Otto Lazar – ein Wiener Bibliothekar flüchtet ins schwedische Exil

Der vor 134 Jahren geborene studierte Chemiker arbeitete seit 1923 in der Bibliothek der Technischen Hochschule Wien und verlor 1938 wegen seiner jüdischen Abstammung seinen Posten. Er kehrte nach dem Krieg zurück und wurde zum Direktor der Bibliothek der Technischen Hochschule ernannt. Dazwischen lagen fünf Jahre Exil in Stockholm.

Eine gutbürgerliche Familie

Otto Lazar wurde am 22. Juni 1891 als eines von acht Kindern des Ehepaares Adolf Josef und Theresia Cäsarine Lazar in Wien geboren. Der Vater, der bereits 1910 starb, war Baurat und Direktor der österreichischen Lokaleisenbahn, die Mutter Hausfrau. Von den Geschwistern wurden u. a. Ernst Rechtsanwalt, Erwin Kinder- und Facharzt für Jugendpsychiatrie und zwei Schwestern Schriftstellerinnen. Von Ottos älterer Schwester Auguste, die sich später in der DDR einen Namen als Kinderbuchautorin machte, ist eine Beschreibung des häuslichen Milieus überliefert: „Gerade unter der Intelligenz gab es eine Unzahl solcher sogenannter Assimilierter, „Vollblutjuden“, halbe und viertel Mischlinge, vollständig verwachsen mit dem österreichischen Kulturgut, an dessen Pflege und Wachstum sie während der vergangenen Jahrzehnte erheblich beteiligt waren, die nicht imstande waren, anders zu fühlen und zu denken als eben österreichisch. […] Zu dieser Art österreichisch, allzu österreichisch gewordener jüdischer Menschen gehörte meine Familie.“ Das Nesthäkchen der Familie, Maria, wurde wie Auguste Lazar eine – vor wenigen Jahren wiederentdeckte – Schriftstellerin, die gegen den aufkommenden Nationalsozialismus anschrieb und sich ins schwedische Exil retten konnte.

Otto Lazars Ausbildung und berufliche Laufbahn im Ständestaat

Otto Lazar studierte von 1909 bis 1913 technische Chemie an der Technischen Hochschule (TH) in Wien (heute Technische Universität) und promovierte 1914 zum Dr. techn. Zu diesem Zeitpunkt war Robert Musil dort als Bibliothekar tätig. Während des Ersten Weltkrieges geriet Lazar in russische Kriegsgefangenschaft und arbeitete nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustauschs 1918 kurz bei der Dynamit-Nobel-AG in Pressburg, bis er eine Anstellung als Assistent an der Lehrkanzel für Chemie an der Hochschule für Bodenkultur in Wien erhielt. 1923 wechselte er als Bibliotheksassistent an die Bibliothek der Technischen Hochschule (TH) und stieg 1928 zum Staatsbibliothekar auf. Der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am 13. März 1938 hatte umgehend Folgen für ihn: Bereits am 22. März 1938 sollte das gesamte Personal der TH auf den „Führer“ vereidigt werden, wobei „politisch unzuverlässige“ und „rassisch unwürdige“ Mitarbeitende von dieser Pflichtveranstaltung ausgeschlossen waren. Zu Letzteren zählte auch Staatsbibliothekar Dr. Otto Lazar, den das Rektorat aufforderte, seine Beurlaubung zu beantragen. Zum 1. April 1938 wurde er beurlaubt und im November 1939 entlassen.

Die Säuberungen führten zur Entlassung von zwei von insgesamt sechs wissenschaftlichen Bibliothekar:innen: Neben Otto Lazar wurde auch Hanns Leo Mikoletzky (1907–1973) aus „rassischen Gründen“ gekündigt. Lazar war eigentlich als Nachfolger von Bibliotheksdirektor Franz Tippmann, der Ende 1938 in Pension hätte gehen sollen, vorgesehen. Tippmann blieb nach Lazars Entlassung bis Ende 1941 in seiner Position. Lazars Nachfolger wurde Dr. Heinrich Koziol (1911–1989), NSDAP-Mitglied seit 1933.

Flucht nach Schweden

Als Erste der Geschwister emigrierte Maria Lazar, sie zog Mitte 1933 nach Dänemark. Otto Lazar hingegen, nun beschäftigungslos, verblieb mit seinen zwei ebenfalls unverheirateten Schwestern Louisa und Elisabeth in der gemeinsamen Wohnung im Schottenstift, Freyung 6, in der Inneren Stadt. Ende Februar 1938 besuchte Auguste Lazar Maria in Kopenhagen, von wo aus die Schwestern gemeinsam die Ereignisse um den „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich verfolgten. Als keine Verbindung zu den in Wien lebenden Geschwistern zustande kam, reiste Auguste kurzerhand dorthin. Doch ein Großteil der Geschwister zögerte mit einer Auswanderung und wollte die Ereignisse abwarten. Auguste Lazar schrieb rückblickend in ihren Erinnerungen „Arabesken“: „Louisa war sechzig, Elly fünfundfünfzig Jahre alt. Sie waren in dieser altmodischen Wohnung jung gewesen, sie konnten es sich gar nicht anders vorstellen, sie würden auch darin sterben. Die Geistlichen des Stiftes zu den Schotten würden sie nicht daraus vertreiben. Solange das Haus dem Stifte gehörte, geschah meinen Schwestern auch kein Leid. Als es aber ‚enteignet‘ wurde, waren sie verloren.“

