Klosterneuburg , Karte
Text: Simon Hadler
Die Ortnergasse in Klosterneuburg erinnert an Marzellin Ortner, der im Jahr 1683 wesentlich an der Organisation der Verteidigung gegen osmanische Truppen beteiligt war. Ihm ist mit der Marzellingasse noch eine weitere Straße gewidmet. Daneben findet sich in Klosterneuburg noch eine ganze Reihe weiterer Straßenbezeichnungen, welche mit den Ereignissen und Personen des Jahres 1683, aber auch mit jenen der Ersten Wiener Türkenbelagerung im Jahr 1529 in Beziehung stehen.
Das Leben des Marzellin Ortner
Zwei Straßennamen erinnern an Marzellin Ortner (1629–1692), einen Laienbruder und Tischler im Augustiner-Chorherren-Stift Klosterneuburg. Er blieb während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung im Jahr 1683 gemeinsam mit dem Priester Wilhelm Lebsaft (1656–1683) als einzige Mitglieder des Konvents zurück, um das Kloster und die Obere Stadt Klosterneuburgs gegen osmanische Truppen zu verteidigen. Ortner wurde am 26. Juli 1629 im bayrischen Altötting geboren, lernte das Tischlerhandwerk und trat am 2. Juli 1657 als Laienbruder in das Stift Klosterneuburg ein. (Starzer 1900: 143f) Bis heute kann man in der Schatzkammer des Klosters zehn von ihm verfertigte Schränke aus Nussbaumholz besichtigen, in welchen einst auch der österreichische Erzherzogshut aufbewahrt war. Eine kurze Zeit hatte Ortner auch das Amt eines Kammerschreibers inne, welches er aber wegen unbekannter Regelverstöße wieder abgeben musste. (Fischer 1842: 694) Ein von ihm gestiftetes Votivbild, auf das sich übrigens die meisten späteren Portraits beziehen, erinnert noch heute an den folgenden Akt der Buße. Das Bild beinhaltet auch den dementsprechenden Text:
Der gestrig Tag Nit Wider khert
Bleibt ganz und gar vergessen
Gar wenig ich gott verehrt
dich zu erzuernen mich vermessen
Also bitte ich dich Herr Jesu Christ
Thue soliches Mir verzeichen
Bewahre mich vor des teuffls lyst
Thue den Himmel mir verleihen.
F. Marcein Ortner
MDCLXXVI. AETAT. SVAE. 44 AN. (Sartori 1816: 43)
[das hier errechnete Geburtsjahr von 1632 steht in Widerspruch zu jenem bei Albert Starzer angegebenen (26.7.1629), welches für diesen Artikel übernommen wurde]
Zur Zeit der Zweiten Wiener Türkenbelagerung organisierte er die Verteidigung der Stadt. Er vergab Offizierschargen an Stiftsbedienstete und ließ die in der Festung versammelte Bevölkerung in Listen eintragen und mit Waffen ausrüsten. Bei den Menschen dürfte Ortner große Autorität besessen haben. Denn als er und Lebsaft sich am Tag nach einem Angriff einige Stunden nicht blicken ließen, geriet ein Teil der Bevölkerung in Panik und flüchtete. (Lerch 1684: 7) Später sandte der Kommandant der kaiserlichen Truppen Herzog Karl von Lothringen mehrmals Verstärkung, sodass Ortner einen Teil seiner selbstgewählten Verantwortung abgeben konnte. Nach dem Entsatz Wiens und der Rückkehr der Chorherren in das Stift wurde Ortner zum Küchenmeister ernannt, doch bereits 1685 erkrankte er und erholte sich nicht mehr bis zu seinem Tod am 17. Juni 1692. (Starzer 1900: 143f)
Die Heroisierung Ortners im 19. Jahrhundert
Die Heroisierung Ortners im 19. Jahrhundert
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts steht Marzellin Ortner immer öfter im Mittelpunkt schriftlicher und bildlicher Darstellungen der Ereignisse im Jahr 1683 in Klosterneuburg. Bereits 1816 ging er in Franz Sartoris (1782–1832) „Pantheon denkwürdiger Wunderthaten volksthümlicher Heroen und furchtbarer Empörer des österreichischen Gesamt-Reiches“ ein. (Sartori 1816: 3–43) 1831 widmete das „Oesterreichische Archiv für Geschichte, Erdbeschreibung, Staatenkunde, Kunst und Literatur“ den Ereignissen einen ausführlichen Text und betonte die hervorragende Rolle Ortners. (Selack 1831: 81–84, 87f, 89–92) Ein Text in der Zeitschrift „Wiener Zuschauer“ (Fischer 1842) behandelt das Leben des Tischlers ebenso wie eine Ballade von Johann Nepomuk Vogl. Letzterer ist auch eine Abbildung angefügt, welche den Helden mit erhobenem Schwert im Kampfgetümmel vor dem Hintergrund des Stiftes zeigt. (Vogl 1847: 224–226) Auch der spätere Professor an der Wiener Kunstakademie Peter Johann Nepomuk Geiger (1805–1880) widmete dem Kampf um Klosterneuburg ein Bild. Seine Federlithographie (etwa 1845) als Teil der Serie „Bilder aus Geschichte und Sage des Erzherzogthums Oesterreich“ (Telesko 2008: 34) zeigt eine Szene nach Ende der Belagerung: „Marzellin Ortner, in unerschütterlichem Gottvertrauen stehend, wird von jubelndem Volk umringt, eine Mutter hält ihm ihr Kind zum Segen entgegen.“ (Holubar/Huber 1996: 168) 1851 entsteht schließlich das vielleicht bekannteste Gemälde „Marzellin Ortner verteidigt Klosterneuburg“, vermutlich von Johann Till d. J. (1827–1894). Dieses Beispiel eines heroisierenden Historismus befindet sich heute im Roten Salon der Prälatur des Stifts.
