Am 24. März 2025 wurde mit Horst Nussbaumer ein ehemaliger Olympiateilnehmer und Präsident des österreichischen Ruderverbands zum Präsidenten des Österreichischen Olympischen Comités gewählt. Einer seiner Vorgänger als Präsident des damals sogenannten Österreichischen Zentralverbands für gemeinsame Sportinteressen (heute Österreichisches Olympisches Comité) war Otto Herschmann, jüdischer Rechtsanwalt, Sportpublizist, Funktionär und Sportler. Herschmann zählt zu den wenigen Sportlern, die in zwei Disziplinen olympische Medaillen gewinnen konnten. 1912 errang er mit der Säbelmannschaft bei den Olympischen Spielen in Stockholm eine Silbermedaille und ist damit der einzige Präsident eines nationalen Olympischen Komitees, der während seiner Amtszeit eine Medaille gewann.
Otto Herschmann kam am 4. Jänner 1877 in Wien als Sohn des Redakteurs und späteren Federnfärbers Emanuel Herschmann (1902 Suizid) und seiner Ehefrau Caecilie, geb. Lampel (gest. 1928), der Inhaberin einer Kunstblumen- und Federnfabrik, in einer wohlhabenden Familie zur Welt. Nach dem Besuch der Staatsrealschule in Wien-Josefstadt studierte Herschmann ab 1895 an der juridischen Fakultät der Universität Wien. 1900 wurde er zum Dr. iur. promoviert. Danach erhielt er eine Stelle als Auskultant am Bezirksgericht in Wien-Wieden. Acht Jahre nach seiner Promotion wurde er in die Liste der Wiener Gerichtsanwälte aufgenommen und avancierte rasch zu einem gefragten Anwalt.
Obwohl Herschmann 1895 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und zum römisch-katholischen Glauben konvertiert war, blieb er geistig mit dem Judentum verbunden. Seine Hoffnung, dass die Kraft des Sports ein „Aufgehen des Judentums in der Mehrheitsgesellschaft“ schaffe und der Sport zur vollständigen Assimilation der jüdischen Bevölkerung beitrage, erfüllte sich für ihn persönlich allerdings nicht.
Ende des 19. Jahrhunderts begannen jüdische Sportler eine wichtige Rolle bei der Etablierung des institutionalisierten Sports sowie bei Vereinsgründungen zu spielen. Herschmanns kosmopolitische Grundeinstellung spiegelt sich in seiner publizistischen Tätigkeit, seinem pädagogischen, weltoffenen und internationalen Zugang zum Sport sowie in seiner Bewunderung für den US-amerikanischen Liberalismus und dessen avanciertes Sportsystem wider.
Schon früh begann Herschmann beim Ersten Wiener Amateur-Schwimmclub mit dem Schwimmsport. Im Jahr 1896 gründete er gemeinsam mit Schwimmkollegen den Wiener Athletiksportklub (WAC), der, abgesehen vom Wiener Cyclisten-Club, der erste österreichische Allround-Sportverein war. In kürzester Zeit wurden Sektionen für Schwimmen, Schwer- sowie Leichtathletik, Ringen, Boxen, Fechten und Fußball gegründet, 1898 folgten Tennis und 1900 Feldhockey. 1899 war Herschmann darüber hinaus maßgeblich an der Gründung des Verbands der Österreichischen Schwimmvereine beteiligt. Weiters betätigte er sich als Tauchlehrer und versuchte sich im Wasserball, interessierte sich aber auch für Fechtsport, Ringen und Leichtathletik. 1903 gewann er mit der WAC-Wasserballmannschaft seinen einzigen nationalen Titel.
Herschmann war ein früher Wegbereiter der nationalen Olympischen Bewegung. Als 1899 das Wiener Comité zur Beschickung der Pariser Olympischen Spiele 1900 gebildet wurde, war der angesehene Funktionär ein Teil des Exekutiv-Comités. Im Wiener Zentralkomitee für die Olympischen Spiele in Athen 1906 (heute als Olympische Zwischenspiele bekannt und vom IOC nicht als offizielle Olympische Spiele anerkannt) war er als Referent für Athletik und Sportspiele tätig. Als Jurymitglied wurde er bei diesen Spielen für unterschiedliche Sportarten berufen, nämlich Leichtathletik, Ringen und Turnen, Schwimmen und Tauchen, Fechten und Fußball. Zwischen 1900 und 1914 widmete sich Herschmann vornehmlich dem Fechtsport. Mit Giovanni Franceschini engagierte er einen damals europaweit bekannten italienischen Fechtmeister für die österreichische Mannschaft.
