Biographie des Monats

Wasser, Luft, Licht & Sonne: Waluliso, der „Paradieso“-Vogel aus der Lobau

Vor hundert Jahren erblickte der friedensbewegte Vorkämpfer für einen ökologischen Lebensstil Ludwig „Wickerl“ Weinberger, alias Waluliso, das Licht der Welt – Erinnerungen an ein einst stadtbekanntes Wiener Original.

Schwierige Jugend

Ludwig Weinberger kam am 2. Juli 1914 in Wien-Ottakring als achtes Kind der aus Böhmen stammenden Anna Marie Benes, verheiratete Weinberger, zur Welt. Weil der Bub nicht von ihm stammte, ging ihre Ehe mit dem in Graz geborenen und im Kärntner Wolfsberg aufgewachsenen Taschner und Sattler Ludwig Weinberger sen. in die Brüche. Ludwig („Wickerl“) durchlebte eine harte und entbehrungsreiche Kindheit. Da sie die zahlreichen Kinder nicht mehr ernähren konnte, gab sie ihren Zweitjüngsten schon im Alter von vier Jahren in ein Kinderheim, später wechselte er zwischen Heimen, Pflegeeltern und seiner Familie hin und her. Bereits im Volksschulalter musste er Geld heimbringen, bettelnderweise, als Brot- und Zeitungsausträger und als Verkäufer von Fliegenwedeln. Als Zehnjähriger pries er im Ausflugsrestaurant des Weltmeisters im Gewichtheben Wilhelm Türk am Wilheminenberg als sogenannter „Brotschani“ Gebäck und Brezen an den Tischen an. Mit großen Schwierigkeiten absolvierte er vier Klassen Volksschule und eine Klasse Hauptschule. Nach einer Episode als Knecht im Waldviertel brach er erst eine Goldschmied-, dann eine Schneiderlehre ab. Eine dritte Lehre zum Buchbinder schaffte er im zweiten Anlauf. Danach erwartete ihn die Arbeitslosigkeit ? er bettelte sich durch, bildete sich aber auch mit Hilfe von Volkshochschulkursen weiter. Anfang 1938 meldete sich Ludwig Weinberger zu einer dreimonatigen Ersatzreservistenausbildung. Nur wenige Tage nach dem „Anschluss“ wurde er ausgemustert und im Sommer des darauffolgenden Jahres zur Wehrmacht eingezogen. Er kam auf den Kriegsschauplätzen Polen und Jugoslawien zum Einsatz und laborierte zeit seines Lebens an einer 1940 erlittenen Knieverletzung.

Nach Kriegsende holte Weinberger die Handelsschule nach und wurde Vertreter für Büro- und Reklameartikel. Anfang der 1950er-Jahre erwarb er einen Gewerbeschein als selbstständiger Handlungsreisender für Reklameartikel, Plastikwaren und Stempel. Als solcher verdiente er sich fortan seinen Lebensunterhalt, wobei er nicht nur in Wien, sondern auch in den Bundesländern unterwegs war. Allmählich spezialisierte er sich auf die Anfertigung von individuellen Reklame- und Hinweistafeln für Geschäfte, kunstvoll und ansprechend von Hand aus Karton hergestellt.

Der „König der Lobau“ in seinem „Paradieso“

Bereits in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg fallen Weinbergers erste Erfahrungen mit dem Nacktbaden in der Lobau. Die Freikörperkultur, in dieser Gegend vor den Toren der Hauptstadt schon früh gepflegt, sollte eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen. Ein zentraler Ort der FKK-Bewegten war die Hirscheninsel im Überschwemmungsgebiet der Donau, die teilweise von FKK-Vereinen gepachtet war. Nach Kriegsende setzte Weinberger seine naturistischen Aktivitäten in der Lobau fort und trat einem Nudistenverein bei.

