Neumarkt, Karte
Text: Marion Gollner
Obwohl die Osmanen nur ein einziges Mal, nämlich im Jahr 1480, an Neumarkt vorbeizogen, die Ungarn den Ort jedoch mehrere Jahre lang besetzt hielten, erinnert noch heute ein bemalter Türkenkopf an „den letzten in Neumarkt getöteten Türken“ (von der Sann 1890: 36). Nachforschungen haben allerdings ergeben, dass die in Sagenbüchern verbreiteten Erzählungen über angeblich verübte Gräueltaten der Osmanen oftmals jeder historischen Grundlage entbehren und manche Untaten den ‚Türken‘ zu Unrecht nachträglich angelastet wurden.
Türkenkopf – Türkengasse – Türkenegg
An der Fassade des einstigen Gasthauses „Zum Mohren“ in der ‚Türkengasse‘ – genau genommen im so genannten ‚Türkenegg‘ – ist bis heute eine bemalte Figur sichtbar, die über einem Fenster eingemauert wurde und einen ‚Türken‘ darstellen soll. Neben dem Schnurrbart deuten die Kopfbedeckung und der bis zu den Schultern erkennbare Kleidungsstil darauf hin. Die Farbe ist jedoch schon weitgehend verblasst. Wann dieser ‚Türkenkopf‘ angebracht wurde, ist unklar. Dem Historiker Walter Brunner zufolge soll er sich seit dem 19. Jahrhundert „nachweislich“ dort befunden haben (vgl. Brunner 1985: 201).
Die Sage vom Jammerschuster
Die Sage vom Jammerschuster
Die Sage vom „Jammerschuster“, die vermutlich zur Anbringung der ‚Türkenfigur‘ inspirierte, fand ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Sagensammlungen Verbreitung. Eine federführende Rolle nahm hierbei der aus der Untersteiermark (Cilli) stammende deutschnational gesinnte Schriftsteller, Lehrer und Sagensammler Johann Krainz ein, der auch unter dem Pseudonym Hans von der Sann publizierte und längere Zeit in der Obersteiermark lebte (vgl. Barbarics-Hermanik 2010: 13). So gelangten über Johann Krainz auch wertvolle Bestände in den Besitz des Gemeindearchivs Neumarkt (vgl. ÖBL 1969: 195). In der 1879 erschienen Ausgabe „Sagen aus Steiermark“ finden sich auch einige Bezugnahmen auf das Jahr 1480, als türkische Heerscharen in weite Teile der Obersteiermark eindrangen.
Unter dem Titel „Die Türken in Neumarkt“, der im Grunde genommen nicht den historischen Begebenheiten entspricht, da die Osmanen an dem befestigten Ort lediglich vorbeizogen, schildert Krainz (1879: 4–5) eine Begebenheit, die sich während der angeblichen Belagerung des Marktes zugetragen haben soll:
Ein „grimmiger Türke“ drang in die Wohnung des so genannten Jammerschusters ein und verlangte von ihm, seine Schuhe zu reparieren. Währenddessen eilten Männer der benachbarten Ortschaft St. Veit den Neumarktern zu Hilfe und vertrieben die Osmanen aus dem Markt. Nur der „wilde Mordbrenner“, der dem Schuster „durch sein drohendes Aeußeres und ungestümes Auftreten […] furchtbaren Schrecken einjagte“, blieb als einziger zurück. Da diesem die Reparatur des kaputten Schuhwerks aber zu lange dauerte, wurde er wütend und „hieb den armen Mann mit seinem Schwerte vom Sessel herab“. Nach dieser Bluttat versuchte der Osmane zu flüchten, wurde aber von der erzürnten Schustersfrau und einigen „mit Mist- und Ofengabeln bewaffneten“ Nachbarinnen eingeholt und erschlagen. Seither erinnern das ‚Türkengassel‘ und der dort angebrachte ‚Türkenkopf‘ an diesen Vorfall aus dem Jahr 1480, wie Krainz am Ende der Sage hinzufügt.
Während in der Krainz’schen Sagensammlung aus dem Jahr 1879 noch die „Heldenthat einiger alter Weiber von Neumarkt“ hervorgehoben wird, so war es ein Jahr später bereits „die Erinnerung an den letzten Türken, welcher hier erschlagen wurde“ (Krainz 1880: 54) – eine Formulierung, die sich bis heute in zahlreichen Sagensammlungen wiederfindet (vgl. z.B. SAGEN.at). In der umfangreichen Sammlung „Türken, Pest und Habergeiß“ von Walter Brunner aus dem Jahr 1986 scheint die Sage vom Jammerschuster jedoch nicht mehr auf – und das mit gutem Grund.
