Die Journalistin und Schriftstellerin Marie Holzer hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das nach wie vor auf Wiederentdeckung wartet: Ein Porträt aus Anlass ihres 150. Geburtstages und 100. Todestages.
Marie (eigentlich Maria) Holzer, geb. Rosenzweig, kam am 11. Januar 1874 als drittes von insgesamt acht Kindern der Eheleute Leon Rosenzweig und Antonie, geb. Eibenschütz, in Czernowitz zur Welt. Ihr Vater, der später den Namen Leon Rode führte, ist insofern bedeutsam, als er selbst publizistisch und schriftstellerisch tätig war. Zudem ermöglichte er als erfolgreicher Geschäftsmann und Bankier seiner großen Familie ein angenehmes, bildungs- und kulturaffines Leben in einem liberalen Umfeld. Ähnlich wie Karl Emil Franzos, mit dem die Familie in Verbindung stand, bekannte sich Rosenzweig zur deutschen Sprache und Kultur im Sinne von Aufklärung und Haskala. Sein Engagement als Abgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei, für die er von 1901 bis 1907 im österreichischen Reichsrat saß, unterstreicht das Bild eines vielfältig interessierten, gebildeten und toleranten Menschen, der sich zwar nicht taufen ließ, aber eine weitgehende Assimilation forderte. Entsprechend hatte er wohl auch gegen die Partnerwahl seiner Tochter nichts einzuwenden: 1895 heiratete Marie Rosenzweig in Czernowitz den katholischen Offizier Johann (Hans) Holzer.
Vieles spricht dafür, dass hier zwei Welten aufeinanderstießen, zwischen denen eine Verständigung kaum möglich war: Marie Holzer kam aus einem kultivierten Elternhaus und aus einer Stadt, die zwar geografisch am Rand des Habsburgerreiches lag, in der aber das Nebeneinander und teilweise auch Miteinander verschiedener Religionen, Sprachen und Ethnien eine Selbstverständlichkeit war. Die Erziehung der Rosenzweig-Kinder lag wohl in der Hand von Gouvernanten, und mehrere Geschwister – auch eine der Schwestern – absolvierten ein Universitätsstudium; der Rechtsanwalt und Schriftsteller Walther Rode war Maries jüngerer Bruder. Dass Marie Holzer selbst eine überdurchschnittliche Bildung genossen hat, lässt sich nicht zuletzt aus ihrem publizistischen Werk rückschließen. Auf der anderen Seite stand ihr Mann, der aus Feldbach in der Steiermark stammte, höchstwahrscheinlich weniger gebildet war als seine Frau und als Vertreter eines klassischen Rollenbildes die Partnerin ausschließlich als Ehefrau und Mutter definierte, eine Überzeugung, von der er sich nicht lösen konnte oder wollte.
Aus der Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Die Familie lebte zunächst in Czernowitz, dort wurden zwischen 1896 und 1905 auch alle Kinder geboren, dann in Prag und zuletzt in Innsbruck. Marie Holzers journalistisch-schriftstellerische Aktivitäten begannen noch im Geburtsjahr ihrer jüngsten Tochter, also 1905. Die beiden älteren Kinder hatten zu diesem Zeitpunkt bereits das Volksschulalter erreicht und vermutlich verfügte die Mutter wieder über etwas mehr Freiraum, den ihr Mann allerdings immer wieder zu beschneiden versuchte.