Ernst Lazar, dem Rechtsanwalt, und seiner Frau Fritzi Löw, Künstlerin der Wiener Werkstätte, verhalf Maria Lazar zu einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung in Dänemark: Ende Oktober 1938, kurz vor den Novemberpogromen, flohen die beiden nach Kopenhagen und im April 1939 nach Brasilien. Auguste emigrierte ebenfalls im April mit einem Permit als Köchin nach Großbritannien. Am Tag nach dem deutschen Überfall auf Polen, am 2. September 1939, zog Maria Lazar mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Judith nach Stockholm. Bereits seit Februar 1941 gingen vom Wiener Aspangbahnhof die großen Deportationen der jüdischen Bevölkerung ab. Erst am 14. April 1941 gelang Otto Lazar die Emigration aus dem Deutschen Reich. Im Oktober dieses Jahres untersagte das NS-Regime den verbliebenen Jüdinnen und Juden die Ausreise aus Deutschland.

Otto Lazar reiste mit einem drei Monate gültigen Visum nach Schweden, mit der Absicht einer Weiterreise in die USA. Doch im Juni 1941 erfuhr Lazar durch ein Schreiben der Amerikanischen Legation in Stockholm, dass sein Ansuchen auf ein Visum für die USA ruhte, solange sich seine Schwestern auf einem „territory controlled by Germany“ aufhielten. Zur Weiterreise in die USA sollte es für Otto Lazar nie kommen. Die beiden Schwestern Louisa und Elisabeth, die in Wien geblieben waren, wurden am 31. August 1942 nach Maly Trostinec in Weißrussland deportiert und dort vier Tage später ermordet. Warum Otto Lazar die Einreise nach Schweden gelang, seinen Schwestern hingegen nicht, ist unklar.

Die Jahre im schwedischen Exil

Die Angabe, dass Otto Lazar auch im schwedischen Exil als Bibliothekar tätig gewesen war, relativiert sich, wenn man die Dokumente zu ihm im schwedischen Reichsarchiv in Stockholm studiert. Lazar, der im Gegensatz zu seiner ebenfalls in Schweden lebenden Schwester Flüchtlingsstatus hatte (Maria Lazar war durch ihre Heirat mit Friedrich Strindberg schwedische Staatsbürgerin), musste seine Aufenthaltsgenehmigung erst alle drei Monate, später halbjährlich verlängern lassen. Er wohnte zur Untermiete mit immer wieder wechselnder Adresse und erhielt lange keine Arbeitsgenehmigung. Im März 1942 erfuhr Otto Lazar von der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm, dass er seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatte und sein Reisepass eingezogen worden war. Er war nach wie vor ohne Beschäftigung und erhielt eine Unterstützung des Intellektuellen Flüchtlingskomitees sowie der katholischen Gemeinde in Stockholm.

Im April 1942 erhielt Lazar einen schwedischen Fremdenpass mit einer vorerst einjährigen Gültigkeit. Laut einem behördlichen Vermerk vom Oktober 1942 lebte er zurückgezogen und widmete sich ausschließlich wissenschaftlicher Forschung. Im August 1943 – zu diesem Zeitpunkt hielt er sich bereits mehr als zwei Jahre in Schweden auf – suchte er um eine Arbeitsgenehmigung als Archivmitarbeiter im Statens Hantverksinstitut, einem Institut für handwerkliche Berufe, in Stockholm an, die vorerst nur für acht Wochen bewilligt, aber schließlich verlängert wurde. In dessen Labor gab es einen Arbeitskräftemangel, da männliche Mitarbeiter zum Militär eingezogen worden waren. Im September 1945 ersuchte Otto Lazar um die Änderung seiner Nationalität im Fremdenpass von „deutsch“ auf „österreichisch“. Als er dann im Februar 1946 ein letztes Mal eine Aufenthaltsbewilligung beantragte, gab er als Zweck seines Aufenthalts an: „Warten auf die Heimreise“.

Remigration nach Wien

Im Mai 1946 kehrte Lazar in seine Geburtsstadt zurück und konnte Ende des Monats seinen Dienst in der Bibliothek der TH wieder aufnehmen; im September 1952 heiratete er in Wien Wilhelmine Szabó, geborene Horak. Seine Schwester Maria blieb hingegen in Schweden und nahm sich 1948 wegen einer unheilbaren Krankheit in ihrer Stockholmer Wohnung das Leben. Auguste Lazar kehrte 1949 aus England nach Dresden zurück und wurde dort eine erfolgreiche Schriftstellerin. Fritzi Löw-Lazar und ihr Mann Ernst remigrierten 1955 aus dem brasilianischen Exil nach Wien.

