Am 12. Dezember 1865 wurde die II. Lehrkanzel der Chirurgie an der medizinischen Fakultät der Universität Wien durch den plötzlichen Tod des Chirurgen Franz Schuh vakant. Schuh, der die erste Punktion eines Herzbeutels durch- und die Äthernarkose in Österreich eingeführt hatte, war es gelungen, die Chirurgie in Wien weg vom Handwerk hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu führen. Dennoch schien es schwierig, einen geeigneten Nachfolger zu finden. Unter den Wunschkandidaten des medizinischen Professorenkollegiums befand sich der damalige Primararzt der II. chirurgischen Abteilung Franz Ulrich. Die angebotene Position lehnte er zwar ab, aber der heute vergessene Allround-Mediziner hatte einige bedeutende Leistungen vor allem im operativ gynäkologischen und im - aus heutiger Sicht - notfallmedizinischen Bereich vollbracht.
Franz Xaver Ulrich wurde am 17. November 1816 als Sohn eines Tuchmachers in Mährisch-Trübau geboren. Über seine Schulausbildung ist nichts bekannt. Nachdem er die philosophischen Jahrgänge in Brünn absolviert hatte, begann er 1834/35 sein Medizinstudium in Wien, das er 1841 mit der Promotion zum Doktor der Medizin abschloss. 1842 graduierte er zum Doktor der Geburtshilfe und 1844 zum Doktor der Chirurgie. Bereits ab 1843 vertiefte er seine chirurgische Ausbildung unter Joseph Freiherr von Wattmann-Maelcamp-Beaulieu im Operateurinstitut des Wiener Allgemeinen Krankenhauses und schloss diese 1845 mit dem Diplom eines Operateurs ab. Anschließend wirkte Ulrich bis 1849 als Sekundararzt, danach bis 1858 als supplierender Primararzt an der IV. chirurgischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses. 1858-64 war er als definitiver Primararzt an der II. chirurgischen Abteilung angestellt. 1864 wurde er zum Medizinalrat und Direktor der Krankenanstalt Rudolph-Stiftung (heute Klinik Landstraße) ernannt, die im Jänner 1865 ihren Betrieb aufnahm. Neben der ärztlichen Direktion stand Ulrich dort auch der gynäkologischen Station vor.
Ende April 1866 wurde er vom medizinischen Professorenkollegium einstimmig als Nachfolger für die durch Schuhs Tod vakant gewordene Lehrkanzel vorgeschlagen. Nach dreitägiger Bedenkzeit lehnte Ulrich dieses Angebot ab, da er „nicht mehr in jenem Alter“ stehe, „in welchem man gewissenhaft dem schweren Berufe eines Professors der praktischen Chirurgie entsprechen“ könne. Statt ihm kam Theodor Billroth. Ende März 1870 wurde Ulrich zum Ministerialrat und Sanitätsreferenten im Ministerium des Innern ernannt. Im Rahmen dieser Tätigkeit vertrat er die Habsburgermonarchie auf internationalen Konferenzen zur Seuchenbekämpfung. 1876 zwang ihn ein Nervenleiden in den vorzeitigen Ruhestand.
Ulrichs ärztliche Tätigkeit sowie seine Publikationen demonstrieren ein breites Spektrum an chirurgischen Fähigkeiten. Er befasste sich mit Fragen zur Chirurgie des Bauches, zur Zahnmedizin, zur Unfallchirurgie, zur Krebstherapie, aber auch zu Wiederbelebungsmaßnahmen. In seinen Anfangsjahren galt sein Interesse zunächst den Darmdurch- und anderen Eingeweidebrüchen. 1852 verfasste er eine zahnmedizinische Untersuchung „Über feste Neubildungen in der Zahnhöhle“ (in: Zeitschrift der kais. kön. Gesellschaft der Aerzte zu Wien) sowie 1855 eine Abhandlung über „Gutta-percha-Verbände bei Knochenbrüchen“ (ebendort). Guttapercha, ein kautschukähnliches Naturprodukt, hatte die Eigenschaft „in heissem Wasser teigartig knetbar zu werden und die ihr im weichen Zustande gegebene Form nach dem Erkalten unverändert zu behalten“ und eignete sich so laut Ulrich hervorragend als Schienungsmaterial. Diese Möglichkeit der Ruhigstellung wurde daher damals in der Ärzteschaft im Vergleich zu Gips- oder Kleisterverbänden viel diskutiert. Ulrich empfahl diese Methode für komplizierte Brüche, die eine umfangreiche Stabilisierung erforderten, gleichzeitig aber feucht werden konnten, wenn Umschläge nötig waren. Darüber hinaus bot der Guttapercha-Verband die Möglichkeit, durch Umformung rasch an den Heilungsprozess der Extremitäten angepasst zu werden, wenn beispielsweise die Schwellung rund um den Bruch zurückging. Allerdings musste Ulrich zugeben, dass der Einsatz dieser Schienungsmöglichkeit ein intensives Training und eine gewisse Geschicklichkeit voraussetzte. Ebenfalls in dieser Ausgabe der Zeitschrift der Gesellschaft der Ärzte wurde sein „Bericht und Gutachten über Landolfi’s Ätzverfahren“, eine speziell entwickelte ätzende Paste, die der italienische Chirurg Nicola Landolfi drei Monate in Wien an Krebspatienten getestet hatte und die kontroversiell diskutiert wurde, veröffentlicht. Ulrich attestierte der Paste eine gute Wirkung im Vergleich zu anderen Produkten, warnte aber davor, sie als Allheilmittel anzusehen und forderte, die Anwendung individuell auf den Patienten abzustimmen.