Mit der Gründung des Österreichischen Zentralverbands für gemeinsame Sportinteressen, Olympisches Komitee für Österreich, im Februar 1911 wurde erstmals eine Vertretung des österreichischen Fachsports geschaffen und Herschmann im Dezember zum Präsidenten gewählt. Er übte diese Funktion bis Dezember 1913 aus. Bereits im Mai 1911 schlug das Direktorium des Zentralverbands Herschmann als Delegierten des Internationalen Olympischen Comités (IOC) für die Spiele 1912 in Stockholm vor. Der Präsident des IOC Pierre Baron de Coubertin zog allerdings Otto Fürst zu Windisch-Graetz sowie Rudolf Graf Colloredo-Mannsfeld Herschmann vor.
Als Präsident des Österreichischen Zentralverbands für gemeinsame Sportinteressen sowie durch seine führende Tätigkeit im Verband österreichischer Schwimmvereine (1913–1916) war Herschmann eine wichtige Persönlichkeit im österreichischen Sport. Nach 1918 engte er seine Funktionärstätigkeit allerdings ein, sein sportlicher Aktionsradius konzentrierte sich nur noch auf den Fechtsport. Ab 1925 führte er den Vorsitz in der neu gegründeten Amateur-Fechtbewegung. Vor den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam kam es zur Gründung eines provisorischen Amateurverbands im Fechten, in welchem Herschmann vorläufig als Präsident tätig war. lm Sinne der internationalen Tendenzen hin zu einer Trennung zwischen Berufs- und Amateursport wurde 1929 der österreichische Fechtverband als eigenständige Vertretung der Amateure unter der Leitung von Richard Brünner gegründet. Herschmanns geduldiger Diplomatie war es zu verdanken, dass Wien 1931 die Austragung der Europameisterschaften im Fechten zugesprochen erhielt. 1932 beendete Herschmann endgültig seine aktive Fechtkarriere.
Herschmann trat bei den Olympischen Spielen 1896, 1906 und 1912 an. Seinen ersten olympischen Antritt hatte er im Schwimmen, wobei er 1896 in Athen im 100-m-Freistil-Wettbewerb an den Start ging. Im offiziellen Bericht gewann der Ungar Alfréd Hajós vor dem Griechen Efstathios Chorafas. Die Platzierungen waren jedoch umstritten. Einige österreichische Zeitungen deklarierten Herschmann sogar zum Sieger, andere schrieben ihm fälschlicherweise im 500-m-Freistil-Bewerb, den der Österreicher Paul Neumann gewann, den dritten Platz zu. Erst seit 2012 führt das IOC Herschmann im 100-m-Freistil-Bewerb als Zweiten.
1906 trat Herschmann erneut in Athen an, diesmal als Fechter, blieb jedoch unplatziert. Bei den Olympischen Spielen 1908 konnte er – wie viele andere österreichische Sportler auch – nicht antreten, da keine ausreichende Finanzierung für eine Entsendung vorhanden war. 1912 in Stockholm schied er im Einzelbewerb zwar früh aus, gewann jedoch mit der österreichischen Säbelmannschaft, bestehend aus den Offizieren Albert Bogen, Rudolf Cvetko, Friedrich Golling, Andreas Suttner, Reinhold Trampler, Richard Verderber (Mannschaftsführer), olympisches Silber. 1928 ernannte man Herschmann zum Cheftrainer der Säbelmannschaft für die Olympischen Spiele in Amsterdam.
Über den Spitzensport hinaus war für Herschmann der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Entwicklung der olympischen Idee in Österreich und der Körpererziehung wichtig. Der olympische Gedanke bestand seiner Meinung nach nicht nur aus Wettkampf, sondern auch in der Idee, die Jugend zu körperlicher Fitness anzuregen und sie für Sport zu begeistern. Bereits 1906 trat er für die offizielle Anerkennung der sportlichen Erziehung ein. So vertrat er die Ansicht, „dass der Sport in Österreich in den letzten Jahren stark im Wachsen begriffen ist, dass aber die für die Erziehung der Jugend kompetenten Behörden dem Sport bis auf den heutigen Tag ihre offizielle Anerkennung versagt haben“ und diese Aufgabe privaten Vereinen überlassen. Nachdrücklich forderte er daher das Ministerium für Kultus und Unterricht auf, die körperliche Erziehung sowie Schwimmen in den Unterricht zu integrieren.
