Vom Leben im Pseudonym – der Schauspieler Leo Reuss

Vor 70 Jahren verstarb auf den Philippinen der Schauspieler Leo Reuss. Internationales Aufsehen erregte er mit einer Rolle, die er auch abseits der Bühne spielen musste: 1936 ließ sich der aus Deutschland Vertriebene in der Maske des Bergbauern Kaspar Brandhofer als Naturtalent entdecken und triumphierte am Theater in der Josefstadt. Seine Camouflage gab die Blut-und-Boden-Ideologie der Lächerlichkeit preis, doch seither droht die Anekdote das bittere Schicksal Reuss‘ zu überdecken.

Leo Reuss kam am 30. März 1891 im galizischen Dolina (heute Dolyna, Ukraine) zur Welt. Wenige Jahre später übersiedelte er mit seinen Eltern, Samuel und Ernestine Reiss, nach Wien, wo sein Vater an wechselnden Adressen als Tierarzt praktizierte. Als Gymnasiast schloss Reuss die Bekanntschaft des jungen Adolf Schärf, der dieselbe Schule besuchte und ihn zu sozialdemokratischen Jugendtreffen mitnahm, in denen sich Reuss später selbst zu engagieren begann. Nach der Matura am Realgymnasium in Wien-Hernals inskribierte er im Wintersemester 1913/14 an der Universität Wien Kunstgeschichte und Germanistik. Zugleich begann er unter Armin Seydelmann an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Schauspiel zu studieren. Ein bereits fixiertes Engagement nach Troppau zerschlug sich jedoch mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. So vergingen vier Jahre, die Reuss u. a. an der Karpatenfront und an der italienischen Front verbrachte, ehe der nunmehrige Oberleutnant daran denken konnte, seinen Berufswunsch zu verwirklichen.

Wiener und Berliner Bühnenluft

Nachdem sich Leo Reiss, wie er eigentlich hieß, den Künstlernamen Reuss zugelegt hatte, trat er 1919 am Wiener Komödienhaus in der Nußdorfer Straße sein erstes, wenn auch kurzes Engagement an. Noch im selben Jahr wurde er unter Emil Geyer Ensemblemitglied an der Neuen Wiener Bühne, wo er u. a. in den Titelrollen von Anzengrubers „Der Pfarrer von Kirchfeld“ und Gutzkows „Uriel Acosta“ zu sehen war. Gemeinsam mit Ellen Neustädter-Geyer (seine 1916 geschlossene Ehe mit Stefanie Magdziarz war bereits zerrüttet) ging Reuss 1921 nach Hamburg. Nach einem Jahr an den Hamburger Kammerspielen engagierte ihn Leopold Jessner 1922 an das Berliner Staatstheater. Von dort wechselte Reuss 1925 an die Volksbühne, wohin ihm später seine Bühnen- und neue Lebenspartnerin, die Schauspielerin Agnes Straub, folgte. An der Volksbühne hatte er ab 1927 auch Gelegenheit, Regie zu führen. Später verfolgten Straub und Reuss eigene Pläne, so inszenierte Reuss etwa 1930 auf der Versuchsbühne des Theaters am Schiffbauerdamm „Die letzte Nacht“ von Karl Kraus, den Epilog zu „Die letzten Tage der Menschheit“, für den Hanns Eisler die Bühnenmusik geschrieben hatte. Gemeinsam mit Fritz Genschow gründete er 1932 das Kollektiv „Theater der Schauspieler“, dem auch Agnes Straub als Star angehörte. Nach dem Ausscheiden Genschows 1933 wurde daraus das Agnes-Straub-Tournée-Ensemble, das Reuss künstlerisch und organisatorisch leitete.

