Zeit ist paradox: Einerseits ist sie eine der grundlegendsten und alltäglichsten Erfahrungen jedes Individuums. Andererseits ist sie Gegenstand äußerst komplexer Abstrahierungen. Immer schon hat ihr unsteter Charakter Menschen fasziniert. Ob als Instrument zur Sozialdisziplinierung, Rahmen menschlicher Geschichte, Festzeit oder rätselhaftes Phänomen – Zeit war nie einfach nur existent, sondern wurde immer problematisiert.

Das Projekt spürt einer  Geschichte der Zeitwahrnehmung als einer der fundamentalen kulturellen Kategorien nach, die die Konstruktion von Identitäten im frühmittelalterlichen Europa prägten. Wenn man weiß, wie historische Gesellschaften mit ihrer Zeit umgehen, erfährt man etwas über die komplexen Formierungen ihrer oft widersprüchlichen Identitäten.

Die Entwicklung der europäischen Zeitrechnung war von Verschiebungen, Brüchen und Neuansätzen begleitet. Standen bei den mittelalterlichen Konstruktionen von Zeit häufig antike Traditionen Pate, so ist der Transformationsprozess dieser Konzepte innerhalb eines christlichen Weltbildes keineswegs linear und konfliktfrei verlaufen. Die oft widersprüchlichen frühmittelalterlichen Identitätskonstruktionen lassen sich mit der Etablierung eines komplexen und – allerdings nur vordergründig – einheitlichen Zeitverständnisses verbinden. In dieser Epoche hat sich nach langen Debatten die heute übliche Anno-Domini-Datierung durchgesetzt. Auf dieser mit der biblischen „Heilsgeschichte“ verknüpften Zeit beruht auch die Erzählung der Geschichte in Form von Annalen und Chroniken. Im Jahreslauf wurde die Zeit nach dem liturgischen Kalender eingeteilt, sie löste aber auch apokalyptische Vorstellungen aus. Sie war Gegenstand philosophischer ebenso wie naturwissenschaftlicher Erörterungen, astronomischer Beobachtungen, prophetischer Visionen und astrologischer Spekulationen. Das Projekt beschäftigt sich mit den Entwicklung und Transformationen unterschiedlicher Zeitkonzeptionen, wie sie uns in Handschriften aus der Spätantike bis ins 10. Jahrhundert erhalten sind, die Wissentraditionen und deren Transfer in frühmittelalterlichen Bibliotheken und Schreibschulen erschließen lassen.

Der Transformationsprozess von aus der Antike übernommenen Aspekten der Zeit in ein christliches Weltbild sowie neue Ansätze zur Zeitdefinition bilden einen interessanten Beitrag des Mittelalters zur Konstruktion des modernen Europa. Die diesen Prozess dokumentierenden Quellen werden als Integrationsangebote interpretiert, die den mittelalterlichen Gesellschaften Instrumente in die Hand gaben, Langzeitperspektiven zu entwickeln, um mit den Krisen ihrer Zeit umzugehen zu können.

Zur Zeit wird im Rahmen eines Buchprojektes das Vademecum von Walahfrid Strabo untersucht, das in dieser Hinsicht ein perfektes Beispiel bietet. Das Kompendium (St. Gallen, Stiftsbibliothek 878) enthält eine umfangreiche, unter aäußerst eigenwilligen Kollektionsprinzipien zusammengestellte Materialsammlung des Reichenauer Gelehrten, die die intensive Rezeption und Überarbeitung der artes liberales in der Karolingerzeit dokumentiert. Dabei spielen aber vor allem auch Texte zur Geschichte, Prognostik, Astronomie und Komputistik eine zentrale Rolle. Die Arbeiten basieren auf der 2015 an der Universität Wien eingereichten Habilitationschrift.