1909 erlangte Herschmann allgemeine Anerkennung durch die Organisation der Universitätsmeisterschaften. Einen Höhepunkt seiner leibeserzieherischen Reformbemühungen bildete die Enquete für körperliche Erziehung, die unter Beteiligung aller an der Leibeserziehung interessierten Behörden und Institutionen im Jänner 1910 in Wien durchgeführt wurde. Herschmann nahm als Vertreter des WAC teil. Die Enquete zeigte Erfolg. So wurde ein Fachreferent für körperliche Erziehung im Ministerium für Kultus und Unterricht ernannt, Fachinspektoren eingesetzt sowie eine zeitgemäße Reform der Turnlehrer-Bildungskurse an den Universitäten durchgeführt.
Die Bedeutung des Turnsports für die olympische Spiele legte Herschmann zusammen mit dem Ehrenpräsidenten des Österreichischen Zentralverbands für gemeinsame Sportinteressen Otto Fürst zu Windisch-Graetz 1912 in einem Schreiben an das Ministerium des Äußeren dar. „Die sportlichen Erfolge, welche den Österreichern zuteil wurden, sind nicht bedeutende, doch darf immerhin behauptet werden, dass sie inmitten der wahrhaft überwältigenden Konkurrenz keine schlechte Rolle gespielt haben; eine Rolle, die in jenem Augenblicke ungleich besser sein wird, wenn die allgemeine Einführung des Sportes an den österreichischen Schulen vollzogen sein wird […]. Die wirklich bedeutsamen sportlichen Erfolge, die wir in Stockholm davongetragen haben, die beiden Preise im Fleurett und Säbel verdanken wir vor allem der Mitwirkung des Turn- und Fechtlehrer Kurses in Wiener-Neustadt“. Weiters wurde die volle Unterstützung des Zentralverbands zur allgemeinen Einführung des Sports an Österreichs Schulen zugesichert. Als ein positives Beispiel dafür galten die an den niederösterreichischen Schulen geförderten Turn- und Spielfeste. Bei deren Eröffnung im Mai 1913 unterstrich Erzherzog Karl in Anwesenheit des Unterrichtsministers Max Hussarek von Heinlein, Otto Fürst zu Windisch-Graetz, Hans Pfeiffer sowie Herschmann „die zielbewussten Bestrebungen, welche der körperlichen Erziehung der heranwachsenden Generation gelten“. Die Ausweitung der Leibeserziehung wurde allerdings durch den Ersten Weltkrieg stark zurückgeworfen. Auch Herschmann wurde 1915 zum Dragonerregiment Nr. 3 eingezogen und 1917 zum Leutnant befördert.
1904 verfasste Herschmann im Rahmen eines umfangreichen redaktionellen Projekts zur Aufwertung der Großstadt Wien das Buch „Wiener Sport“ (2. Auflage 1905), das die sportliche Stellung – auch aus der Perspektive der Juden – in der Hauptstadt illustriert und aus seiner persönlichen Sicht Wege aufzeigt, wie Erfolge erzielt werden können. Das Buch zeichnet minutiös nach, wie die elitäre Rolle der Körperertüchtigung als Vorbereitung Adeliger auf den Krieg langsam Platz machte sowohl für Sport als Freizeitspaß des Industrieproletariats als auch für professionellen Vereinssport. Den Abschluss seines Buches bildet eine Übersicht über internationale Wettbewerbe. „Wiener Sport“ gilt vor allem in der englischsprachigen Welt als Klassiker der Soziologie.