Im Jahr 1877 wurde in Klosterneuburg das System der Orientierungsnummern eingeführt und im Zuge dessen kam es zur Neubenennung einer ganzen Reihe von Straßen. (Starzer 1900: 561f) So wurde am 31. Jänner dieses Jahres aus der Johannes-Gasse die Ortnergasse. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 666) Doch so hoch war der Status des personifizierten Verteidigers von Klosterneuburg mittlerweile, dass eine Straße allein nicht reichte. Darum heißt seitdem die bisherige Mittergasse Marzellingasse. (ebd.: 664) Die beiden Straßen liegen parallel zueinander und befinden sich im Bereich der 1683 befestigten Oberen Stadt.
Wilhelm-Lebsaft-Gasse
In den Berichten und auf den Bildern über die Verteidigung Klosterneuburgs im Jahr 1683 fehlt gewöhnlich auch nicht der kongeniale Partner Ortners. Es handelt sich dabei um den Priester Wilhelm Ignaz Lebsaft. Dieser wurde am 2. April 1656 in Wien geboren, studierte Philosophie, Recht und Theologie und kam 1676 in das Stift Klosterneuburg. Während der Pestepidemie im Jahr 1679 soll er sich – wie übrigens auch Marzellin Ortner – als einer von wenigen Mitgliedern des Stifts um die leidende Bevölkerung gekümmert haben. 1680 wurde Lebsaft zum Priester geweiht. Während der Türkenbelagerung kümmerte er sich um die Seelsorge. Noch ehe Propst Sebastian Mayr aus seinem Exil in Passau heimgekehrt war, starb Lebsaft am 4. Oktober 1683, vermutlich an der Ruhr. (Černik 1933)
1877 wurde die bisherige Bäckergasse in der Oberen Stadt in Lebsaftgasse umbenannt. 1910 änderte man den Namen auf Wilhelm-Lebsaft-Gasse. Chorherr Wolfgang Pauker soll dies damit begründet haben, dass „Lebsaft“ mit dem Lebzeltergewerbe in Zusammenhang gebracht wurde und zu „unwürdigen und höchst überflüssigen Späßen Anlaß“ gab. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 673)
Heißlergasse
Überquert man von der Wilhelm-Lebsaft-Gasse kommend die Leopoldstraße, dann befindet man sich in der nächsten nach einem Helden von 1683 benannten Straße. Die Heißlergasse trägt ihren Namen ebenfalls seit 1877, zuvor hieß sie Schiefergasse. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 657) Der Namensgeber, Donat Johann Graf Heißler von Heitersheim, wurde um 1648 in der Pfalz geboren und befehligte während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung ein Dragonerregiment. Bevor er an der Entsatzschlacht am 12. September teilnahm, feierte er einige Erfolge in der Umgebung Klosterneuburgs. Unter anderem schlug er am 8. August in der Nähe des Kahlenbergs eine osmanische Abteilung und eroberte dabei 248 Kamele. Er war auch in die letzte Klosterneuburg betreffende Kampfhandlung verwickelt, als er am 8. September mit angeblich 300 Mann 4-5.000 Gegner im Schiefergarten besiegte. (Lerch 1684: 12) Seit 1952 erinnert daran auch eine Gedenktafel am Tutzsteig.
