Ein Mensch in seinem Widerspruch: der Meisterstemmer, Fabrikant und Varietébesitzer Bernhard Labriola

Als Direktor des Varieté Ronacher brachte der vor 125 Jahren geborene Bernhard Labriola einst frischen Wind in ein schwächelndes Unternehmen. „Das große Varieté mit den kleinen Preisen“ erlebte unter seiner Leitung eine Glanzzeit und bot für wenig Geld Unterhaltung auf internationalem Niveau. Davor hatte sich der gelernte Kammmacher bereits als Schwerathlet, Rennfahrer und Fabrikant einen Namen gemacht.

Der aus einer neapolitanischen Familie stammende Bernhard (Bernardo) Labriola wurde am 7. August 1890 in Darmstadt geboren. Sein Vater Julius Labriola war Kammmacher – ein Beruf, den Labriola später auf elterlichen Wunsch ebenfalls erlernte. Nach dem Schulbesuch widmete er sich jedoch vorerst ganz dem Sport und der Artistik. Schon früh war sein athletisches Talent zum Vorschein gekommen, und es war nun Labriolas Körperkraft, die sich im wahrsten Wortsinn als seine große Stärke erwies.

Der Schwerathlet Labriola

Labriola war nach eigenen Angaben in seiner Jugend eine „Kraftnummer“ und bereiste bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr fast ganz Europa. Der erfolgreiche Stemmer engagierte sich als Mitbegründer der Schwerathletikvereine von Ober-Ramstadt (1909), Gammelsbach (1912) und Finkenbach (1922). Wie aus der Vereinschronik des damaligen Kraft-Sport-Vereins Gammelsbach hervorgeht, wachte Labriola streng darüber, dass seine Stemmer nicht mit Alkohol und Nikotin in Berührung kamen. Nötigenfalls soll er auch nicht davor zurückgeschreckt haben, „Sünder“ übers Knie zu legen. Im Stemmen stellte Labriola 1912 in Mannheim sogar einen Weltrekord auf, indem er einarmig 217 Pfund zur Hochstrecke brachte. Später im selben Jahr sollen es in Darmstadt sogar 280 Pfund gewesen sein. Auch nach dem Ersten Weltkrieg war Labriola im Kraftsport höchst erfolgreich und entwickelte zusätzlich ein Faible für den Autorennsport. Erst ein schwerer Unfall bei einem 24-Stunden-Rennen beendete 1922 seine Laufbahn als Kraftathlet. Noch 1950 stiftete Labriola einen Pokal, der bei den Hessischen Meisterschaften der Senioren (Aktiven) an den relativ besten hessischen Gewichtheber vergeben wird. Der Originalpokal ging allerdings verloren, sodass nun ein Ersatzpokal in Verwendung ist.

Munitionsfabrikant im Ersten Weltkrieg

Noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein italienischer Staatsbürger, meldete sich Labriola Ende Jänner 1916 als Kriegsfreiwilliger zum deutschen Heer. Er war zunächst in der Artillerie eingesetzt, wurde dann jedoch vom Militärdienst befreit, um experimentieren zu können: Er hatte den Einfall gehabt, für die Kartuschen von Leuchtspurmunition Kunststoff anstelle von Zink zu verwenden, was den Vorteil hatte, dass sich die Farben der Hülsen nicht mehr veränderten. Labriola errichtete in der Folge eine Fabrik mit hundert Arbeitern und verlegte sich auf die Erzeugung von Zelluloidhülsen. Wohlhabend geworden, wandte er sich nach dem Krieg der Gastronomie zu und betrieb mehrere Lokale und Vergnügungsstätten. So erwarb er 1921 das Café Corso in Frankfurt am Main, 1925 die Parkbetriebe in Wiesbaden und führte einige Jahre die Tonhallenbetriebe in Bochum. Eine Kammfabrik, die er nach eigenen Angaben als 21-Jähriger auf Bitten seines schwerkranken Bruders gegründet hatte und die bis zu 300 Arbeiter beschäftigte, schloss er hingegen wegen schlechten Geschäftsgangs 1925.

Frischer Wind im Etablissement Ronacher – „Das große Varieté mit den kleinen Preisen“