1970 wurde mit den Aushubarbeiten für das sogenannte Entlastungsgerinne, die spätere Neue Donau, begonnen. Dieses ehrgeizige Projekt der Stadtväter sollte einen dauerhaften Schutz vor den Hochwassern bieten, die die Hauptstadt bisher in regelmäßigen Abständen heimgesucht hatten. Mit dem ausgehobenen Erdreich wurde die Donauinsel, eine über 21 km lange künstliche Insel zwischen Donau und Neuer Donau, aufgeschüttet. Diese Bautätigkeit bedeutete das Ende für das Nacktbaderefugium Hirscheninsel. Zusammen mit anderen FKK-Anhängern nahm Weinberger diese Vertreibung aus dem Paradies jedoch nicht einfach hin. Er sammelte Unterschriften für die Schaffung eines freien, d. h. nicht vereinsbasierten Nacktbadegeländes an den Ufern der Neuen Donau, sein so genanntes Paradieso. Dieses reimte sich auf Waluliso (d. i. Wasser, Luft, Licht, Sonne), jenen Namen, den sich Weinberger bereits zuvor zugelegt hatte und unter dem er zu einer Rückbesinnung auf ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur aufrief. Es blieb nicht bloß beim Sammeln von Unterschriften, Waluliso wurde auch bei der Stadt Wien vorstellig. Sein Engagement hatte Erfolg: Immer mehr Personen unterstützten seine Initiative. Und der Forderungskatalog wurde immer länger: Nun ging es nicht mehr bloß um die Schaffung von frei zugänglichen FKK-Bereichen, sondern auch um die Errichtung von WC-Anlagen, Tischen, Bänken, Müllkübeln, Versorgung mit Trinkwasser, Anbindung an den öffentlichen Verkehr etc. Waluliso forderte seine Unterstützer auch auf, sich direkt an den seit Juli 1973 amtierenden Bürgermeister Leopold Gratz zu wenden. Im Rathaus kam man nicht umhin, dem ungewöhnlichen Vertreter der Bürgergesellschaft Gehör zu schenken, und band Waluliso, der von seinen Anhängern und der Presse bisweilen als „König der Lobau“ tituliert wurde, zunehmend in die Planungen und Konzepte rund um die allmählich Gestalt annehmende Donauinsel ein. Heute stehen den Anhängern der Freikörperkultur Strandbereiche mit einer Länge von insgesamt über 8 km zur Verfügung. Der Großteil davon liegt im südlichen Teil der Donauinsel, dort, wo sich einst die Pioniere der Bewegung auf der Hirscheninsel in der Sonne räkelten.

Ein wandelndes Wiener Wahrzeichen

In der Zeit nach seiner Pensionierung Anfang der 1980er-Jahre setzten jene Aktivitäten Walulisos ein, mit denen er sich in erster Linie in das kollektive Gedächtnis der Metropole einschrieb: seine Auftritte als selbst ernannter Friedensapostel an zentralen Orten der Stadt, vor allem rund um den Stephansdom. Von Beginn an setzte er dabei auf ein auffallendes Äußeres. Experimentierte er anfangs noch mit Fransenhosen und -röckchen, dauerte es nicht lange, bis er seinen charakteristischen Waluliso-Style kreiert hatte und diesem auch fortan treu blieb: ein weißer, toga- bzw. tunikaartiger Umhang, auf dem Haupt ein Kranz aus Ruscus-Blättern, ein langer Stab, der je nach Anlass unterschiedlich dekoriert wurde (oft etwa mit einer nachgebildeten Friedenstaube oder mit Wimpeln) sowie ein Apfel. In diesem Aufzug war er vornehmlich am Stock-im-Eisen-Platz nächst dem Dom anzutreffen, wo er den Frieden predigte und gegen die Diktatur des Konsums wetterte. In den Achtzigern war er fixer Bestandteil des Straßenbilds der Wiener Innenstadt, eine Art wandelnde Sehenswürdigkeit und begehrtes Fotoobjekt der Touristen. Den Namen Waluliso ließ er patentieren und nach einer amtlichen Namensänderung auch in seinen Pass eintragen. Aufkleber mit seinem Logo fanden regen Absatz und Blümchen Blau, die kurzlebige Neue-Deutsche-Welle-Band aus Wien („Flieger, grüß mir die Sonne“), nahm mit ihm zusammen 1982 sogar einen Song auf, Titel: „Wir bauen ein Haus“.

