Die „germanische Völkerwanderung“ im Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit

Ursprünge und Entwicklung einer Meistererzählung des deutschen Nationalismus, 1500–1830


Die Idee einer „germanischenVölkerwanderung“ zählt seit der Nationalromantik zu den zentralen Motiven nationaler Identitätsstiftung in Deutschland. In ihren Eroberungszügen zwischen den späten 4. und dem 6. Jahrhundert haben Goten, Vandalen, Langobarden und andere germanische Völker, so die patriotische Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, das Römische Reich in die Knie gezwungen und dabei ein zeitloses Beispiel heldenhafter Tugend gegeben, auf das die Deutschen, als ihre Nachfahren, mit Stolz zurückblicken können. Die moderne Forschung zur Geschichte des Frühmittelalters hat aufgezeigt, wie unzutreffend eine solche Deutung ist. Umso wichtiger ist es, nach den motivgeschichtlichen Wurzeln dieses äußert wirkungsmächtigen nationalen Mythos zu fragen.

Das historiographische Modell einer „Völkerwanderung“ lässt sich in seinen Grundzügen bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen: Der Wiener Humanist Wolfgang Lazius prägte in seiner 1557 gedruckten Schrift De gentium aliquot migrationibus („Über die Wanderungen einiger Völker“) den Begriff der migratio gentium, um die Mobilität barbarischer Stämme zu betonen – als eine Gegenreaktion auf das Bild statischer, territorialer Germanen, das aus der Tacitus-Rezeption um 1500 entstanden war. Lazius lenkte die Aufmerksamkeit der res publica litterarum auf das Phänomen barbarischer Migrationen, das in den folgenden Jahren zu einem beliebten Thema für gelehrte Traktate und akademische Orationen avancierte. In den nächsten 250 Jahren wurde das Völkerwanderungs-Konzept weiter verfeinert, bis hin zu den äußerst komplexen – und, aus heutiger Sicht, beeindruckend quellenkritischen – Deutungen frühmittelalterlicher Wanderungsprozesse, die im 18. Jahrhundert von Gelehrten wie Johann Jacob Mascou oder Johann Ehrenfried Zschackwitz vorgelegt wurden.

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Stefan Donecker