Nach dem Ende seiner aktiven Sportlerkarriere widmete sich Herschmann verstärkt seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt. Wie viele seiner Anwaltskollegen wohnte er zunächst im 19. Bezirk, in der Eichendorffgasse 7, und hatte in der Folge seine Kanzlei im Stadtzentrum in der Gauermanngasse 2 nahe der Staatsoper. Nach der Errichtung des ersten Wiener Hochhauses in der Herrengasse 6–8 zog er in den frühen 1930er-Jahren dort ein. Ab 1937 lautet seine Wohnadresse Papagenogasse in Wien-Mariahilf. In diesem Jahr musste er wie viele andere jüdische Advokaten Konkurs anmelden, der mangels Vermögens abgewiesen wurde. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde er mit einem Berufsverbot belegt. Herschmanns letzte offizielle Adresse war eine „Sammelwohnung“, Gonzagagasse 1/17 in Wien-Innere Stadt. 1939 wurde er im Wiener Landesgericht zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er für Alfred Winter, den Sohn des ehemaligen jüdischen Besitzers der Vergnügungsstätte Englischer Garten in Wien, einen Reisepass gefälscht hatte. Im Juni 1942 wurde Herschmann nach Sobibór deportiert, wo er zwischen dem 14. und dem 17. Juni 1942 entweder bereits auf dem Transport zu Tode kam oder im Vernichtungslager ermordet wurde.
Am 20. Dezember 1913 wurde Herschmanns damalige und wohl bis weit in die Zukunft wirkende Bedeutung für den österreichischen Sport in einem Artikel im „Fremden-Blatt“ gewürdigt. „Dr. Herschmann, der Präsident des Olympischen Komitees für Oesterreich, hat seine Stelle als solcher niedergelegt. Mit der Person Doktor Herschmanns – der weiterhin im Direktorium verbleibt – scheidet ein Mann von der Leitung unserer obersten Sportbehörde, den man ohne Uebertreibung den Schöpfer des olympischen Gedankens bei uns, den österreichischen Coubertin nennen kann. Wie immer auch weiterhin unser Sport sich entwickeln mag, welche Früchte immer der sportliche Gedanke in Oesterreich tragen wird, den Samen zur künftigen Größe hat Dr. Herschmann gesät und mit seinem Namen bleibt die österreichische olympische Idee für alle Zeiten verknüpft.“
Herschmann erhielt den schwedischen Wasa-Orden 1. Klasse und wurde 1928 mit dem Ordine della Corona d’Italia ausgezeichnet. 1989 nahm man ihn in die International Jewish Sports Hall of Fame auf, 2011 wurde eine Straße in Wien-Simmering nach ihm benannt.
Weitere Werke: Die Österreicher in Olympia, in: Allgemeine Sport-Zeitung 17, 1896, S. 402; Unsre Ellen Preis, in: Sport-Tagblatt, 6. 8. 1932, S. 2.
Literatur: Illustrierte Kronen-Zeitung, 9. 11. 1939; Hannes Strohmeyer, Österreich, in: Geschichte der Leibesübungen 5, ed. Horst Ueberhorst, 1976, S. 285ff.; Erwin Niedermann u. a., Die olympische Bewegung in Österreich und Ungarn von den Anfängen bis 1918, 1990, S. 50ff.; Erwin Niedermann, Die Olympische Bewegung in Österreich. Von den Anfängen bis 1994, 1995, S. 40ff.; Lexikon jüdischer Sportler in Wien 1900–1938, ed. Ignaz Hermann Körner, 2008, S. 102f.; Sportfunktionäre und jüdische Differenz …, ed. Bernhard Hachleitner u. a., 2019, S. 71ff.; Otto Herschmann und die Olympische Bewegung …, ed. Matthias Marschik u. a., 2021; Volker Kluge, Austriaʾs “Coubertin”: Life and Death of Otto Herschmann, in: Journal of Olympic history 30, 2022, H. 1, S. 28ff. (mit Bild); Rudolf Müllner, Sport and Social Difference in Vienna around 1900: On the Historical Significance of Otto Herschmann, in: The International Journal of the History of Sport 40, 2023, Nr. 2–3, S. 190ff.; Bernhard Torsch, Von Olympia nach Sobibor, 2023, jungle.world/artikel/2023/09/von-olympia-nach-sobibor (Zugriff 19. 4. 2025); Otto Herschmann, www.olympedia.org/athletes/21169 (mit Bild, abgerufen 4. 4. 2025); Otto Herschmann, military-history.fandom.com/wiki/Otto_Herschmann (Zugriff 4. 4. 2025); Farce about Swimmers, www-krone-at.translate.goog/327615 (Zugriff 4. 4. 2025); Pfarre St. Ulrich, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Universitätsarchiv, alle Wien.
(Michael Wenzel)