Nach einem zögerlichen Anfang – 1905 erschien nur ein Text, 1906 veröffentlichte Holzer zwei Artikel – setzte eine rege Publikationstätigkeit ein. Das Periodikum, für das sie die weitaus meisten Beiträge verfasste, war das renommierte „Prager Tagblatt“. Später kamen zahlreiche andere Zeitungen und Zeitschriften dazu, u. a. die in Leipzig erscheinende Monatsschrift „Xenien“, die Wiener Wochenschrift „Die Waage“, Tageszeitungen wie die „Frankfurter Zeitung“ oder das „Stuttgarter Neue Tagblatt“. Marie Holzer legte auch eine Buchpublikation vor: „Im Schattenreich der Seele. Dreizehn Momentbilder“ erschien in zwei Auflagen 1911 und 1913. Von 1911 bis 1914 war Holzer Mitarbeiterin der im selben Jahr gegründeten, dem Expressionismus verpflichteten Zeitschrift „Die Aktion“, mit deren Redaktion und insbesondere Herausgeber Franz Pfemfert sie in enger Verbindung stand. In ihren letzten Lebensjahren publizierte sie dann zunehmend in lokalen und regionalen Periodika wie den „Innsbrucker Nachrichten“ und der sozialdemokratischen „Volks-Zeitung“. Die Gesamtzahl ihrer Beiträge umfasst mehrere Hundert, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich noch weitere Texte von ihr finden lassen.
Marie Holzers Schreiben war von einem Interesse an Frauenrechten und -themen geprägt, das viele ihrer Publikationen durchzieht, auch wenn sie sich vordergründig anderen Fragen widmet. Zahlreiche Beiträge können als „Skizzen“ oder „Momentaufnahmen“ charakterisiert werden, in denen sie sich mit Alltagsbeobachtungen oder -phänomenen beschäftigt. Darüber hinaus verfasste sie kleine literarische Beiträge. Der bekannteste erschien 1914 unter dem Titel „Die rote Perücke“ in der „Aktion“ und wurde in den 1990er-Jahren titelgebend für eine Anthologie mit Texten expressionistischer Dichterinnen.
Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass Holzer auch immer wieder für Frauenzeitschriften schrieb, u. a. verfasste sie zu Beginn ihrer Laufbahn einige Beiträge für das „Neue Frauenleben“. Diese Zeitschrift wurde von Auguste Fickert in Wien herausgegeben und widmete sich zentralen Themen der (bürgerlichen) Frauenbewegung. Für das „Neue Frauenleben“ besprach Holzer Publikationen sowie öffentliche Vorträge zu so genannten Frauenthemen und bezog dabei ebenso humorvolle wie tolerante Positionen, so beispielsweise in ihrer Rezension eines Vortrags, den die Frauenrechtlerin Dr. Käthe Schirmacher über „Die wirtschaftliche Reform der Ehe“ 1905 in Berlin gehalten hatte und der 1906 in einer Broschüre erschienen war. Schirmacher hatte sich zu dieser Zeit von einer Kämpferin für Frauenrechte zu einer antidemokratischen und nationalistischen Agitatorin gewandelt. Die vehemente Ablehnung berufstätiger Ehefrauen nahm Holzer eher belustigt zur Kenntnis. Ohnehin sei sie der Meinung, dass zwei Drittel, wenn nicht neun Zehntel der Frauen ein Dasein als Hausfrau vorziehen würden – dies aber gelte ebenso für den Mann, der, wenn er es sich leisten könnte, schließlich auch keiner Lohnarbeit nachginge, denn „[d]er größte Teil der Beamtenschaft, die es nicht über eine Durchschnittsstellung bringt, träumen ihr Leben lang von der Pension […]. Ebenso werden gut oder halbwegs gut gestellte Frauen gewiß nicht dem Gelderwerb nachgehen, wenn nicht ein tiefgefühltes Bedürfnis sie zu dieser oder jener Tätigkeit hindrängt. Zur Komptoirarbeit oder in die Fabrik treibt einen gewiß nur Not – oder Langeweile.“
Im „Prager Tagblatt“ konnte Holzer überwiegend kleinere Texte im Unterhaltungsteil platzieren. Ab 1906 sind Beiträge von ihr in dieser Zeitung nachweisbar, darunter auch Buchbesprechungen. So würdigte sie Arthur Schnitzlers Werk im Januar 1908 anlässlich der Verleihung des Grillparzerpreises für sein Stück „Zwischenspiel“. Und auch hier lenkt Holzer den Blick auf die Frauenfiguren und auf die Beziehungskonstellationen: „Die Frau ist die Starke. Sie hat sich durch Jahrtausende alte Zucht in der Gewalt, sie kann schweigen und leiden – sie kann schweigen und sich sehnen.“ Eine kleine Skizze universaler Weiblichkeit entwirft Holzer hier, die über Schnitzlers Komödie hinausweist und wie so oft bei ihren Texten mehrere Deutungen und Lesarten zulässt.
