200 Jahre Dr. med. Ami Boué

„Zur Festlegung der für die Behandlung geeigneten Zeitpunkte und Methoden, [sollen] die Ärzte die Erscheinungen des Harnes beobachten“

Der aus einer reichen, hugenottischen Familie stammende Ami (Amédée) Boué gilt heute als einer der bedeutendsten, wenn auch oft vergessenen, Erdwissenschaftler in Österreich und als einer der Pioniere der geologischen und geognostischen Erforschung Südosteuropas. So verfasste er beispielsweise die erste geologische Beschreibung von Bosnien-Herzegowina. Weitgehend unbekannt ist, dass Boué neben seiner botanischen Dissertation „De methodo floram regionis cujusdam conducendi, exemplis e flora Scotica etc. ductis, illustrata“, die 1817 im Druck erschien, ebenfalls vor 200 Jahren in Edinburgh eine zweite, medizinisch-chemische Doktorarbeit mit dem Titel „De urina in morbis“ verfasst hatte. Das Original dieser Arbeit ist heute verschollen, jedoch verschenkte Boué in Wien ein handschriftliches Exemplar das heute in der Bibliothek der geologisch-paläontologischen Abteilung im Naturhistorischen Museum in Wien aufbewahrt wird. Derzeit arbeiten Johannes Seidl, Bruno Schneeweiß, Rudolf Werner Soukup und Christa Kletter an einer textkritischen Edition dieser Dissertation.

 

Familiärer Background

Ami (Amédée) Boué wurde als Sohn des Reeders Henrí Boué (1767-1848) und dessen Ehefrau Suzanne de Chapeaurouge (1772-1804) am 16. 3. 1794 in Hamburg geboren und im calvinistischen Glauben erzogen. Nach dem Schulbesuch in St. Georg bei Hamburg sowie ab 1806 in Genf studierte der früh halb verwaiste Boué ab 1814 Medizin an der Universität in Edinburgh. Nach seiner Promotion zum Dr. med. 1817 vervollständigte er seine medizinische und naturwissenschaftliche Ausbildung in Paris, Berlin und Wien, wobei ihn besonders die Erdwissenschaften interessierten. 1821 kam er das erste Mal nach Wien, 1826 heiratete er die Wienerin Eleonore Beinstingl und zog mit ihr nach Paris, um danach nach Bern und später wieder nach Paris zu übersiedeln. 1835 verlegte Boué dann seinen Wohnsitz endgültig nach Wien, das zum Ausgangspunkt zahlreicher Reisen nach Südosteuropa wurde.

Ami Boué  - Geologe und Kartograph

Boué unternahm Exkursionen nach Schottland, England, Irland und Frankreich, darunter 1823 in die Pyrenäen, 1824 nach Ungarn, in das Banat und nach Siebenbürgen, wo er insbesondere die geologischen Verhältnisse der südlichen Karpaten untersuchte. Diese Forschungen setzte er 1829 in Galizien fort und publizierte 1833 seine eigenen Ergebnisse sowie jene von Karl Lill von Lilienbach. Als Erster stellte er dabei fest, dass der Karpatenbogen eine Fortsetzung des Alpenbogens ist, und arbeitete die Bedeutung der Fucoidenmergel heraus, die den Zeitabschnitt der Kreide repräsentieren. Ebenso befasste er sich mit Fragen zur Tektonik und erkannte, dass die Vulkangesteine an Störungen liegen und in einer bestimmten zeitlichen Abfolge abgelagert worden waren. Ab 1835 plante Boué Exkursionen in das südöstliche Europa, 1836-38 durchquerte er mehrfach die Balkan-Halbinsel. Seine Beobachtungen und völlig neuen Erkenntnisse über die Geographie, Ethnographie und Geschichte sowie bedeutende geowissenschaftliche Forschungsergebnisse legte er in seinem vierbändigen Hauptwerk „La Turquie d’Europe“ (1840) dar. Er erkannte unter anderem den Zusammenhang zwischen den kristallinen Gesteinen der Alpen und denen der Rhodopen, wobei er die Entstehung dieser „schistes cristallins“ dem Paläozoikum zuschrieb. Ebenso maß er dem Einfluss der thermalen Metamorphose (Kontaktmetamorphose), mit der er sich bereits 1820 in seinem „Essai géologique sur l’Écosse“ befasst hatte, große Bedeutung zu, indem er die Veränderungen durch die Kontaktmetamorphose des Granits auf die umgebenden Kalke beobachtete. Besonders hervorzuheben sind Boués Erkenntnisse in Bezug auf das Tertiär und die Beckengliederung im Balkangebiet. Boué prägte den Begriff Paratethys für einen Meeresteil, der sich nach Herausbildung der Alpen vom Mittelmeer abtrennte. Von seinen rund 275 wissenschaftlichen Werken sind unter anderem geologische Karten zu nennen, darunter jene von Schottland (1820), von Siebenbürgen (1834), der europäischen Türkei (1842) sowie die unpublizierten Karten von Niederösterreich und Südbayern, Mähren und Westungarn. 1845 erschien als eine der ersten ihrer Art Boués „Carte géologique du globe terrestre“, in der er durch Analogieschlüsse den geologischen Aufbau verschiedener Weltteile eruierte. Seine Bedeutung für die österreichischen Erdwissenschaften liegt vor allem in der Internationalisierung, die er durch seine Kontakte mit England und vor allem Frankreich erreicht hat. Seine reichhaltige Sammlung an französischer erdwissenschaftlicher Literatur übergab er unter anderem an das Hofmineralienkabinett, die Geologische Reichsanstalt sowie an private Forscher. 1830 gründete Boué in Paris unter anderem mit Louis-Constant Prévost, Gérard Paul Deshayes und Jules Desnoyers die Société géologique de France. 1829 wurde er Foreign Member der Geological Society of London, die ihn 1847 – als einen der Ersten überhaupt – mit der Wollaston Palladium Medal auszeichnete. 1849 wurde er zum korrespondierenden und wirklichen Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt und stellte dieser eine bedeutende Stiftung für Forschungen zur Verfügung. Er starb am 21. 11. 1881 in Wien und ist im niederösterreichischen Bad Vöslau begraben.

