„Reimmichl“: Der Tiroler Priesterdichter
Sebastian Rieger (1867–1953)

Im Vergleich zu seiner immensen Popularität vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Volksschriftsteller Sebastian Rieger alias Reimmichl, dessen 150. Geburtstag in diesem Monat begangen wird, heute weitgehend vergessen. Lediglich sein Volkskalender und der Longseller „Weihnacht in Tirol“ (Erstausgabe 1948) sind noch präsent, während anderes aus seinem Œuvre längst und aus verschiedenen Gründen aus den Regalen der Buchläden verschwunden bzw. nur noch in Antiquariaten zu finden ist.

Frühe Berufungen: Soutane und Feder

Sebastian Rieger wurde am 28. Mai 1867 nahe St. Veit in Defereggen (Osttirol) als erstes von fünf Kindern des Ehepaars Johann und Maria Rieger geboren und noch am selben Tag auf den Namen seines Patenonkels getauft. Sein Vater war zu dieser Zeit – wie viele Deferegger – als reisender Händler in ganz Europa unterwegs und nur selten zuhause, weswegen vor allem seiner Mutter die Erziehung des Nachwuchses, der Haushalt und die Verwaltung einer kleinen, eigenen Landwirtschaft oblag; von ihr soll der spätere Priesterdichter sein vielfältiges Erzähltalent geerbt haben: „[Sie] war eine redeselige Frohnatur, wusste immer neue Geschichten zu erzählen, liebte treffsichere Vergleiche, kräftige Sprüche und bildhafte Sprache.“

Schon während der Schulzeit fiel die große sprachliche Begabung des jungen Sebastian seinen Lehrern und Mitschülern auf, und durch die Vermittlung des örtlichen Pfarrers kam er schließlich auf das Gymnasium Vinzentinum in Brixen  (Südtirol), wo er schon bald seine ersten ernstzunehmenden literarischen Versuche niederschrieb und im Jahr 1888 seine Reifeprüfung ablegte. Gleich im Anschluss ging der frischgebackene Maturant „übers Brüggele“, wie man den Eintritt ins Brixner Priesterseminar damals scherzhaft umschrieb. Dort studierte er die folgenden vier Jahre recht fleißig und bildete sich schriftstellerisch weiter, indem er einerseits die hausinterne Studentenzeitung „Schwarzes Blatt“ erfolgreich redigierte und sich andererseits in verschiedenen literarischen Genres versuchte, u. a. in Krippen- und Volksschauspielen bzw. dem Verfassen mehrerer zeitkritischer Aufsätze, wie jenem „Über das Fremdenwesen und seine Gefahren“ (1890), worin bereits sein Schreibstil und seine Themen gewissermaßen vorweggenommen waren. Nach seiner Priesterweihe am 29. Juni 1891 im Dom zu Brixen und einem weiteren Studienjahr begann Sebastian Rieger ab 1892 sowohl seine seelsorgerische, als auch seine schriftstellerische Tätigkeit mit schier unermüdlichem und lebenslangem Eifer.

 

Wirkstätten und Lebensstationen: landauf, landab

Eine ebenso wohlmeinende wie zutreffende Einschätzung der weiteren Lebensleistung von Reimmichl traf der ebenfalls schriftstellerisch tätige Kunsthistoriker und Probst Josef Weingartner (1885–1957) zum sechzigsten Geburtstag seines Freunds Rieger: „Nicht immer bildet die amtliche Karriere auch den Gradmesser für die wirkliche Tätigkeit eines Menschen, und gerade der Reimmichl ist dafür ein prächtiges Beispiel. Wohl hat ihm der Papst [Pius Pius XI.] den schönen Titel des Geheimkämmerers [1923] verliehen, aber in seiner sonstigen geistlichen Laufbahn hat es der Monsignore nur zum Kooperator, zum Expositus und schließlich zum Benefizianten gebracht und es ist kaum wahrscheinlich, dass er noch einmal zum Pfarrer aufsteigen wird. Wie aber der Reimmichl den Titel eines Geheimkämmerers führt, ohne jemals Kämmererdienste geleistet zu haben, so übt er umgekehrt schon seit Jahrzehnten das Amt eines Pfarrers aus, ohne je diesen Titel geführt zu haben. Und der gewöhnliche Pfarrtitel würde seine seelsorgerische Tätigkeit auch gar nicht genügend ausdrücken, denn der Reimmichl ist nicht der Pfarrer irgendeiner kleineren oder größeren Ortschaft, nein, er ist der Pfarrer von ganz Tirol.“