Das gilt auch für ihre Besprechung der Memoiren von Sarah Bernhardt vom 13. August 1908, die gleich auf der Titelseite des „Prager Tagblatts“ beginnt: „Sarah Bernhardt hat das Kreuz der Ehrenlegion nicht bekommen“, lautet der erste Satz des Artikels, in dem sie sich mit dem Leben und Wirken der großen Künstlerin befasst. Denn dass es sich bei Sarah Bernhardt um eine solche handelt, daran lässt Holzer keinen Zweifel. Mit Faszination, aber auch Distanz berichtet die Autorin von der „unersättlichen Eroberungslust“ der Schauspielerin und Sängerin, die sie entschieden gegen pauschale Kritik verteidigt: „und da warf und wirft man ihr immer Reklamesucht und Sensationslust vor und begreift nicht, daß in ihr wie eine ungeheure Naturkraft die Sehnsucht lebt. Die Sehnsucht nach dem Unmöglichen, dem Unerreichbaren, dem All, die sie unaufhaltsam jeder Gefahr, jedem Rätsel, jedem Problem entgegentreibt. Spannend wie ein fesselnder Roman und atemlos wie eine Gespenstergeschichte liest man dieses schöne Buch.“
Das in Holzers Texten immer wieder betonte Recht auf individuelle Lebensgestaltung tritt auch hier zutage und lässt sich an der Autobiografie von Sarah Bernhardt besonders deutlich zeigen. Obwohl Holzer nicht explizit auf Geschlechterverhältnisse eingeht, kann man doch implizit erahnen, dass die gegen Bernhardt erhobenen Vorwürfe einen Mann positiv charakterisieren würden: Das Unmögliche erreichen, erstreben zu wollen, nicht innezuhalten, nicht aufzugeben, sich nicht zufrieden zu geben – das sind Eigenschaften, die einen Abenteurer, einen Forscher oder Entdecker auszeichnen würden, aber einer Frau eben nicht zukamen. Diese Transgression im Sinne einer sozialgesellschaftlichen Grenzüberschreitung war dem Leben und Werk der französischen Darstellerin in besonderer Weise immanent, aber auch dem Leben all jener Frauen um 1900, die nicht bereit waren, die auferlegten Beschränkungen widerspruchslos zu akzeptieren, die sie unterliefen und überschritten und die sich Freiheiten nahmen, die ihnen nicht zugestanden wurden, wie beispielsweise öffentlich Position zu beziehen, sich zu Wort zu melden und eine eigene Meinung zu vertreten. Diese „Eroberungslust“ kannte wohl auch Marie Holzer – ebenso wie die Folgen.
In den folgenden Jahren sollten die ehelichen Differenzen immer weiter zunehmen, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie verschärfte sich die Lage. Denn während Johann Holzer die Demokratie ablehnte, eröffneten sich der politisch engagierten, der Frauenbewegung zugeneigten Marie Holzer neue Perspektiven. Alle Versuche, der unerträglich gewordenen häuslichen Situation zu entkommen, scheiterten. Am 5. Juni 1924 wurde Marie Holzer von ihrem Ehemann erschossen, der sich danach selbst richtete. Auf der Titelseite der in Wien erscheinenden Wochenschrift „Die Unzufriedene“ wird dieser Mord unter dem Titel „Einer tapferen Frau zum Gedenken!“ angeprangert: „Oberst Holzer war ein Polterer, ein echter Kommißkopf, einer vom vielgepriesenen ‚guten alten Schlag‘, ein roher Gewalttäter, der seine Frau, mit der er in fast drei Jahrzehnten Ehe verbunden war, quälte, in ihrer Freiheit beschränkte, und sie schließlich ermordete, weil sie geistig eigene Wege ging […].“
Es ist bemerkenswert, dass die Tötung Marie Holzers hier als Femizid und damit als strukturelle geschlechtsspezifische Gewalt markiert wird – freilich ohne den erst viele Jahrzehnte später entstandenen Begriff zu nutzen.
