Die "Allgemeine Akzentlehre" (De prosodia catholica), das Meisterwerk des griechischen Grammatikers Ailios Herodianos (2. Jh. n. Chr.), das er wohl dem römischen Kaiser Marcus Aurelius (reg. 161–180) gewidmet hatte, war vor allem eine systematische Darstellung der Regeln der griechischen Akzentlehre, die eine Fülle gelehrten Materials enthielt. Das Werk wurde in der Spätantike und in Byzanz häufig verwendet, ist aber schließlich nur in kurzen Epitomen und zahlreichen späteren Zitaten erhalten geblieben. Die Entdeckung einiger Blätter aus einer griechischen Handschrift des 10. Jh., die Herbert Hunger vor 60 Jahren bei der Katalogisierung der griechischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek in einem Palimpsest-Codex gemacht hatte, hat großes Interesse erweckt. Um die Wende des 12./13. Jh. wurde die Schrift der Herodian-Handschrift getilgt und das wertvolle Pergament wurde für einen neuen Text, eine Lebensgeschichte des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, wiederverwendet. Mit Hilfe der damals zur Verfügung stehenden technischen Mittel gelang es Herbert Hunger, einige Teile des Palimpsests zu entziffern. Die Untersuchungen wurden im 21. Jh. mit Hilfe der digitalen Aufnahmetechnik und moderner Methoden zur Wiedergewinnung getilgter Texte an der ÖAW (Byzanzforschung) fortgesetzt und seit 2001 in mehreren, von Otto Kresten geleiteten Projekten weitergeführt. Mit der Bearbeitung der Wiener Herodian-Fragmente wurde ein internationales Team von fünf Spezialisten betraut, den Klassischen Philologen Klaus Alpers † (Hamburg), Jana Grusková (Wien/Bratislava), Nigel Wilson (Oxford), Herbert Bannert (Wien), Oliver Primavesi (München). Das Ziel ist es, das Wiener Herodian-Palimpsest möglichst vollständig zu entziffern und systematisch zu erschließen, um durch eine umfassende kritische und kommentierte Textedition diese einzigartige antike Quelle zugänglich zu machen und der Forschung zur Verfügung zu stellen.
Das Team hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte in der Entzifferung und der Erschließung der sehr schwer lesbaren Wiener Fragmente von De prosodia catholica des Herodian erreicht. Die modernsten Methoden der digitalen Wiedergewinnung getilgter Schriften kommen zum Einsatz, um die getilgte Schrift der originalen Handschrift sichtbar zu machen.