In den folgenden Jahren war er an einer Reihe militärischer Erfolge beteiligt, so schlug er 1684 und 1688 Emmerich/Imre Thökölys (1657–1705)Truppen und eroberte Passarowitz/Požarevac. 1689 wird er jedoch bei der Schlacht von Tohány gefangen genommen und erst zwei Jahre später im Austausch gegen Thökölys Gattin Ilona Zrínyi (1643–1703) freigelassen. Er setzte seine militärische Laufbahn fort und stieg bis zum Rang eines Feldmarschalls und interimistischen Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee in Ungarn auf, ehe er an einer Verwundung in der Schlacht bei Olasch in der Nähe von Temesvar am 31. August 1696 starb. (Janko 1880: 671f)
Widmanngasse
Widmanngasse
Über das Leben des stiftlichen Rentmeisters Bartholomäus Widmann ist nichts bekannt. Aus dem Bericht von Johann Martin Lerch erfährt man, dass Widmann von Marzellin Ortner zum Hauptmann ernannt wurde. Damit nahm er den höchsten Rang innerhalb der improvisierten militärischen Struktur der Klosterneuburger Verteidiger ein. So wie Lebsaft erlebte er nicht mehr die Rückkehr des Propstes, er starb am 5. Oktober 1683.
Im Jahr 1909 wurde der Platz „Im Paradeis“ in Widmannplatz umbenannt, doch 1961 erhielt der Ort einen neuen Namen. (Wellner 1983: I) Anlässlich des Treffens der Heimatvertriebenen in Klosterneuburg heißt er nun Sudetendeutscher Platz. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 670) Stattdessen trägt nun die in der Nähe liegende Widmanngasse den Namen des Rentmeisters.
Kollersteig
Auch zu Hans Georg Koller ist praktisch nichts bekannt. Als Marzellin Ortner am 14. Juli 1683 die Offizierschargen an Bedienstete des Stifts vergab, machte er Koller, der aus Furth in Bayern stammte, zum Musterschreiber und Konstablen. Johann Martin Lerch berichtete, Koller sei von General Vecchio damit beauftragt worden, vom Hermannskogel aus sechs Raketen und Handgranaten zu zünden, um damit, wie auch durch drei Feuer, den Bewohnern Wiens anzuzeigen, dass das Entsatzheer bereit stehe. (Lerch 1684: 12) Den nach ihm benannten Kollersteig gibt es seit 1877. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 662)
Lothringerstraße, Sachsengasse
Der frühere Ziegelgrubenweg wurde 1896 unbenannt (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 663) und erinnert an den kaiserlichen Feldherren Karl V. Leopold von Lothringen (1643–1690), der wesentlich am Erfolg des Entsatzes von Wien am 12. September 1683 beteiligt war. Seinen von ihm gesandten Verstärkungen verdankte Klosterneuburg zum Teil die geglückte Verteidigung der Stadt. An das Entsatzheer erinnert auch die Sachsengasse. Sie soll den Weg bezeichnen, welchen die sächsischen Truppen unter Kurfürst Georg II. auf dem Weg in Richtung Kahlenberg genommen haben. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 668)
Türkenschanzgasse
Türkenschanzgasse
Im Bereich der Türkenschanzgasse, die seit 1926 diesen Namen trägt, sollen 1529 und 1683 osmanische Truppen Schanzen errichtet haben, deren Spuren bis heute im Terrain erkennbar sind. (Wellner 1983: I)
Stolpeckgasse, Lamberggasse
Die Namen dieser beiden Straßen erinnern an die Zeit der Ersten Wiener Türkenbelagerung im Jahr 1529. Auch damals war praktisch der gesamte Konvent aus Klosterneuburg geflohen und es blieb dem Stiftshofmeister Hans Stolbrokh – die Bezeichnung „Stolpeckgasse“ beruht auf einem Abschreibfehler – und dem königlichen Regimentsrat Melchior von Lamberg (gest. 1550) überlassen, die Stadt zu verteidigen. Als die zurückkehrenden Chorherren sich weigerten, Lamberg die Kosten für die Söldner zu ersetzen, wurde ihnen der Zutritt in das Stift verwehrt. Erst eine Intervention König Ferdinands löste den Konflikt. Die Chorherren durften in ihr Stift, Lamberg erhielt vom Propst 2000 Gulden und Stolbrokh bekam von der Stadt ein ehrendes Zeugnis für seinen Einsatz ausgestellt. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 228)