Anfang der 1920er-Jahre war er auch mit dem Medium Film in Berührung gekommen. Seine erste kleine Rolle hatte er als Apostel Bartholomäus in „I.N.R.I“ (1923), einem Stummfilm, der Stars wie Henny Porten und Asta Nielsen zeigte. Als Nebendarsteller wurde Reuss dann in den Spielfilmen „Flachsmann als Erzieher“ (1930), „Die Jagd nach dem Glück (1929/30) und „,1914‘. Die letzten Tage vor dem Weltbrand“ (1931) besetzt.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte eine jähe Wende. Zwar durfte Reuss dank einer Sonderregelung für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs zunächst noch auftreten, war jedoch zunehmend antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Mit Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935 wurde er „wegen nicht ganz stimmender Voreltern“ (so Reuss sarkastisch in einem Brief) zum Vertriebenen. Auf der Suche nach Beschäftigung kehrte er im Spätherbst 1935 nach Wien zurück, bemühte sich jedoch vergeblich um ein Engagement. Seine Situation wurde noch dadurch erschwert, dass er nach dem Krieg verabsäumt hatte, für die österreichische Staatsbürgerschaft zu optieren, und nun als staatenlos galt. Eine verzweifelte Lage für jemanden, der – so Reuss – mit Herz und Seele Schauspieler war und für den das Leben seinen Inhalt verlor, sobald er es nicht sein durfte.

Ein Älpler in der Josefstadt

Im Frühling 1936 zog sich Reuss in den Salzburger Pinzgau zurück, wo Agnes Straub ein Landgut besaß. Das am Großsonnberg gelegene Anwesen wurde zum Schauplatz einer sorfältig geplanten Verwandlung: Aus Leo Reuss sollte der etwas unbeholfene Bergbauer Kaspar Brandhofer werden, den ein innerer Drang unwiderstehlich zum Theater trieb. Dazu blondierte Reuss sein Haar mittels Wasserstoffsuperoxyd, ließ sich einen Vollbart wachsen und eignete sich den Lokaldialekt an. Nach gelungener Metamorphose bemühte er sich um ein Vorsprechen bei Max Reinhardt. Dieser empfahl ihn nach Wien, wo dem urigen Naturtalent gelang, was dem Profi Leo Reuss nicht gelungen war: Ernst Lothar engagierte ihn für seine Dramatisierung von Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ am Theater in der Josefstadt und kam damit Hermann Röbbeling zuvor, der die Neuentdeckung für die Burg gewinnen wollte.

Schon vor der Premiere ging der ungewöhnliche Fall durch die Zeitungen, so erläuterte Kaspar Brandhofer etwa gegenüber der „Neuen Freien Presse“, wie er auf hochgelegenen Almen beim Vieh oder im Wald bei der Holzschlägerung immer einem Klassiker in seiner Lederhosentasche gehabt und zunächst den Romeo, Melchthal und Hamlet, später Tell und Macbeth einstudiert habe. Sein „Debüt“ in der Rolle des Antiquitätengroßhändlers Herr von Dorsday absolvierte Brandhofer mit Bravour und zur Zufriedenheit der Kritiker. „Ueberraschend fertig der Herr von Dorsday Kaspar Brandhofers, für einen Neuling und Autodidakten des Theaters von erstaunlicher Routine“, urteilte etwa „Das interessante Blatt“ (10. 12. 1936). „Der Wiener Film“ wiederum zählte Brandhofer zu den großen Entdeckungen und mahnt, die Filmproduktion dürfe sich eine solche, anscheinend elementare Kraft nicht entgehen lassen.

Die Ballade vom blonden Bart

Doch keine Woche verging, ehe die Täuschung aufflog. Jene, die schon zuvor gemutmaßt hatten, dass Brandhofer für einen Dilettanten ungewöhnlich routiniert auftrat, fanden sich in ihrem Zweifel bestätigt. Schwer entrüstet aber reagierten die Anhänger der Rassenideologie, die in Brandhofer den Naturburschen begrüßt hatten und nun düpiert waren: Einen in der Wiener Theatergeschichte beispiellosen Skandal witterte das „Wiener Montagblatt“ und hielt es für zutiefst beschämend, welches Spiel sich ein „Art- und Landfremder in der Maske eines Tirolers“ zu treiben erlauben konnte, da damit „einem der in der Geschichte in Ehren bestandenen Stämme Oesterreichs eine schwere Beleidigung zugefügt erscheint“ (14. 12. 1936). Ganz anders der Kritiker des „Neuen Wiener Journal“: „Wie dem aber auch sei, der Erfolg, den dieser Schauspieler in ,Fräulein Else‘ gefunden hat, beweist jedenfalls, dass Kaspar Brandhofer, wenn er auch in Wirklichkeit Leo Reuß heißt, für Wien als Theaterstadt einen Gewinn bedeutet.“ Reuss öffneten sich dadurch jedoch keine Türen. Er durfte den Dorsday zwar noch für die Dauer der Aufführungen von „Fräulein Else“ spielen, später wurde sein Vertrag aber für ungültig erklärt.
Hans Weigel, der den Premierenabend miterlebt hatte, fasste die Geschichte von Leo Reuss in Verse: Seine „Ballade vom blonden Bart“ kursierte als Manuskript unter Freunden. Als Weigel Reuss kennenlernte, überreichte er ihm ein Exemplar, und dieser trug es in einer Runde vor. Die letzte der 24 Strophen lautet:

