im Museumsquartier, 16. Januar bis 15. März 1998, ed. A. Auer, 1997; Vienna’s Shooting Girls. Jüdische Fotografinnen aus Wien, Ausstellungskatalog, Jüdisches Museum Wien, 23. Okt. 2012 bis 3. März 2013, ed. I. Meder – A. Winklbauer, 2012; T. Starl: FotoBibl. Biobibliografie zur Fotografie in Österreich (online); Erika Anderson - Die Kamerafrau, Website der AISL - Internationale Albert Schweitzer Vereinigung; Erica Anderson, IMDb - Internet Movie Database (online); Jerome Hill: An Inventory of Selected Digitized Items from His Papers at the Minnesota Historical Society, Website der Minnesota Historical Society (alle Online-Referenzen zuletzt eingesehen am 18. 7. 2014); Israelitische Kultusgemeinde, Stadt- und Landesarchiv, beide Wien.

(Andrea Winklbauer)