Das erste Opfer politischer Gewalt in der Zweiten Republik: Ernst Kirchweger

Vor fünfzig Jahren, am 31. März 1965, wurde der Antifaschist Ernst Kirchweger bei einer Demonstration gegen den antisemitisch agierenden Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz niedergeschlagen. Zwei Tage später erlag er seinen Verletzungen.

Sozialdemokratischer Funktionär

Ernst Kirchweger wurde am 12. Jänner 1898 in Wien geboren. Sein Vater war Handschuhmachergehilfe und später Sekretär der Gewerkschaftsorganisation dieser Berufsgruppe. Nach der Volks- und Bürgerschule erlernte Kirchweger von 1912 bis 1915 das Drogistengewerbe. Bereits in jungen Jahren Mitglied der „Kinderfreunde“, trat er 1916 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) bei. In diesem Jahr wurde er Soldat der Kriegsmarine und erlebte die Erhebung der Matrosen in der Bucht von Cattaro im Februar 1918. Aus der italienischen Kriegsgefangenschaft kehrte Kirchweger Ende 1918 nach Wien zurück.
Als im März 1919 in Budapest die Räterepublik ausgerufen wurde, ging Kirchweger nach Ungarn, um dort in den Reihen der neu aufgebauten Roten Armee zu kämpfen. Nach der Niederwerfung der Räterepublik Ende August 1919 kehrte er nach Wien zurück und arbeitete zunächst als Angestellter der Arbeiterkonsumgenossenschaft. Von 1922 bis 1925 war Kirchweger Mitarbeiter im Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen, dessen Generalsekretär zu dieser Zeit der Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath war.
Von Oktober 1925 bis Februar 1937 arbeitete Kirchweger als Angestellter der Gemeinde Wien, konkret als Schaffner der Städtischen Straßenbahnen. Bis zum Verbot der sozialdemokratischen Organisationen und Vereine im Februar 1934 war er Vertrauensmann und redaktioneller Mitarbeiter des Freien Gewerkschaftsverbands der Handels- und Transportarbeiter. In der SDAP stand er am linken Flügel der Partei und war als Sprengelleiter sowie in der Arbeiterkonsumgenossenschaft als Obmann eines Sprengelausschusses in Wien-Favoriten aktiv. Darüber hinaus gehörte er dem Republikanischen Schutzbund, den Freidenkern, dem Arbeiter Turnverein (ATV) und dem Arbeiter-Stenographenbund an, womit er umfassend in das politische und kulturelle Milieu der österreichischen Sozialdemokratie eingebettet war.

Illegale antifaschistische Arbeit und Verlagsdirektor

Unter dem Eindruck der Niederlage der österreichischen ArbeiterInnenbewegung im Februar 1934 wechselte Kirchweger zur KPÖ, der er bis zum Ende seines Lebens als Mitglied und Funktionär angehörte. In den Jahren der austrofaschistischen Diktatur war Kirchweger in der illegalen Gewerkschaftsbewegung aktiv und organisierte die Fachgruppe Straßenbahner, als deren Obmann er fungierte. In dieser Eigenschaft redigierte er auch die illegale Gewerkschaftszeitung der Gemeindebediensteten mit dem Titel „Der freie Gemeindearbeiter“, sowie das Zentralorgan der freigewerkschaftlichen Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter „Zeitrad“. Ende November 1936 nahm Kirchweger am Einigungskongress der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in Prag teil, in dessen Verlauf der sozialdemokratische Siebenerausschuss und die kommunistisch dominierte Wiederaufbaukommission eine gemeinsame Leitung der illegalen Freien Gewerkschaften bildeten.
Im März 1937 wurde Kirchweger Verwaltungschef beim Compass-Verlag. Der „Compass“ war ein Jahrbuch, das von 1868 an ohne Unterbrechung bis ins Jahr 2003 als gedrucktes Werk erschien und Information zu allen österreichischen Unternehmen enthielt. Dessen Inhaber, Rudolf Otto Hanel, war mit der Schwester Kirchwegers verheiratet, was wohl ein wichtiger Grund dafür war, dass dieser die Gesamtprokura über den Verlag erhielt. Im August 1945, wenige Wochen nach der Befreiung Österreichs, wurde Kirchweger zum öffentlichen Verwalter des Compass-Verlags bestellt. Nach 1947, als Hanel wieder den Verlag übernahm, blieb Kirchweger bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1963 leitender Angestellter des Unternehmens.