„Und die Moral von der Geschicht‘:
Begabung braucht man heute nicht
im freien Österreiche.
Es kommt nur auf den Vollbart an!
So streng sind dort die Bräuche …“

Walter Mehring, der sich selbst von der Verwandlung Leo Reuss‘ und der „Blondheit seines ganzen Wesens“ hatte täuschen lassen, schrieb über ihn 1936 eine „Wasserstoffsuperoxyd“ betitelte Miniatur für die Exilzeitschrift „Das neue Tage-Buch“: Darin resümiert er: „Leo Reuss hat die Theaterleute düpiert, indem er noch nach Schluss der Vorstellung weiter gespielt hat. Das ist Kontraktbruch mit der Wirklichkeit, und deshalb wurde der bodenständige Bauer wieder zum heimatlosen Schauspieler degradiert. ,Wie nennt ihr das Stück?‘ ,Die Mausefalle.‘ Aber das war bloss die kleine, die riesengrosse steht noch lockend, sperrangelweit, und anstelle des mangelnden Specks, mit dem sich nur Mäuse fangen lassen, ist eine Flasche drin aufgehängt – eine Flasche mit dreissigprozentigem Wasserstoffsuperoxyd, und der Aufschrift: ,Weltanschauung.‘“

Letzte Wiener Monate

Da Reuss sich für das „Leben im Pseudonym“ (Neues Wiener Tagblatt, 8. 12. 1936) die nötigen Personaldokumente von Kaspar Altenberger, dem Verwalter des Salzburger Straub-Anwesens geliehen hatte, bekam er nun auch die juristischen Folgen zu spüren. Im Jänner 1937 stand er wegen Dokumentenmissbrauchs und Falschmeldung vor dem Bezirksgericht Hietzing und wurde zu hundert Schilling Geldstrafe oder 48 Stunden Arrest bedingt verurteilt.

Künstlerisch boten sich ihm kaum noch Möglichkeiten. Unter dem Namen Brandhofer-Reuss gab er im Februar 1937 einen Vortragsabend im Konzerthaus, wo er u. a. Gedichte von Rilke, Brecht, Zuckmayer, Kraus und Moritz Seeler rezitierte. Auch trat er im Rahmen der Jüdischen Künstlerspiele im Nestroyhof auf und spielte dort u. a. den antisemitischen Untersuchungsrichter Bary in Arnold Zweigs Tragödie „Die Sendung Semaels“ sowie den Mephisto in „Gott, Mensch und Teufel“. Zuletzt engagierte ihn Arthur Hellmer noch für die Rolle des Napoleon in Hans Weigels und Bernard Grüns „Madame Sans-Gêne“ am Theater an der Wien.

In der Emigration – Lionel Royce als Filmschauspieler in Hollywood

Im Herbst 1937 emigrierte Reuss, der inzwischen einen Vertrag bei Metro-Goldwyn-Mayer erhalten hatte, in die USA. Doch weder der ihm zur Seite gestellte Englischlehrer noch der Drama Coach und der vom Publicity Department erfundene neue Name Lionel Royce verhalfen ihm zum Durchbruch. Seine erste, winzige Rolle erhielt er in dem Kostümfilm „Marie Antoinette“, später verkörperte er als Freelancer vor allem den „bad German“ in Anti-Nazi-Filmen. Zu den mehr als 40 Streifen, an denen Reuss mitwirkte, zählten beispielsweise „Confessions of a Nazy Spy“ (1939) und „The Hitler Gang“ (1944), aber auch „Tarzan and the Amazons“ (1945).