Nach der Weihe zum Priester wechselte Sebastian Rieger in rascher Folge seine Wirkungsorte: Sexten (1893), Dölsach (1894), Sand in Taufers (1897), Gries am Brenner (1898) und Heiligkreuz bei Hall in Tirol (1914-1953), die letzte und zugleich längste Station seines pastoralen Wirkens, welches zwar nie nur Nebensache war, aber ebenso wenig den alleinigen Dreh- und Angelpunkt seiner Neigungen und Bestrebungen bildete. Diese lagen von Anfang an im Schreiben.

Bereits als Hilfspfarrer verfasste er ab 1893 unter dem Titel „Spiegelbilder des Landlebens“ regelmäßig Beiträge für den „Tiroler Volksboten“; zuerst noch unter seinen Namensinitialen, bald danach jedoch schon unter seinem selbst gewählten Pseudonym „Reimmichl“. Im Jahr 1897 wechselte er als Vertretung des späteren Erzbischofs von Salzburg, Sigismund Waitz (1864-1941), in die Redaktion der „Brixner Chronik“, die er nach etwa einem Jahr leitend übernahm und mit wachsendem Erfolg weiterführte. Zur gleichen Zeit erschien sein erstes Buch „Aus den Tiroler Bergen“, das zu seiner damals schon vorhandenen Bekanntheit als Schriftsteller ein Übriges beitrug und Sebastian Rieger alias Reimmichl zum unumstrittenen Tiroler Volksschriftsteller nach dem Zuschnitt eines Peter Rosegger (1843–1918) machte, mit welchem er bis heute oft verglichen wird.

Über sechs Jahrzehnte prägte Reimmichl mit seinen unzähligen und mehrfach aufgelegten Büchern, Artikeln und nicht zuletzt seinem „Volkskalender“ (ab 1920) die heimische Literatur und trug wie kein Zweiter vor oder nach ihm zur Alphabetisierung der Tiroler Landbevölkerung und deren religiöser, politischer und sozialer Bildung bei.

 

Würdigung und Kritik eines langen Schriftstellerlebens

Als Sebastian Rieger nach schwerer Krankheit am 2. Dezember 1953 starb, war die Anteilnahme überwältigend groß; sogar internationale Zeitungen wie der „Daily Telegraph“ in London berichteten über das Ableben des gefeierten Tiroler Priesterdichters. Der damalige Bischof von Innsbruck, Paulus Rusch (1903-1986), sagte auf der Beerdigung über ihn: „Reimmichl hat Bücher geschrieben, wie bekannt ist, die in Hunderttausend hinausgegangen sind ins Tiroler Land und hinein in jedes Tiroler Haus. Und dort hat er ganz unauffällig für ganz Tirol gepredigt. Also kann man schon sagen ‚Pfarrer von Tirolʻ.“ Diese Verehrung im Leben und an dessen Ende schlug später jedoch ins Gegenteil um, und allmählich wurde Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre maßgebliche Kritik an Reimmichl laut; seine Ansichten und damit die meisten seiner Schriften seien streng klerikal und stark repressiv gewesen, hätten eine hierarchische Gesellschaftsordnung vertreten und wiesen u. a. kriegstreiberische wie antisemitische Tendenzen auf.

Dieses Urteil hält sich bis heute hartnäckig, obwohl es nicht ganz stimmt bzw. zu undifferenziert an die komplexe Persönlichkeit Sebastian Riegers und das umfassende Werk des Schriftstellers Reimmichl herangeht. Vor allem der Vorwurf, er sei ein aufrechter Antisemit gewesen, muss noch genauer untersucht werden, da er zwar augenscheinlich einem vorkonziliaren, kirchlichen Antijudaismus (dem letztlich erst auf dem 2. Vatikanischen Konzil abgeschworen wurde), aber bestimmt nicht dem rassisch motivierten Judenhass des Nationalsozialismus anhing. Überhaupt konnte er mit Hitler sowie dessen Gesinnungsgenossen von Beginn an nichts anfangen, wie u. a. ein Zitat aus dem Jahr 1924 beweist: „Der bekannte Hitler, ein Mann, der nicht viel im Kapitolium, aber desto mehr auf der Windmühl, soll heißen auf der Zunge hat, bildet sich ein, er sei berufen, der Retter Deutschlands zu werden. […] Es wurde in Bayern eine regelrechte Verschwörung angezettelt und am 9. November [1923] ging der Putsch los. […] Wenn der Plan gelungen wäre, hätten sie [Hitler und seine Anhänger] den vollständigen Untergang Deutschlands heraufbeschworen.“