Die ‚Türken‘ als Sündenböcke
Die ‚Türken‘ als Sündenböcke
Der Historiker Walter Brunner veröffentlichte nicht nur eine Sagensammlung zum „Aichfeld und seinen Nebentälern“, wie es im Untertitel heißt, sondern auch eine Ortschronik der Marktgemeinde Neumarkt. Bei seinen Recherchen fand er keine Anhaltspunkte, die den Mord am Jammerschuster belegt hätten. Historisch erwiesen sei lediglich, „daß die Türken den von den Neumarktern stark befestigten und verteidigten Markt nicht eingenommen haben, sondern an ihm vorbeigezogen sind.“ (Brunner 1985: 201). Im Vergleich zu diesem einschneidenden, jedoch einmaligen Ereignis hätte die Bevölkerung viel mehr unter den regelmäßigen Durchmärschen kaiserlicher Soldaten gelitten, die – wie Brunner zurückhaltend formuliert – auch „nicht die zartesten Leute“ waren und „schon allein durch ihre Anwesenheit Unruhe, Angst und nicht selten Mord und Totschlag in den Markt [brachten]“ (ebd.).
So berichten Prozessakten beispielsweise von einem Mordfall aus dem Jahr 1760, bei dem ein Geselle des Schustermeisters Hans Georg Moschitz von einem Karlstädter Kroaten des Lucanischen Infanterieregiments mit einem Messer erstochen wurde, weil dieser sich geweigert hatte, dessen Schuhe spätabends zu reparieren. Auch der herbeieilende Schustermeister wurde im Zuge dieser Auseinandersetzung lebensgefährlich verletzt. Diese auffallenden Parallelen brachten Brunner schließlich zur Überzeugung, dass diese viel später verübte Bluttat eines kaiserlichen Soldaten der wahre Kern der Sage vom Jammerschuster sei. Erst im Nachhinein wurde sie dann „den Türken in die Schuhe geschoben“ (Brunner 1985: 201).
Parallelen zur Geschichte vom Postmeister Guganigg
Parallelen zur Geschichte vom Postmeister Guganigg
Ähnlich verhält es sich mit der Sage vom „Postmeister Guganigg“, die bei Johann Krainz erstmals 1880 unter dem Titel „Schwergebüßte Neugier“ auftaucht und ebenfalls über einen angeblichen Vorfall aus dem Jahr 1480 berichtet: Als die ‚Türken‘ durch Neumarkt durchzogen, soll sich ein neugieriger Postmeister namens Guganigg aus dem Fenster gelehnt haben, um die „phantastischen Trachten der Feinde mit größter Ruhe und ohne alle Anzeichen von Angst und Schrecken“ (Krainz 1880: 55) zu betrachten. Auch die „grimmigen Blicke“ und Drohungen der ‚Türken‘, „gewohnt, durch ihr Erscheinen allein schon den Christen Furcht und Entsetzen einzujagen“, konnten ihn nicht einschüchtern. Diese Neugier soll er schließlich mit dem Leben bezahlt haben: Der Pfeil eines Janitscharen traf ihn mitten in die Brust.
Als angeblichen Beweis für den Wahrheitsgehalt dieser Sage nennt Krainz ein Fresko am „Baron Duval’schen Hause in Neumarkt“, das den Postmeister Guganigg dargestellt haben soll. Zwar sei dieses Bild „in Folge einer Übertünchung spurlos verschwunden“, das Gebäude trage jedoch noch immer den Namen „alte Post“, wie Krainz hinzufügt. Doch auch hier stellte sich heraus, dass der besagte Postmeister Blasius Guganigg nicht zur Zeit des ‚Türkeneinfalls‘ von 1480 lebte, sondern zur Zeit der Franzosenkriege um 1800 (vgl. Brunner 1985: 203).
Wie bei der Sage vom Neumarkter Jammerschuster wurde auch hier ein historisch belegtes Ereignis aus dem Kontext gerissen, mehrere Jahrhunderte nach hinten datiert und nachträglich den ‚Türken‘ angelastet – was durchaus ins Bild des blutrünstigen ‚Erbfeindes der Christenheit‘ passte. Verbrechen innerhalb der ‚eigenen Reihen‘, verübt von kaiserlichen bzw. verbündeten Soldaten, standen zwar ebenso auf der kriegerischen Tagesordnung, wurden in der Geschichtsschreibung jedoch allzu gerne ausgeklammert oder „verfremdet“.