Boué und seine medizinische Dissertation

Die Doktorarbeit mit dem vollständigen Titel „Dissertatio inauguralis De Urina in Morbis auctore Amico Boué, Reipublicae Hamburgensis civis“ beschäftigt sich, wie der Titel bereits zu erkennen gibt, mit den verschiedenen Formen des Urins bei Erkrankungen. Grundsätzlich lassen sich jedoch zwei Abschnitte in dieser Arbeit erkennen, ein kürzerer, der sich mit dem gesunden Harn des Menschen befasst und ein  längerer Teil, der sich den krankhaften Erscheinungsformen des Harns widmet. Boué meinte dazu selbst „... man muss die Ausscheidungen der Harnblase beobachten, ob sie wie bei Gesunden erfolgen: wenn sie diesen aber am wenigsten gleichen, ist dies in höchstem Maße krankhaft; gleichen sie aber diesen, sind sie am wenigsten krankhaft.”

Der Autor ging dabei wissenschaftlich-empirisch vor, indem er den Urin verschiedenen Experimenten unterzog. Als Beispiel seien Boués Untersuchungen am Urin von an Diabetes mellitus erkrankten Personen genannt. Er unterwarf die Urinproben unter anderem folgenden Untersuchungsmethoden: visuelle Betrachtung, orale Verkostung, Messung des spezifischen Gewichts, Erprobung des Verhaltens bei Zusatz von Säuren und Laugen sowie Veränderungen des Urins in gewissen kürzeren oder längeren Zeiträumen. An Heilungsmöglichkeiten kannte Boué angesichts des damaligen allgemeinen Stands des medizinischen Wissens noch wenig, sieht man von Diäten ab.

Die Dissertation ist eher naturwissenschaftlich-chemisch als medizinisch ausgerichtet, erweckt jedoch durch die hohe Anzahl an beschriebenen Experimenten und Selbstexperimenten ebenso wie durch die in Fußnoten – allerdings sehr verkürzt – angeführte wissenschaftliche Literatur einen durchaus modernen Eindruck.


Weitere W.: s. Catalogue; Autobiographie; Seidl - Cernajsek.


L.: ADB; Catalogue des œuvres, travaux, mémoires et notices du Dr. Ami Boué, 1876 (mit Werkverzeichnis); Autobiographie du docteur médécin Ami Boué membre de l’Académie Impériale des Sciences de Vienne etc. …, 1879 (mit Werkverzeichnis); M. Durand-Delga u. a., in: Bulletin de la Société géologique de France 168, 1997, H. 4, S. 521ff. (mit Bild); J. Seidl, in: C(omptes) R(endus) Palevol 1, 2002, S. 649ff. (mit Bild); J. Seidl - T. Cernajsek, in: Glücklich, wer den Grund der Dinge zu erkennen vermag. Österreichische Mediziner, Naturwissenschafter und Techniker im 19. und 20. Jahrhundert, ed. D. Angetter - J. Seidl, 2003, S. 9ff. (mit Bild und Werkverzeichnis); Ami Boué (1794–1881). Autobiographie (in deutscher Übersetzung) – Genealogie – Opus, ed. J. Seidl – A. Ende, 2013; Universitätsarchiv, Edinburgh, GB.

(Daniela Angetter - Johannes Seidl)