Marie Holzers brillante Feuilletons und literarische Exkurse würden in gesammelter Form ein beeindruckendes Werk ergeben, aber sie sind verstreut und weitgehend vergessen. Zudem haben Krieg und Schoah viele Spuren verwischt. Ein Nachlass fehlt, selbst ein Bild, eine Fotografie konnte bislang nicht aufgefunden werden. Ihre Stimme wieder hörbar, ihre Persönlichkeit wieder sichtbar zu machen, ist ein Anliegen dieses Beitrags.
Weitere Werke (siehe auch G. Ackermann – Ch. J. Riccabona, Nachträge zur Marie-Holzer-Bibliographie, Juni onlines 2, 2016, Zugriff: 17. 6. 2024):
Dr. Käthe Schirmacher. Die wirtschaftliche Reform der Ehe, in: Neues Frauenleben 19, 1907, Nr. 8, S. 14f.; Arthur Schnitzler, in: Prager Tagblatt, 17. 1. 1908; Sarah Bernhardts Memoiren, in: Prager Tagblatt, 13. 8. 1908; Die rote Perücke, in: Die rote Perücke. Texte expressionistischer Autorinnen, ed. H. Vollmer, 1996, S. 22ff.; Marie Holzer: Texte. Ausgewählt von Anne Martina Emonts, in: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert, ed. G. Ackermann – W. Delabar, 2011 (= JUNI‐Magazin für Literatur und Kultur, Nr. 45/46), S. 282ff.
Literatur: Marie Holzer, in: Die Frau. Sozialdemokratische Monatsschrift 33, 1924, Nr. 7, S. 6; „Einer tapferen Frau zum Gedenken!“, in: Die Unzufriedene. Eine unabhängige Wochenschrift für alle Frauen 2, 1924, Nr. 25, S. 1; Gerd Baumgartner, Marie Holzer (1874–1924), in: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert, ed. G. Ackermann – W. Delabar, 2011 (= JUNI‐Magazin für Literatur und Kultur, Nr. 45/46), S. 253ff.; Gregor Ackermann, Gerd Baumgartner und Anne Martina Emonts, Das Werk Marie Holzers. Eine bibliographische Annäherung, in: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert, ed. G. Ackermann – W. Delabar, 2011 (= JUNI‐Magazin für Literatur und Kultur, Nr. 45/46), S. 257ff.; Anne Martina Emonts, „Wie lieb ich die Türe meines Zimmers“. Zum Werk Marie Holzers, in: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert, ed. G. Ackermann – W. Delabar, 2011 (= JUNI‐Magazin für Literatur und Kultur, Nr. 45/46), S. 303ff.; Christine Riccabona, Anmerkungen zu zwei Briefen im Nachlass Ludwig von Fickers und zu deren Verfasserin Marie Holzer, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 31, 2012, S. 127ff. (Zugriff: 17. 7. 2024); Christine Riccabona, Gedanken über die Literaturkritik von Marie Holzer, in: LiLit 1, 2012 (online, Zugriff: 17. 7. 2024); Anna-Dorothea Ludewig, „Das Generalisieren ist überhaupt eine häßliche Sache und denkender Menschen unwürdig“ – Marie Holzers Literaturkritiken, in: „Der Kritiker kann auch eine Kritikerin sein.“ Literaturkritikerinnen im deutschsprachigen Raum: Porträts und Perspektiven vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, ed. Veronika Schuchter, vorrausichtlich 2025 (in Vorbereitung); Lexikon LiteraturTirol (Zugriff: 17. 7. 2024); Frauen in Bewegung 1848–1938 (Zugriff: 17. 7. 2024); biografiA (Zugriff: 17. 7. 2014).
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