Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) besitzt eine große Anzahl griechischer Palimpseste. Viele der originalen (unteren) Handschriften wurden bei der Gesamtkatalogisierung der Wiener griechischen Codices erfasst, andere konnten erst in der letzten 15 Jahren dank technischer Möglichkeiten genauer untersucht werden. Die neue Bearbeitung, die sich auf die Fortschritte der modernen Aufnahmetechnik stützt, wird seit dem Jahre 2001 im Rahmen mehrerer aufeinander folgender Projekte an der Byzanzforschung der ÖAW systematisch durchgeführt. Dank dieser Forschung sind mehrere wichtige, sogar einige sensationelle Entdeckungen neuer Texte gemacht worden.
Von den Basiliken, der umfangreichsten und umfassendsten Rechtssammlung des Byzantinischen Reiches, sind nur wenige Handschriften auf uns gekommen. Darüber hinaus sind die Basiliken nicht vollständig erhalten, da 16 der 60 Bücher des Originals verloren gegangen sind. Die Entdeckung zweier Handschriften beachtlichen Alters, aus dem 10. und 11. Jh., in zwei griechischen Palimpsesten der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien vor 20 Jahren eröffnete neue Perspektiven. Im 12. Jh. und um 1200 wurde der Basiliken-Text dieser Handschriften vom Pergament abgewaschen und abgekratzt und der teure Beschreibstoff wurde für christliche Texte wiederverwendet. Die neuen Texte wurden dabei mit schwarzer Tinte über die Basiliken geschrieben und verdeckten so weitgehend den ursprünglichen Text.
Mit Hilfe früher verfügbarer technischer Mittel konnten Jana Grusková, eine Altphilologin, die die Handschriften entdeckte, und Bernard H. Stolte, ein führender Experte für byzantinische Rechtsgeschichte, bisher 55–60% der getilgten Texte entziffern und untersuchen. Es stellte sich heraus, dass die Wiener Handschriften, ein Volltextexemplar und ein Florilegium, älter sind als die meisten anderen erhaltenen Basiliken-Handschriften und teilweise bisher unbekannte Abschnitte und Lesarten enthalten.
Ziel des Projekts ist eine vollständige Entzifferung dieser Palimpseste und deren umfassende Erforschung. Um die getilgten Schriften sichtbar zu machen, werden modernste nicht-invasive Methoden der digitalen Wiedergewinnung eingesetzt. Die beiden einzigartigen, über Jahrhunderte verborgen gebliebenen Textzeugen werden in eingehenden Forschungspublikationen zugänglich gemacht.
Wichtige Textzeugen in Wiener griechischen Palimpsesten (FWF-Projekt P 24523-G19, 1. Juni 2012 – 31. Mai 2017)
Anschliessend an die bisherige Forschungsarbeit verfolgte dieses Projekt das Ziel, mehrere wichtige, einzigartige griechische Textzeugen, die in der getilgten Textschicht von Palimpsesten verborgen sind, weiter zu entziffern und in Zusammenarbeit mit weltweit anerkannten Spezialisten näher zu untersuchen, um dieses wertvolle Kulturerbe allen einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und auch einem breiten interessierten Publikum zugänglich zu machen. Moderne multispektrale Aufnahmetechnologie der Early Manuscripts Electronic Library (EMEL) aus Kalifornien und der Firma Fotoscientifica aus Parma (Kamerasystem RE.CO.RD) ermöglicht die Entzifferung der getilgten Texte. Die Untersuchungen werden fortgesetzt.
1) Herodian, De prosodia catholica
Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der griechischen Literatur und Grammatik sind die Palimpsest-Fragmente im Codex Hist. gr. 10 aus dem Werk zur griechischen Akzentuierung De prosodia catholica des Ailios Herodianos (2. Jh. n. Chr.) mit zahlreichen Zitaten aus klassischen Autoren. Siehe "The Vienna Herodian Palimpsest".
2) Florilegium Basilicorum Vindobonense
In der unteren Schrift des Codex Hist. gr. 10 ist auch ein bisher unbekanntes Florilegium der Basiliken, des ausführlichsten Textes zur Gesetzgebung im byzantinischen Recht, erhalten geblieben. B. H. Stolte – J. Grusková, Florilegium Basilicorum Vindobonense (in Vorbereitung). Ein neues Projekt ist in Vorbereitung.