Feind ist nicht gleich Feind
Im Vergleich zur Oststeiermark, die immer wieder von osmanischen Truppen heimgesucht wurde, blieb die Obersteiermark – und so auch die Marktgemeinde Neumarkt – aufgrund ihrer gebirgigen Lage weitgehend verschont. Nur im Jahr 1480 wurde der Ort von gleich zwei Feinden gleichzeitig bedroht: den Ungarn und den Osmanen. Während die ‚Türken‘ am 6. August über Kärnten kommend am befestigten Neumarkt vorbeizogen und stattdessen die umliegenden Gebiete verwüsteten, war der ungarische König Matthias Corvinus, der vom Erzbistum Salzburg unterstützt wurde, mit seinen Truppen bereits früher in die Steiermark einmarschiert. Sein Feldhauptmann Hans Haugwitz zog dabei mit rund 1500 Mann in die Obersteiermark und belagerte gerade den befestigten Ort Neumarkt, als die Osmanen im August 1480 anrückten. In der Hoffnung, sich gegen die ‚Türken‘ gemeinsam besser zur Wehr setzen zu können, sollen die Neumarkter den ungarischen Belagerern schließlich die Tore geöffnet haben. Zwar hatten die Neumarkter die ‚Türkengefahr‘ so relativ glimpflich überstanden, die Ungarn wurden sie jedoch nicht so bald los, wie Brunner (1985: 201) hinzufügt. Ganze sechs Jahre hielten die Ungarn Neumarkt weiter besetzt, bis der Markt 1486 von kaiserlichen Truppen zurückerobert werden konnte, wie auf einer Gedenktafel an der Außenmauer von Schloss Forchtenstein nachzulesen ist. Die dadurch entstandenen Schäden sollen so schwerwiegend gewesen sein, dass es mehrere Jahre dauerte, bis sich der Ort davon erholte.
Verglichen mit dem einmaligen Einfall der Osmanen hat die sechsjährige Anwesenheit der Ungarn erstaunlicherweise fast keinen Niederschlag im kollektiven Gedächtnis der Region gefunden. Dies betrifft sowohl Ortsbezeichnungen als auch Sagen und Legenden. So gibt es beispielsweise eine ‚Türkengasse‘, aber keine ‚Ungar(n)gasse‘ oder Ähnliches. Auch bei Johann Krainz findet sich keine einzige Episode zur ungarischen Belagerung Neumarkts. Und selbst auf dem berühmten Gottesplagenbild am Graz Dom werden nur ‚Türkn, Pestilentz und Haberschreckh‘ genannt, nicht aber die Ungarn, obwohl diese seit dem 11. Jahrhundert immer wieder in die Steiermark einfielen und – ebenso wie die Osmanen und kaiserlichen Truppen – weite Landstriche verwüsteten, wie u.a. beim Historiker Fritz Posch nachzulesen ist:
Die Einfälle und Plünderungen der ungarischen Rebellen sowohl wie die Übergriffe der eigenen Soldateska waren eine furchtbare Heimsuchung für die Bevölkerung an der Grenze, besonders für die Bauern, die keinen Schutz hatten. Viele wurden bei den Einfällen gefangengenommen und verschleppt. (Posch 1983: 10)
Während das Feindbild ‚Türke‘ so über die Jahrhunderte hindurch relativ stabil blieb und, wie die Beispiele vom Jammerschuster und vom Postmeister Guganigg gezeigt haben, teilweise bewusst konstruiert bzw. manipuliert wurde, verlor das Feindbild ‚Ungar‘ offenbar bald seine Funktionalität.
Literatur
Literatur
Barbarics-Hermanik, Zsuzsa (Hg.) (2010): Türkenbilder und Türkengedächtnis in Graz und in der Steiermark. Katalog zu einer Ausstellung aus Anlass des Jubiläums „40 Jahre Südosteuropäische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz“, Universitätsbibliothek, 10. Juni–31. Oktober 2010. Graz.
Brunner, Walter (1985): Geschichte von Neumarkt in der Steiermark. Graz.
Brunner, Walter (1986): Türken, Pest und Habergeiß. Volkssagen aus dem Aichfeld und seinen Nebentälern. Graz.
Gollner, Marion (2012): „Der Türk‘ bricht wieder ein“– Erinnerungen an die osmanischen Einfälle im steirischen Mur- und Mürztal. In: Feichtinger, Johannes/ Heiss, Johann (Hg.): Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“. Wien.
Krainz, Johann (1879): Sagen aus Steiermark. Wien.
Krainz, Johann (1880): Mythen und Sagen aus dem steirischen Hochlande. Bruck an der Mur. (Online-Version)
Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL) (1969): Krainz Johann. Band 4, Wien, 194–195. (Online-Version)
Posch, Fritz (1983): Was geschah im Türkenjahr 1683 in der Steiermark? In: Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark. Graz.
SAGEN.at: Sagen aus den Türkenkriegen, 04.04.2012.
Toifl, Leopold/ Leitgeb, Hildegard (1991): Die Türkeneinfälle in der Steiermark und in Kärnten vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Wien.
Von der Sann, Hans (1890): Sagen aus der grünen Mark. Graz.