Unter dem Strich bleibt ein arbeitsreiches Leben; einerseits für den christlichen Glauben und die römisch-katholische Kirche, andererseits für die Tiroler Bevölkerung im Besonderen, die Sebastian Rieger als Reimmichl im besten Sinne „bilden, erziehen und unterhalten“ wollte.

Heute wie damals sind seine Bücher durchaus noch lesenswert; manche aus literarischem, manche aus soziologischem, manche aus historischem Gesichtspunkt. Oder wie es ein anderer Tiroler Priesterdichter, „Volksbischof“ Reinhold Stecher (1921–2013) zum 50. Todestag von Sebastian Rieger ausdrückte: „Das Tirolbild Reimmichls ist wohl ins Grab der Geschichte gesunken. Es war in gewisser Hinsicht ein liebenswürdiges Märchen, ein idealisierter Traum, der aber viele Menschen bewegt hat, wie eben schon immer Reimer, Dichter und Literaten oft ein nicht ganz wirklichkeitsgetreues Bild der Welt entfaltet haben, sondern geheime Wünsche ausdrücken, wie es sein sollte und wie man es sich wünschte […] Es war eine süße Verzeichnung der Wirklichkeit. Aber vergessen wir nicht, dass wir heute oft mit der sauren Verzeichnung der Realität konfrontiert werden.“


Weitere Werke: Der Frauenbichler, 1905; Die Glocken vom Hochwald, (1917); Der Wetzsteinhans, (1920); Die Tochter des Landschelms, (1922); Der Bergnarr und andere Geschichten aus Tirol, (1923); Der Tuifelemaler, 1924; Das Mädchen von St. Veit, (1922); Der Gemsenhirt, 1934; Das Auge der Alpen, 1924; Die Schützen, 1926; Der Fahnlbua und andere Erzählungen, 1928; Das Schwarzblattl, 1928; Der Fexpeter und andere Schwänke, 1929; Der Geizkragen, 1929; Das Heimchen, 1930; Der Judas von Haldernach, 1929; Der Buckel-Muckel, 1931; Der wilde Jäger, 1931; Das Kapuzinerbübl, 1933; Der Sonnenring, 1933; Heinrich der Stolze, 1935 (später als Das dunkle Gasthaus neu aufgelegt); Die Zigeunerin, 1935; Die gestohlene Braut, 1937; Die Wetterhexe, 1942; Die Wintersennin, 1947; Die Großglocknermaid, 1948; Der Pfarrer von Hohental, 1951; Das Lied der Königin, 1953.

 

Literatur: Reimmichl – Eines Volksdichters Leben und Schaffen, 1927; H. Brugger, Der Pfarrer von Tirol – Reimmichl und seine Geschichten, 1974; Tirol isch lei oans – Tiroler Geschichten und Bergerlebnisse, ed. W. W. Sackl, 1977; Reimmichl- Hausbuch, ed. W. W. Sackl, 2. Aufl. 1989; M. Reiter, Mei Liab ist Tirol – Ist mei Weh und mei Wohl. Reimmichl – der Tag- und Nachtschreiber Gottes, 1992; Das große Reimmichl-Lesebuch, ed. P. Muigg, 2016; M. Kolozs, Zur höheren Ehre – Die Tiroler Priesterdichter Reimmichl, Bruder Willram, Josef Weingartner und Reinhold Stecher, 2017.


(Martin Kolozs)


 

Wir danken dem Bildarchiv Austria der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien) sowie Elisabeth Bergmann (Lienz) und Marieluise Fischerleitner (Thaur) für die Bereitstellung von Bildmaterial.