3) Scythica Vindobonensia
Die neuen historischen Fragmente, die in den palimpsestierten Blättern 192r–195v des Cod. Hist. gr. 73 entdeckt wurden, beschreiben die Einfälle von Goten in die römischen Balkanprovinzen in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. und entstammen höchstwahrscheinlich den „Scythica“ des zeitgenössischen Historikers Dexippos von Athen. Die Arbeit an und Auswertung von diesem historisch hochwichtigen Text wird in einem Nachfolgeprojekt weitergeführt (siehe „Scythica Vindobonensia“). G. Martin – J. Grusková, ‚Scythica Vindobonensia‘ by Dexippus (?): New Fragments on Decius’ Gothic Wars. Greek, Roman, and Byzantine Studies 54 (2014) 728–754 (with Figg. 1–4); J. Grusková – G. Martin, Ein neues Textstück aus den "Scythica Vindobonensia" zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis. Tyche 29 (2014) 29–43 (mit Tafeln 12–15) (doi); J. Grusková – G. Martin, Zum Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt (Scythica Vindobonensia, f. 195v). Tyche 30 (2015) 35–53 (mit Tafeln 9–11) (doi)
4) Eusebii Chronici fragmentum Vindobonense
Ein Bifolium im Codex Iur. gr. 18 enthält ein neuentdecktes Fragment des verlorenen griechischen Originals der Chronik des Eusebios von Kaisareia. Siehe dazu J. Grusková, Zur Textgeschichte der Weltchronik des Eusebios zwischen Okzident und Orient (Eusebii Chronici fragmentum Vindobonense – ein neues griechisches Handschriftenfragment), in: Byzanz und das Abendland. Budapest 2013, 43–51; J. Grusková – O. Gengler, The Vienna Greek Palimpsest of the Chronicon of Eusebius (Codex Vind. Iur. gr. 18) (in Vorbereitung).
5) Wiener Palimpsest der Georgslegende
Von grosser Wichtigkeit sind die palimpsestierten Reste eines uralten griechischen Volksbuches mit der Legende vom Heiligen Georg im Codex Vind. (lat.) 954. E. Gamillscheg – J. Grusková, Zum Wiener Palimpsest der Georgslegende (BHG 670). Codices Manuscripti (in Vorbereitung).
Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes werden auch andere Palimpseste weiter bearbeitet, darunter besonders: Homilien des Gregors von Nazianz in den Codices Suppl. gr. 189 und Suppl. gr. 59 (V. Somers, J. Grusková); Basilikenfragmente im Codex Suppl. gr. 200 (B. Stolte, J. Grusková); Fragmente der Vita BHG 884 des Johannes von Damaskos im Codex Phil. gr. 158 (R. Volk, E. Lamberz); Fragmente einer homiletisch-hagiographischen Sammelhandschrift im Codex Phil. gr. 158 (E. Lamberz, O. Kresten, J. Grusková); Trophaea Damasci im Codex Phil. gr. 286 (B. Campos); Diodoros᾽ von Tarsos Kommentar zu den Psalmen im Codex Theol. gr. 177 (O. Kresten, J. Grusková); Palimpsestfragment juristischen Inhalts (Blotius-Signatur 1536) aus dem Codex Theol. gr. 238) (B. Stolte, J. Grusková). Neben den früher erworbenen Spezialaufnahmen helfen dabei die neuen Multispektralaufnahmen, die vom Centre of Image and Material Analysis in Cultural Heritage der Technischen Universität Wien hergestellt wurden.
Neben den Wiener Palimpsesten werden auch die Palimpsestblätter des unter dem Namen des Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos überlieferten Werkes De cerimoniis aulae Byzantinae in den Codices Athous Vatop. 1003 und Chalc. S. Trinitatis 133 (125) weiter untersucht. Siehe O. Kresten – M. Featherstone – J. Grusková, Studien zu den Palimpsestfragmenten des sogenannten „Zeremonienbuches“ II. Codex Vatopedinus 1003 (mit Tafeln) (in Vorbereitung).