Als Labriola nach Wien kam, um das Ronacher zu übernehmen, war das von Anton Ronacher 1888 im einstigen Wiener Stadttheater eingerichtete Varieté bereits seit mehreren Jahren geschlossen. Labriola gelang es, das Etablissement zu neuer Blüte zu bringen. Dabei verfolgte er das Konzept, mit niedrigen Eintrittspreisen (zwischen 1 und 5 Schilling) eine breite Öffentlichkeit anzusprechen. Die vorhandenen Tische und Stühle ließ er durch Sitzreihen ersetzen, und erstmals gab es im Ronacher auch Stehplätze, sodass der Zuschauerraum nun 1.546 Besucher fasste. Auf eine geschlossene Galavorstellung am 29. August 1930 folgte tags darauf die Eröffnung des Varietés, das nun täglich zwei, an Sonn- und Feiertagen drei Vorstellungen bot. Labriolas Geschäftsmodell ging auf, das Haus war beinahe täglich ausverkauft und Ende November 1930 hatten schon 250.000 Gäste das Ronacher besucht – das war statistisch betrachtet jeder sechste Wiener. Unter Labriola wurde das Etablissement wieder zu einem der besten auf dem Kontinent. Er beschäftigte über hundert Angestellte, darunter ein Orchester, eine Jazzband sowie eine Girltruppe. Zu den Attraktionen jener Zeit zählte etwa die international bekannte Berliner Swing-Jazz-Showband Weintraubs Syncopators, die auch im Film „Der blaue Engel“ mitgewirkt hatte. Gezeigt wurden neben den 4 Romeos in ihrem Athletikakt „Wege zu Kraft und Schönheit“ beispielsweise der „Gentlemanjongleur“ Felix Adanos ebenso wie Spitzenakrobaten, dressierte Füchse, Clowns oder der mit 350 Schrankkoffern Requisiten angereiste Magier Dante, der sich auf dem Feld der „Dematerialisation“ versuchte. 1931 präsentierte sich hier die junge Marika Rökk als „Queen of the pirouette“, während das folgende Jahr u. a.  Indianer-, Rad- und Motorradattraktionen und den Kunstreiter José Moeser brachte. Die musikalischen Darbietungen bestritten neben anderen Hermann Leopoldi, die Operettenkomponisten Edmund Eysler und Charles Weinberger als „Mundi und Charlie“ am Doppelklavier oder der Salongeiger George Boulanger. Im Mai 1932 holte Labriola Joséphine Baker samt Ensemble an das Ronacher, und schon im nächsten Jahr bot er seinem Publikum mit der Schauspielerin und Sängerin Mistinguett einen weiteren Weltstar. Zu dem geplanten Gastspiel des Hellsehers Eric Jan Hanussen kam es nicht mehr, weil dieser inzwischen ermordet worden war. An seiner Stelle engagierte Labriola 1933 die Nelson Revue unter Rudolf Nelson und mit ihr den Conférencier Max Ehrlich. Schon vor deren Auftreten war Labriola in Drohbriefen aufgefordert worden, das Gastspiel der „Berlinerischen Juden“ abzusetzen. Da es während der Vorstellung trotz Polizeiaufgebots zu antisemitischen Krawallen kam und man selbst Hans Moser als „Judenfreund“ auspfiff, wurde die Revue nach drei Vorstellungen abgesetzt. Labriola trat in der Folge zurück und pachtete im September 1933 das Circus-Renz-Gebäude, in dem er Varietéprogramme gestaltete. Im Mai 1932 hatte er außerdem das Stadttheater in Budapest übernommen, um es als Labriola Varieté zu führen, war aber schon 1933 zahlungsunfähig.

Varieté 1938-1944

Nach dem „Anschluss“ Österreichs bemühte sich Labriola neuerlich um einen Pachtvertrag und stellte im Herbst 1938 einen Antrag auf „Arisierung“ des Ronacher. Für den 45%-Anteil Samuel Schönguts an der Realitätengesellschaft m. b. H. „Ronacher“ gab es außer Labriola noch weitere Interessenten, doch ihm kam neben seiner fachlichen Qualifikation auch die Mitgliedschaft in NSDAP, NSV, DAF und diversen Parteiorganisationen zugute, überdies war er förderndes Mitglied der SS. In einem Schreiben vermerkte der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Wiesbaden-Mitte, es sei Labriola besonders anzurechnen, dass er als Erster in Wiesbaden bei der Eröffnung des Park-Cafes die Bedienung von Juden abgelehnt und die Schilder „Juden sind hier unerwünscht“ angebracht habe.

Am 3. September 1938 wurde das Ronacher wiedereröffnet. Das Programm näherte sich in den Folgejahren wieder dem klassischen Varieté an, da viele der Stars nicht den nationalsozialistischen Rassenvorstellungen entsprachen oder aus Staaten stammten, die nicht mit dem Deutschen Reich verbündet waren. Bis 1944 bestritten Akrobaten, Clowns wie Charlie Rivel (Akrobat – schööön!), Humoristen, Sänger und Tänzer das Programm. Neu hinzugekommen waren Instrumental-Musikvirtuosinnen und -virtuosen, aber auch ein Trickzeichner und sogar ein Ensemble aus China waren zu sehen. Für Unterhaltung sorgten beispielsweise Hans Röhrl als „lebender Hydrant“ bzw. „lebendes Aquarium“ sowie diverse Tiernummern – Elefanten, Reitkunstvorführungen, dressierte „Wunderraben“ oder Clownlöwen. 1939 wurde das Programm mit dem Marsch „Gruß an Obersalzberg“ eröffnet, und ein Programmheft des Jahres 1940 vermerkt, dass die Direktion ausschließlich deutsche Staatsbürger oder Staatsbürger aus befreundeten und neutralen Staaten beschäftigte. Andererseits war hier noch im selben Jahr der in der NS-Zeit verbotene St. Louis Blues zu hören gewesen. Möglicherweise hat Labriola, der „seinem Wesen nach […] ein liberaler Kosmopolit“ (Gerhard Eberstaller) war, seine Hand schützend darübergehalten. Als Conférencier beschäftigte Labriola außerdem Ernst Arnold, der als Regimegegner wiederholt in Schwierigkeiten geriet und seine Ankündigungen der einzelnen Nummern mit den Worten „Mehr darf ich nicht sagen“ bzw. „Mehr habe ich nicht zu sagen“ schloss. Mit Fortschreiten des Kriegs unterbrachen immer häufiger Fliegerangriffe die Aufführungen, und im Zuge der Theatersperre im September 1944 wurde das Ronacher schließlich ganz geschlossen.

