Grünangergasse 8, Karte
Text: Johannes Feichtinger, Simon Hadler, Martina Bogensberger
Das heutige Gebäude wurde 1705 für den Bäckermeister Hans Fischer erbaut, doch schon seit dem 15. Jahrhundert ist an dieser Stelle das Bäckergewerbe nachgewiesen. Die frühesten Belege für ein dem Kipferl ähnliches Gebäck reichen bis in das 13. Jahrhundert zurück. Seine Form weckte Assoziationen mit dem türkischen Halbmond und bewirkte eine ausgesprochen erfolgreiche Legendenbildung.
Das Hauszeichen der Bäcker und die Galerie
Seit 1458 wurde an der Stelle des heutigen Gebäudes, das ursprünglich „Zum Grünen Anger“ hieß, das Bäckergewerbe ausgeübt. An diese jahrhundertelange Nutzung erinnert auch ein Relief, das verschiedene Gebäckformen zeigt. Der leere Zwischenraum zwischen dem Relief und einem ungefähr einen halben Meter entfernten Abschlussteil oberhalb lässt den Schluss zu, dass anschließend an das Relief eine ovale Tafel angebracht war, die aber nicht mehr auffindbar ist. (Gespräch mit Galeriebesitzerin 05.09.2008) Heute befindet sich in dem Gebäude eine Galerie. In den hinteren Räumen sind noch der alte Backofen zu sehen sowie ein großes Gemälde, das schon im Bäckerhaus gehangen hat. Um das Haus ranken sich verschiedene Legenden, wie beispielsweise die Erfindung des Kipferls zur Verhöhnung der türkischen Belagerer, die dort den Touristinnen und Touristen auf Nachfrage noch heute gern erzählt werden.
Die Geschichte einer Verspottung
Neben der Legende von der Einführung des Kaffees in Wien zählen die Geschichten über das Kipferl zu den bis heute wohl bekanntesten so genannten Türkensagen. Während sich jedoch die Erzählungen über den kaiserlichen Kurier Georg Franz Kolschitzky, dem von einem osmanischen Aga der bislang unbekannte Trank serviert worden sein soll, bereits im direkten Anschluss an den Entsatz der Stadt im Jahr 1683 verbreiteten, liegen die ersten gedruckten Berichte von der Entstehung des Kipferls erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor. (vgl. Feichtinger 2014: 112f.) Im populären Werk Moritz Bermanns (1823–1895) über die Geschichte Wiens findet sich folgende Variante der Legende:
Peter Wendler, bürgerlicher Bäckermeister und Stadtgerichtsbeisitzer, Besitzer eines Hauses in der Grünangergasse [...], soll mit seinem Weibe Eva [...], auf den ebenso patriotischen als humorvollen Einfall gerathen sein, den türkischen Halbmond in einer besonderen Art von Gebäck zu persifliren und so den Wienern Gelegenheit zu geben, denselben ebenso mit den Zähnen zu vernichten, wie sie es gleichzeitig mit den Fäusten auf den Stadtmauern muthig übten. Da zu gleicher Zeit auf dem Stephansthurme an die Stelle des späteren Adlers und Kreuzes ein Stern mit einem Halbmond angebracht war, so ertheilte man dem neuartigen Gebäcke den Namen Gipfel oder Kipfel. Diese Form des neuen ,Ayrener=Gebäckes‘ (so hieß nämlich gewöhnlich das Luxusgebäck, weil demselben Eier beigemischt waren) erwarb sich gar bald Beliebtheit, und der Volksmund nannte den Bäcker selbst den ,Ayrener=Kipfel=bäcken‘ und sein Haus ,zum grünen Anger‘ das Kipfelhaus. (Bermann 1880: 973f.)
Schon der Wiener Stadtarchivar Gustav Andreas Ressel hat auf eine Reihe von Unstimmigkeiten in der Erzählung hingewiesen. Er machte erstens deutlich, dass ein „kiphen“ genanntes Gebäck bereits seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar ist. Darüber hinaus zeigte er, dass der angebliche Erfinder des Kipferls, der Bäcker Peter Wendler, bereits 1680 verstorben war. Sein gleichnamiger Sohn war zwar 1683 Besitzer des Hauses in der Grünangergasse, allerdings übte dieser nicht den Bäckerberuf, sondern den eines Juristen aus. (Ressel 1913: LIIIf.)
Auch der oben genannte Stadthistoriograph Bermann wusste, dass die Geschichte des Kipferls weiter zurückreicht als in das Jahr 1683, hatte er dies doch schon vierzehn Jahre vor der Publikation des vorhin genannten Werkes festgestellt (Bermann 1866: 460). Doch so wie Bermann im Jahr 1880 den Eindruck erwecken wollte, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Verhöhnung der Türken und der Entstehung des Kipferls, so waren auch in den folgenden Jahrzehnten wenige Autoren am Wahrheitsgehalt der Geschichte interessiert (z.B. Siegris 1924: 52).