Einen besonderen Ruf erwarb sich Ulrich bei gynäkologisch-urologischen Eingriffen und wurde nicht zuletzt von seinen Fachkollegen als „Meister der Fistelchirurgie“ bezeichnet. Diesbezüglich stand er in regem Austausch mit dem ehemaligen Leibarzt des Schahs Jakob Eduard Pollak (eigentlich Polak), einem Pionier der modernen Urologie in Persien. So hielten sie auch gemeinsam Vorträge über die Operation von Blasen-Scheiden-Fisteln in der Gesellschaft der Ärzte in Wien. In einer mehrteiligen Serie stellte Ulrich seine Patientenfälle unter dem Titel „Operirte Blasen-Scheiden-Fisteln“ im „Wochenblatt der Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien“ 1863–66 vor. Ulrich gelang es nicht nur die bisherigen Operationstechniken zu modifizieren, sondern auch die urologische Chirurgie enger an die Gynäkologie zu binden. Das war ein wichtiger Schritt, denn gerade Harnfisteln galten als häufige Komplikation bei Geburten.
Darüber hinaus galt Ulrich als ein Experte für Narkose und Lokalanästhesie. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Diskussionen um Nützlichkeit oder Gefahren der Chloroformnarkose immer intensiver wurden, bildete die Gesellschaft der Ärzte ein Komitee, bestehend aus dem Mediziner, Professor für Chemie und Mittelschuldirektor Franz Rágsky, Franz Ser. Cölestin von Schneider, Karl Damian von Schroff und Franz Ulrich, das die Wirkung des Chloroforms überprüfen sollte. Die Kommissionsmitglieder kamen zu dem Ergebnis, dass sowohl die Chloroform- als auch die Äthernarkose bedenkenlos angewandt werden können und einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass langwierigere und komplizierte operative Eingriffe ohne Zeitdruck für den Chirurgen möglich waren. Ulrich war sich aber sehr wohl bewusst, dass trotz aller Vorteile eine Narkose zur Atemdepression oder sogar zum Atem- bzw. Herzstillstand führen konnte. So galt sein Interesse den in diesem Fall notwendigen Wiederbelebungsmaßnahmen. 1858 erschien seine ausführliche Publikation „Ueber Lebensrettung bei Asphyxie nach Chloroform- oder Aether-Einathmung“. Darin vermittelte er die bis heute so wichtige Erkenntnis, dass die rasche Herzdruckmassage bei Reanimationspflichtigen das Überleben sicherstellen kann und dass man dazu ‒ außer Kraft zum Pumpen ‒ keine medizinischen Gerätschaften benötigte. „Es ist daher eine um so erfreulichere Erfahrung, dass man Asphyktische, so lange sie rettbar sind, auch ohne den Inhalt eines Rettungskastens, bloss durch den Gebrauch seiner flachen Hände, u. z. sicherer und schonender, als mit jedem anderen Mittel retten könne.“ 1860 befasste sich Ulrich mit „Erfahrungen über die künstliche Eröffnung der Luftwege“ (in: Zeitschrift der kaiserl. königl. Gesellschaft der Aerzte zu Wien) und interessierte sich aus notfallmedizinischer Sicht für den Luftröhrenschnitt.
Ulrich, Hofrat und Medizinalrat, wurde 1854 zum Mitglied der Gesellschaft der Ärzte gewählt und 1857 in das Doktorenkollegium aufgenommen. 1866 erhielt er das Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens, 1867 das Ritterkreuz des königlich sächsischen Albrechts-Ordens, 1875 den ottomanischen Mecidiye-Orden III. Klasse und 1876 den kaiserlich russischen St. Annen-Orden II. Klasse.
Am 22. August 1893 starb er verwitwet nach langer Krankheit in seinem Haus in Ober-Döbling.
Weitere Werke: Zur Entfernung fremder Körper aus der Harnröhre, in: Zeitschrift der kais. königl. Gesellschaft der Aerzte zu Wien 15, 1859; Ein Einstellungsapparat zur Operation der Blasenscheidenfistel, in: Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien 19, 1863 (Wochenblatt Beilage); Zur Digitalcompression der Arterien bei Aneurysmen, ebendort.
Literatur: Salzburger Zeitung, 19. 10. 1864, 31. 1. 1876; Neue Freie Presse, 4. 4. 1870; Deutsches Volksblatt, 23. 8. 1893; Wiener Klinische Wochenschrift 6, 1893, S. 450, 649; Wiener Medizinische Wochenschrift 43, 1893, Sp. 1472; A. Gerold, in: Mittheilungen des Wiener medicinischen Doctoren-Collegiums 19, 1893, S. 153ff.; K. H. Tragl, Chronik der Krankenanstalten, 2007, s. Reg.; K. H. Tragl, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien seit 1838 als Geschichte der Medizin, 2011, s. Reg.; Pfarre Döbling, Universitätsarchiv (mit Bild), beide Wien.
(Daniela Angetter)
Wir danken für die kostenlose Bereitstellung des Porträtfotos dem Archiv der Universität Wien.