Nach Kriegsende wurde die Hälfte der sechzehn Bibliotheksmitarbeiter:innen an der TH Wien ihres Dienstes enthoben und entlassen. Lazars ehemaliger Kollege Hanns Leo Mikoletzky war während des Krieges in Wien verblieben und wurde mit 27. April 1945 wieder als wissenschaftlicher Bibliothekar eingestellt. Er wechselte 1947 ins Österreichische Staatsarchiv und war dort von 1968 bis 1972 dessen Generaldirektor.

Nachdem der Bibliotheksdirektor der TH Ernst Franz Bösel im Juni 1946 zum Direktor der Bibliothek der Hochschule für Welthandel ernannt worden war, erfolgte am 5. Juli 1946 durch das Unterrichtsministerium die Bestellung von Otto Lazar zum Bibliotheksdirektor der TH, ein Amt, das er am 10. August 1946 antrat. Als Lazar die Leitung der Bibliothek übernahm, befand sich diese als Folge des Krieges in einem desolaten Zustand: Die im Februar 1945 zerstörten Fenster der Bibliothek wurden erst im Sommer 1946 wieder instandgesetzt. Bis Ende Juli 1946 konnten die ausgelagerten Buchbestände mit Hilfe der Roten Armee in das Gebäude am Karlsplatz verbracht werden.

Otto Lazar erlebte noch eine erfolgreiche Karriere: Als Bibliotheksdirektor der TH zeichnete er für den Aufbau des „Dokumentationszentrums der Technik“ verantwortlich. Es bestand von 1950 bis 1973 und wurde später in „Österreichisches Dokumentationszentrum für Technik und Wirtschaft“ umbenannt. Als 1955 das damalige Bundesministerium für Handel und Wirtschaft ein Bebauungskonzept für den Campus der Technischen Hochschule am Getreidemarkt anregte, schlug Otto Lazar vor, die Buchbestände aller Chemie-Institute zusammenzuführen. In der Folge (1965–1972) entstand nach Plänen des Architekten Karl Kupsky das sogenannte „Chemiehochhaus“.

1951 wurde Lazar zum wirklichen Hofrat ernannt, 1956 trat er in den Ruhestand. Otto Lazar starb am 31. Oktober 1983 und wurde am Wiener Zentralfriedhof bestattet. Sein Grab befindet sich neben dem des Komponisten und Flötisten Franz Doppler.


Werk: Einwirkung von Phenylmagnesiumbromid auf Dialkylaminhalogenide, 1914 (Dissertation).


Literatur: Auguste Lazar, Arabesken. Aufzeichnungen aus bewegter Zeit, 1957, S. 247ff.; Peter Kubalek, Die Chemiebibliothek der Technischen Universität Wien, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 63–64, 1997/1998, S. 39ff.; Juliane Mikoletzky, Bücher für den Endsieg: Zur Rolle der Bibliothek der Technischen Hochschule in Wien 1938 bis 1945, in: Brüche und Kontinuitäten 1933–1938–1945: Fallstudien zu Verwaltung und Bibliotheken, ed. Gertrude Enderle-Burcel – ‎Alexandra Neubauer-Czettl – Edith Stumpf-Fischer, 2013, S. 353ff.; „Abgelehnt“ ... „Nicht tragbar“. Verfolgte Studierende und Angehörige der TH in Wien nach dem „Anschluß“ 1938, ed. Paulus Ebner – Juliane Mikoletzky – Alexandra Wieser, 2016, S. 94; Juliane Mikoletzky – Paulus Ebner, Die Technische Hochschule in Wien 1914–1955. Teil 1: Verdeckter Aufschwung zwischen Krieg und Krise (1914–1937), 2016, Teil 2: Nationalsozialismus, Krieg, Rekonstruktion (1938–1955), 2016, passim; Doris Felder, Eine Vision wird Realität: Die vielen Schritte zur Fachbibliothek für Chemie und Maschinenbau, in: Im Schatten der Eule. Die Universitätsbibliothek der Technischen Universität Wien / In the Shadow of the Owl. The TU Wien University Library, ed. Eva Ramminger, 2016, S. 77; Eva Ramminger – Silvia Resinger – Astrid Böck, „Ich lese gern!“ – Ein Beruf zwischen Klischee und Wirklichkeit, ebd., S. 44; Juliane Mikoletzky, „Säuberungen“ im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: „Säuberungen“ an österreichischen Hochschulen 1934–1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen, 2017, ed. Johannes Koll, 2017, S. 243ff.; Ulrich Hohoff, Wissenschaftliche Bibliothekare als Opfer in der NS-Diktatur. Ein Personenlexikon, 2017, S. 26, 83, 218; Irene Nawrocka, Otto Lazar und seine Laufbahn als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich, 2025, H. 2 (im Druck); Archiv der Technischen Universität Wien (Personalakt), Wiener Stadt- und Landesarchiv (historische Meldeunterlagen), beide Wien; Riksarkivet Marieberg (Personenmappe Otto Lazar), Stockholm, Schweden; Mitteilung Helena Lanzer-Sillén, Stockholm, Schweden.

(Irene Nawrocka)