Die Bäcker und ihre Türkensagen
Die Bäcker und ihre Türkensagen
Ein besonderes Interesse an der Pflege der Legende von der Entstehung des Kipferls hatten Vertreter der Bäckerzunft. Die Verteidigung von Privilegien wurde durch Verweise auf vergangene Heldentaten legitimiert. Zu diesen zählte auch der legendäre Anteil der Bäcker an der Verteidigung der Stadt während der beiden Türkenbelagerungen 1529 und 1683. Die Sage vom Heidenschuss, als ein Bäckerjunge die Unterminierung der Stadtmauer verhindert haben soll, ist ebenso widerlegt wie die Behauptung, dieser Lehrling hätte als Belohnung den Innungsbecher erhalten, der de facto erst zum 100-jährigen Jubiläum der Befreiung Wiens im Jahr 1783 angefertigt wurde. Ein Zusammenhang mit der Kipferl-Legende wird angesichts der Darstellungen auf diesem Innungsbecher der Bäcker deutlich, denn auch auf diesem ist die Erniedrigung der Türken unmissverständlich inszeniert: Am Fuß des Pokals liegen drei getötete Türken und auf den Kopf des einen tritt der Fuß eines Standartenträgers. (vgl. Feichtinger 2014: 117–119) Ein solches Auf-den Feind-Treten, das als Calcatio-Motiv eine weit in die Antike zurückreichende kunsthistorische Tradition aufweist, findet sich seit dem Ende des 17. Jahrhundert in einer Reihe von Darstellungen zur Verhöhnung des einst mächtigen Gegners. (vgl. Feichtinger 2015: 37–53) Dazu zählen etwa die Kapistrankanzeln an der Außenseite des Stephansdoms und in der Pfarrkirche von Katzelsdorf.
Der Bedeutungswandel der Halbmond-Symbolik
Der Bedeutungswandel der Halbmond-Symbolik
Auch die Umdeutung des Mondsichelsymbols in ein Zeichen des Islams erfolgte erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Deutungen der aus der Apokalypse bekannten Frau, die auf dem Mond steht, als Gottesmutter Maria, waren weit verbreitet. Erst mit der Abwehr der osmanischen Bedrohung wurde die Symbolik des auf dem Mond-Stehens als Sieg über den Islam gedeutet. Besonders offensichtlich ist dieser Wandel anhand von Skulpturen wie einer Marienfigur in Krems, die nicht mehr auf den Halbmond, sondern auf einen zu ihren Füßen liegenden Türken tritt. Gleiches gilt für die Neuinterpretation des so genannten „Mondscheins“, eines Sterns und eines Mondes, der seit Beginn des 16. Jahrhundertes den Südturm des Stephansdoms gekrönt hatte. Nach der Abwehr der Osmanen wurde er schließlich als „gottloses Waffenzeichen der Türken“ (hæc impia Turcarum arma) (Vælckeren 1683: 88; Übersetzung Johann Heiss) abgenommen und durch ein Kreuz ersetzt. (vgl. Feichtinger 2014: 107f.)
Auch der genannte Historiograph Bermann brachte die Erfindung des Kipferls mit dem Wechsel der Turmbekrönung des Stephansdoms in Zusammenhang. Wahr ist, dass sich in beiden Erzählungen die Abwertung des Gegners in eine Neudeutung des Mond-Symbols übersetzt hatte.
Literatur
Literatur
Bermann, Moriz (1880): Alt= und Neu=Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen. Seit dem Entstehen bis auf den heutigen Tag und in allen Beziehungen zur gesammten Monarchie geschildert. Wien, Pest, Leipzig.
Bermann, Moriz (1866): Geschichte der Wiener Stadt und Vorstädte. Wien.
Feichtinger, Johannes (2014): Das Wiener Kipferl. Zum Symbolwert eines Gebäcks. In: Csáky, Moritz; Lack, Georg-Christian (Hg.): Kulinarik und Kultur. Speisen als kulturelle Codes in Zentraleuropa. Wien, 102–120.
Feichtinger, Johannes (2015): Lunam Ottomannicam sub Mariæ pedibus. Der Halbmond, die Türken und wie ein Feindbild erzeugt und erhalten wird. In: Gissenwehrer, Michael; Keim, Katharina (Hg.): Materialität(en) des Kultur- und Wissenstransfers in prä- und transnationalen Kontexten (Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt 8). Frankfurt am Main, 37–53.
Gespräch Martina Bogensberger mit der Besitzerin der Galerie Straihammer und Seidenschwann, 05.09.2008.
Ressel, Gust[av] Andr[eas] (1913): Das Archiv der Bäckergenossenschaft in Wien. Ein Beitrag des Wiener Handwerkes. Wien.
Siegris, Emmerich (1924): Alte Wiener Hauszeichen und Ladenschilder. Wien.
Vælckeren, Johann Peter von (1683): Vienna à Turcis Obsessa à Christianis Eliberata: Sive Diarium Obsidionis Viennensis, Inde à sexta Maii ad decimam quintam usque Septembris deductum. Wien.