Der einstige Mitbesitzer der Realitätengesellschaft Ronacher Samuel Schöngut überlebte den Holocaust nicht. Er war Anfang November 1941 in das Ghetto Litzmannstadt deportiert worden.

Labriolas dritte Direktionszeit

1955 trat Labriola ein drittes Mal die Leitung des Ronacher an. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das unversehrt gebliebene Gebäude dem ausgebombten Burgtheater als Ausweichquartier gedient. Im Dezember 1955 wurde es, renoviert und für den Varietébetrieb neu adaptiert, wiedereröffnet. Labriola holte nun viele Artisten, die schon zuvor bei ihm aufgetreten waren, zurück. Die Hiller Girls, das deutsche Pendant zu den Tiller Girls, schwangen wiederum gekonnt ihre Beine, und auch Charlie Rivel brachte das Publikum neuerlich zum Lachen. In dieser letzten Phase des Ronacher als Varieté finden sich unter den Künstlern außerdem Namen wie Heinz Conrads, Fritz Muliar, Gunther Philipp, Helmut Qualtinger, Hermann Leopoldi, Ernst Waldbrunn und Ernst Arnold. Einer der letzten großen Erfolge war Anfang 1959 die Zauberrevue „Simsalabim“ mit dem Magier Kalanag, doch ließ sich nicht mehr übersehen, dass die Zeiten für das Varieté vorüber waren. Das Fernsehen hatte ihm den Rang abgelaufen, und auch die Konkurrenz durch die weitaus größere Wiener Stadthalle bekam das Ronacher zu spüren.  Ein massiver Besucherschwund setzte ein. Bernhard Labriola zog sich ins Gaststättengewerbe zurück und übertrug die Leitung seinem Sohn Orest (geb. 1920), doch bereits 1960 war das Varieté Ronacher Geschichte.

Menschen, die mit Labriola zu tun hatten, beschrieben ihn als „Artistenvater“. In einem Gespräch erinnerte sich der Kapellmeister und Komponist Willy Fantel, den Labriola 1957 an das Ronacher engagiert hatte, an ihn als an einen resoluten, sehr bestimmten Menschen, der herzensgut, aber auch aufbrausend sein konnte. Gefürchtet und bewundert sei er gewesen, und abweichende Meinungen habe Labriola, der mit „Herr Direktor“ angesprochen werden wollte, nicht gelten lassen. Von seiner Loge im 2. Rang aus verfolgte er die Proben und mischte sich im Bedarfsfall energisch ins Geschehen. Am 17. Februar 1960 starb Labriola in Wiesbaden an einem Herzinfarkt.


Literatur: Neue Freie Presse, 31. 8. 1930; B. Labriola, Der Sommer des Variétédirektors, in: Neues Wiener Journal, 11. 8. 1931; Das kleine Volksblatt, Die Presse, Österreichische Neue Tageszeitung, 18. 2. 1960 (alle mit Bild); G. Eberstaller, Zirkus und Varieté in Wien, 1974, S. 94ff., 107; E. Günther, Geschichte des Varietés, 1978, s. Reg.; H. Ihlau, Das Ronacher als Varietetheater. Ein Kapitel Wiener Theatergeschichte, phil. Diss. Wien, 1978, passim; Tagebuch der Straße. Geschichte in Plakaten, red. G. Barth u. a., 1981, S. 193f.; L. E. Seelig, Ronacher. Die Geschichte eines Hauses, 1986, S. 40ff., 47f., 55f.; G. Eberstaller, Ronacher. Ein Theater in seiner Zeit, 1993, s. Reg. (mit Bild); B. Lang, Ronacher Reminiszenzen, in: Circus- gestern, heute H. 33–37/38, 1997–2000 (mit Bildern); T. Walzer – St. Templ, Unser Wien. „Arisierung“ auf österreichisch, 2001, S. 212; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Österreichisches Staatsarchiv (AdR), Wienbibliothek im Rathaus (Tagblattarchiv, mit Bildern), alle Wien.


(Eva Offenthaler)

Herzlichen Dank an die Wienbibliothek im Rathaus und die Bildagentur IMAGNO für kostenlos zur Verfügung gestelltes Bildmaterial, an Kapellmeister Willy Fantel für seine Gesprächsbereitschaft sowie den SV Gammelsbach für zugeschickte Bilder und Informationen!