Globetrotter in Sachen Frieden

Seine Friedensbotschaften wollte Waluliso jedoch nicht nur den Wienern zu Gehör bringen, sondern auch den ganz großen Entscheidungsträgern in jener Endphase des Kalten Kriegs. Und so begab er sich auf Reisen: 1985 zum Gipfeltreffen Reagan-Gorbatschow in Genf und im Folgejahr zu ihrer nächsten Begegnung in Reykjavík, wo es sogar zu einem Shakehands mit Raissa Gorbatschowa kam. Diese Mission des Friedensapostels fand auch literarisch ihren Niederschlag in Michael Köhlmeiers Roman von Montag bis Freitag. Zur 750-Jahr-Feier Berlins reiste Waluliso im Sommer 1987 ebenfalls an, im Gepäck ein Begleitschreiben von Helmut Zilk (Bürgermeister seit 1984), in dem es u. a. hieß: „Er [d. i. Waluliso] kennt keine parteipolitischen oder nationalen Präferenzen und ist durch sein Auftreten vor allem in der Wiener Innenstadt als gutmütiger, für Frieden und Freundschaft eintretender Wiener Bürger bekannt. Seine Kleidung und sein äußeres Erscheinungsbild sind als Zeichen der Originalität zu werten und nicht als Provokation zu verstehen.“ Die DDR-Grenzer sahen dies offenbar anders und ließen ihn nicht auf die andere Seite der Mauer. Bereits im Mai desselben Jahres war er auf Einladung Schewardnadses bzw. der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft nach Moskau gereist, die Aufmerksamkeit der Medien war ihm dabei einmal mehr gewiss. 1987 bildete überhaupt den Höhepunkt seiner Reisetätigkeit, im Dezember flog der „Gipfeltourist“ sogar über den Atlantik, um bei der Unterzeichnung des Abrüstungsvertrags über Kurz- und Mittelstreckenraketen in Washington als Zaungast dabei zu sein. Nicht alle waren ihm dabei gewogen, viele bezweifelten, dass er ein geeigneter Botschafter Österreichs sei, und hielten ihn schlichtweg für einen wirren Sonderling. Dabei machte es Waluliso seinen Gegnern teilweise recht leicht: Sein „Programm“ und seine Forderungen blieben weitgehend nebulos, auch konnte der Einzelkämpfer mit Kritik nicht immer gut umgehen.

Stilles Ende und verblassende Erinnerung

Anfang der 1990er-Jahre wurde es allmählich still um Waluliso, der zunehmend mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. 1993 verkündete er, sich zurückziehen zu wollen. Bei einem seiner letzten Auftritte verteilte er auf der Kärntner Straße kleine Geldbeträge – als Zeichen wider den Materialismus. Nur mehr selten verließ er seine winzige Substandardwohnung in der Wehrgasse im 5. Bezirk. Ein komplizierter Knochenbruch im Herbst 1995 stand am Beginn eines monatelangen Aufenthaltes im Krankenhaus, aus dem er in ein Pensionistenheim entlassen wurde. Am Nachmittag des 21. Juli 1996 verstarb er. Zwei Wochen später wurde er auf dem Zentralfriedhof beigesetzt, in einem Grab an prominenter Stelle, unweit des Haupteingangs, das er zu Lebzeiten erworben hatte. Das Grabmal aus Sandstein geht auf seinen eigenen Entwurf zurück. Es zieren Äpfel und Blätter, wohl als Anspielung an seine Aufmachung gedacht, sowie ein Telefonhörer ? möglicherweise ein Sinnbild für seine nicht immer von allen geschätzte Kommunikationsfreudigkeit? Hinter einer Maske, wie sie auf dem Stein ebenfalls dargestellt ist, so meinen manche, habe er sich zeit seines Lebens versteckt.

Allmählich, so ist zu befürchten, wird der Name Waluliso aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, der jüngeren Generation sagt er bereits heute nichts mehr. Einer kleinen Waluliso-Gedenkstätte in den Räumlichkeiten eines Sportartikelgeschäfts an der Neuen Donau in der Nähe der Reichsbrücke war nur eine kurze Lebensdauer vergönnt. Bleibender an ihn erinnern wird die Walulisobrücke, eine Pontonbrücke für Fußgänger und Radfahrer über die Neue Donau in der Lobau. Der Namensgeber hatte sich lange Zeit für die Errichtung dieser Verbindung zwischen den beiden FKK-Bereichen links und rechts des Entlastungsgerinnes, seines „Paradiesos“, eingesetzt. 1998, zwei Jahre nach seinem Tod, ging sein Wunsch in Erfüllung.

 

 

Literatur: F. Czeike, Historisches Lexikon Wien 5, 1997 (m. L.); A. Katzenbeisser, Waluliso. Analyse eines ungewöhnlichen Lebens, 2003 (m. B. und L.); R. David-Freihsl – Ch. Fischer, Rückkehr zur Strudlhofstiege. Literarische Spaziergänge durch Wien, 2006, S. 15ff.

(Hubert Bergmann)