Theater spielte er noch einmal mit der Emigrantentruppe The Continental Players unter der Regie Leopold Jessners, als er 1939 in einer englischsprachigen Aufführung den Wilhelm Tell mimte. Zudem engagierte er sich in der Kulturabteilung des German Jewish Club of 1933 in Los Angeles. 1937 hatte Reuss ein zweites Mal geheiratet, doch die Ehe mit Vivienne Bernstein hielt nur kurz. Seine beiden Kinder aus erster Ehe, Grete und Hans, sowie sein Bruder Bernhard waren ihm noch rechtzeitig aus Wien gefolgt, während seine dort verbliebene erste Frau 1943 in Auschwitz ums Leben kam. Sie hatte Juden geholfen und war daraufhin deportiert worden.

Mit seiner dritten Ehefrau Esther de Werner reiste Reuss 1946 zu einer US-Truppenbetreuungs-Tournee auf die Philippinen. In Manila starb er kurz nach seinem 55. Geburtstag am 1. April 1946 an Herzversagen.

Tiroler Reis-Auflauf à la Tante Jolesch

Unter dem Titel „Tiroler Reis-Auflauf. Eine Reminiszenz an den Fall Brandhofer“ erzählte Friedrich Torberg 1966 die Geschichte Reuss‘ in seiner Anekdotensammlung „Die Erben der Tante Jolesch“. Er schließt seine Erinnerungen mit den Worten: „Es war die größte Rolle im Leben des Schauspielers Leo Reuss, die Rolle eines Verstellers, der sich vor anderen Verstellern verstellen mußte, eine Köpenickiade unter lauter Hauptmännern von Köpenick. Wir werden nimmer ihresgleichen sehen. Hoffentlich.“

Eine literatische Bearbeitung erfuhr das Schicksal von Leo Reuss zuletzt durch Felix Mitterer. Sein mit dichterischen Freiheiten ausgestattetes Theaterstück „In der Löwengrube“ hatte im Jänner 1998 am Wiener Volkstheater Premiere.


Literatur: NFP, 1. 12. 1936; Der Wiener Film, Neues Wiener Journal, Neues Wiener Tagblatt, 8. 12. 1936; Neues Wiener Journal, 10. 12. 1936 (mit Bild); Wiener Montagblatt, 14. 12. 1936; W. Mehring, in: Das neue Tage-Buch (Paris – Amsterdam), 26. 12. 1936; Die Fackel; ÖBL; Tagbl.Archiv (mit Karikaturen); H. Weigel, Gerichtstag vor 49 Leuten. Rückblick auf das Wiener Kabarett der dreißiger Jahre, 1981, S. 195ff.; H. Haider-Pregler, in: Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre, ed. dies. – B. Reiterer, 1997, S. 256ff.; G. Hoffer, in: Mit der Ziehharmonika 8, 1991, Nr. 1, S. 19f. (mit Bild); H. Haider-Pregler, Überlebenstheater. Der Schauspieler Reuss, 1998 (mit Bild); Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933–1945, ed. F. Trapp u. a., 2/2, 1999; R. Ulrich, Österreicher in Hollywood, 2004, S. 416ff. (siehe unter Royce, mit Bild); G. v. Ambesser, Die Ratten betreten das sinkende Schiff. Das absurde Leben des Schauspielers Leo Reuss, 2005 (mit Bild); F. Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten und Die Erben der Tante Jolesch, 2008, S. 621ff.; H. Haider-Pregler, „The actor who hoaxed the Nazis“. Das Überlebenstheater des Schauspielers Leo Reuss, in: Das Theater in der Josefstadt, ed. G. M. Bauer – B. Peter, 2010, S. 95ff. (mit Bild); M. Mürkl, „Leo Reuss – Der Bergbauer in der Josefstadt“, phil. DA Wien, 2012 (mit Bild); KA, UA, Wien.


 (Eva Offenthaler)