Eine Topographie der Erinnerung
Eine Topographie der Erinnerung
Zusammengefasst lassen sich also in Klosterneuburg elf Straßenbezeichnungen auf die Ereignisse der Jahre 1529 und 1683 zurückführen. Als Nummer zwölf könnte man noch die Hofstattgasse hinzufügen. Der Name leitet sich vom Riednamen Hofstatten beziehungsweise von der Bezeichnung für einen kleinen bäuerlichen Besitz ab. (Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 658) In der Literatur wird jedoch auch dieser Name in Beziehung mit dem Jahr 1683 gesetzt, da laut dem Bericht von Johann Martin Lerch osmanische Truppen am 17. Juli von dieser Seite aus die Untere Stadt angegriffen haben sollen. (Ludwig 1924: 98f; Stadtgemeinde Klosterneuburg 1992: 658)
Wieso gerade Klosterneuburg eine solch hohe Dichte an derartigen Straßenbezeichnungen aufweist, ist nicht eindeutig zu klären. Es fällt jedoch auf, dass diese Entwicklung vor allem in die Zeit zwischen 1877 und der Zwischenkriegszeit fällt. Vorangegangen war ihr seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine intensive textliche und künstlerische Beschäftigung mit dem Thema. Auf diese Vorarbeiten konnte zurückgegriffen werden, als um 1900 die Stadt die eigene Geschichte zur Stärkung des bürgerlichen Selbstbewusstsein und der kommunalen Identität einsetzte. Sie verlagerte damit den räumlichen Schwerpunkt der Erinnerung tendenziell auch aus dem Stift in den städtischen Raum hinaus. Durch die Verbindung bestimmter Straßen mit Episoden aus der Geschichte – etwa im Falle des Kollersteigs, der Sachsengasse oder der Türkenschanzgasse – wandelt sich die Topographie zu einem Medium eines lokal verorteten kollektiven Gedächtnisses.
Literatur
Literatur
Černik, Berthold (1933): Klosterneuburg im Jahre 1683. Eine Gedenkschrift. Klosterneuburg.
Fischer, Maximilian (1842): Marzellin Ortner, der Layenbruder, und die Vertheidigung Klosterneuburgs gegen die Türken im Jahre 1683. In: Wiener Zuschauer. Nr. 71/72/73. 693–696, 705–708, 717–719.
Holubar, Karl; Huber, Wolfgang Christian (1996): Die Krone des Landes. Klosterneuburg.
Janko, Wilhelm Edler von (1880): Heißler, Donat Johann. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 11. S. 671f [Onlinefassung].
Lerch, Johann Martin (1684): Warhaffter Bericht / Was sich Zeit-wehrend – Türckischer Belägerung der Kayserlichen Haupt-und Residenz-Stadt Wienn / Anno 1683. in und bey dem zwey Meilen davon gelegenen Fürstl. S. LEOPOLDI Stifft Closterneuburg / Biß zu Ende gemeldter Belägerung / Merckwürdiges zugetragen / und wie selbiges / durch die Gnade Gottes / erhalten worden. Wien.
Ludwig, Viktor (1924): Klosterneuburg. Ein Heimatbüchlein für Schule und Haus mit reichem Bilderschmuck. Wien.
Sartori, Franz (1816): Pantheon denkwürdiger Wunderthaten volksthümlicher Heroen und furchtbarer Empörer des österreichischen Gesammt-Reiches. Zweyter Band. Wien.
Selack, Vincenz (1831): Klosterneuburgs Belagerung im Jahre 1683. In: Oesterreichisches Archiv für Geschichte, Erdbeschreibung, Staatenkunde, Kunst und Literatur. Hrsg. v. J. W. Ridler. 1. Jg. Wien. 81–84, 87f, 89–92.
Stadtgemeinde Klosterneuburg (Hg.) (1992): Klosterneuburg. Geschichte und Kultur. Band 1 – Die Stadt. Klosterneuburg.
Starzer, Albert (1900): Geschichte der landesfürstlichen Stadt Klosterneuburg. Aus Anlass des 600jährigen Jubelfestes der Stadt Klosterneuburg herausgegeben von der Stadtgemeinde Klosterneuburg. Klosterneuburg.
Telesko, Werner (2008): Kulturraum Österreich. Die Identität der Regionen in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien.
Vogl, Johann Nepomuk (1847): Marcellus Ortner, der muthige Vertheidiger Klosterneuburgs. In: Oesterreichischer Volkskalender für 1847. Wien. S. 224–226.
Wellner, Elisabeth (1983): Türkisches in unserem Alltag. In: Amtsblatt der Stadtgemeinde Klosterneuburg. Kulturbeilage. Nr. 6. S. 1–4.