Verdienter Funktionär der ArbeiterInnenbewegung

Auch in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur leistete Kirchweger illegale politische Arbeit. In seiner Wohnung fanden konspirative Sitzungen statt, wurden ausländische Rundfunksender gehört und Hilfe für die Opfer des Regimes und deren Angehörige organisiert. Da die „Compass“-Bände in der NS-Zeit zur Geheimsache erklärt wurden, wurde von der Wiener Gestapo die Beobachtung des als „politisch nicht einwandfrei“ eingestuften Kirchweger angeregt. Ins Reich der Geschichtslegenden gehört jedoch die vielfach publizierte Auffassung, Kirchweger sei in diesen Jahren in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen.
Dass Kirchweger im organisierten kommunistischen Widerstand aktiv war, wird auch dadurch deutlich, dass seine Gruppe im April 1945 in der Lage war, beim Heraustreten aus der Illegalität öffentliche Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen. So wurde in Favoriten bereits am 9. April 1945 der Kommunist Klemens Friemel von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Bezirksvorsteher ernannt. Zu seinen engsten Mitarbeitern gehörte Ernst Kirchweger, der als „Referent für Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung“ tätig war. In dieser ehrenamtlichen Funktion kümmerte er sich um die Versorgung des Bezirks mit Lebensmitteln und die Organisierung von Aufräumungsarbeiten. De facto agierte er im Mai 1945 als Sekretär des Bezirksvorstehers. Noch im Herbst 1945 arbeitete Kirchweger als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Favoritner Wohnungsamt.
Politisch war Kirchweger weiter in der KPÖ und im kulturpolitischen Umfeld der Partei aktiv. Als kommunistische RemigrantInnen 1948 das Neue Theater in der Scala gründeten, wurde auch eine Publikumsorganisation – die Theaterfreunde – ins Leben gerufen, mit dem Ziel, durch billige Abonnentenpreise den Theaterbesuch für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich zu machen. Kirchweger fungierte in den 1950er-Jahren, bis zur Schließung des Theaters 1956, als Mitglied des Vorstands und zweiter Vizepräsident der Theaterfreunde. Im Collegium Hungaricum hielt Kirchweger in den 1960er-Jahren öffentliche Lichtbildvorträge über die zahlreichen Reisen, die er unternahm, etwa nach Ägypten oder Zentralasien. Überdies war er als Kassier der Österreichisch-Ungarischen Vereinigung für Kultur und Wirtschaft aktiv und wurde erst wenige Tage vor seinem Tod in der konstituierenden Sitzung des Vorstands in dieser Funktion bestätigt.

Die Affäre Borodajkewycz

Ab 1962 bewegte die Tatsache die österreichische Öffentlichkeit, dass an der Wiener Hochschule für Welthandel (der heutigen Wirtschaftsuniversität) ein Mann lehrte, der immer wieder durch antisemitische und großdeutsche Äußerungen auffiel: Taras Borodajkewycz. Dieser war in der Ersten Republik in Kreisen des politischen Katholizismus sozialisiert worden, jedoch bereits im Jänner 1934 der illegalen NSDAP beigetreten. 1940 wurde er Dozent an der Universität Wien, 1943 (bis zum März 1945) Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der (deutschen) Universität Prag. Im Rahmen der Entnazifizierung nur als „minderbelastet“ eingestuft, erfolgte 1955 seine Ernennung zum Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Hochschule für Welthandel.
Im März 1965 kam es zum Eklat, als Borodajkewycz im Rahmen einer Pressekonferenz im Auditorium Maximum der Hochschule, die teilweise im Fernsehen übertragen wurde, erneut antisemitische Aussprüche tätigte. Als Reaktion darauf demonstrierten am 29. März hunderte Studierende und AntifaschistInnen gegen den nazistischen Ungeist an den Hochschulen. Zwei Tage später, am 31. März 1965, fand eine Kundgebung der Österreichischen Widerstandsbewegung und eines Antifaschistischen Studentenkomitees statt, an der sich 5.000 DemonstrantInnen beteiligten. Am Karlsplatz kam es zum Zusammenstoß mit Anhängern von Borodajkewycz. Nachdem die Rufe „Hoch Boro!“ und „Heil Auschwitz!“ erklungen waren, wurde der 67jährige Kirchweger vom Rechtsextremisten und Mitglied des Rings Freiheitlicher Studenten Gunther Kümel mit einem Faustschlag niedergestreckt. Zwei Tage später starb er an den Folgen des Schlags. Ernst Kirchweger ging damit als erstes Opfer politischer Gewalt in die Geschichte der Zweiten Republik ein.

Zusammenrücken des demokratischen Österreich

Bei der Trauerkundgebung für Ernst Kirchweger, die am 8. April 1965 auf dem Wiener Heldenplatz stattfand, waren sämtliche Regierungsmitglieder der SPÖ, die Mitglieder des Wiener Stadtsenats und des ÖGB-Präsidiums, einige Minister der ÖVP  und auch der damalige Wiener Bürgermeister und Präsidentschaftskandidat der SPÖ Franz Jonas anwesend. Der nachfolgende Trauerzug über die Ringstraße zum Schwarzenbergplatz, an dem 25.000 Menschen teilnahmen, wurde als „Zusammenrücken des demokratischen Österreich“ gewertet. Das Begräbnis Ernst Kirchwegers war die bis dahin größte antifaschistische Demonstration seit Bestehen der Zweiten Republik. Im Oktober 1965 wurde Kümel wegen Notwehrüberschreitung zu nur zehn Monaten Arrest verurteilt. Borodajkewycz wurde im Mai 1966 vom Senat der Hochschule zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Im November 1989 wurde der in den Jahren 1979 bis 1981 errichtete Gemeindebau in der Sonnwendgasse 24  in Wien-Favoriten nach Ernst Kirchweger benannt und damit ein öffentlich sichtbares Zeichen des antifaschistischen Gedenkens gesetzt.


Quellen und Literatur: Volksstimme, 3. 4. 1965; H. Fischer, Einer im Vordergrund: T. Borodajkewycz. Eine Dokumentation, 1966; G. Kasemir, in: Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, ed. M. Gehler – H. Sickinger, 1996, S. 486ff.; M. Mugrauer, in: „Der Tote ist auch selber schuld.“ Zum 50. Jahrestag der Ermordung von E. Kirchweger, 2015, S. 21ff.; Zentrales Parteiarchiv der KPÖ, Wien.


(Manfred Mugrauer)


Für die kostenlose Überlassung von Bildmaterial danken wir dem Zentralen Parteiarchiv der KPÖ (Wien).

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