Die Bibel ist das einzige Buch, das jemals den Status des „Weltkulturerbes“ von der UNESCO erhalten hat. Ihre kulturelle Wirkung auf das europäische Mittelalter war enorm und wurde aus zahlreichen Perspektiven von, unter anderen, Theologen, Historikern und Literaturwissenschaftlern erforscht. Trotz dessen gibt es noch viele offene Fragen, speziell in Bereichen, bei denen der biblische Einfluss nicht so offensichtlich ist. Dies betrifft beispielsweise die Rolle biblischer Modelle für Identifikations- und Unterscheidungsprozesse sowie für die Wahrnehmung von Ethnizität und „Otherness“.
In welcher Beziehung stand die Christenheit als „universale“ Religion zu partikularen Gemeinschaften und Identitäten und zu anderen Religionen? Aspekte dieser Frage sind kürzlich im Zusammenhang mit dem Sonderforschungsbereich „Visions of Community“ (VISCOM) in Wien untersucht worden. Das aktuelle FWF-Projekt strebt danach, diesen Forschungszweig aus einer anderen Perspektive heraus zu ergänzen, indem es die transkulturelle Situation der Iberischen Halbinsel vom 8. bis zum 12. Jahrhundert untersucht. Historische Zugänge zum „Buch der Bücher“ aus einer transkulturellen Perspektive sind bislang weitestgehend vernachlässigt worden. Was war die Beziehung zwischen der Bibel und anderen Heiligen Schriften, zum Beispiel dem muslimischen Koran oder den jüdischen Tanach und Talmud? Wie hat sie die Wahrnehmung anderer religiöser Kulturen und ihre Interaktion mit Christen in den Bereichen Liturgie, Historiographie und Polemik beeinflusst?
Historiker, die sich dem Mittelalter widmeten, haben selbstverständlich die lateinisch-christlichen Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch im Frühen und im Hochmittelalter erforscht. Dennoch stehen noch viele Vergleiche von Zeit- und Raumkonzepten, von Gottes Wort und heiligem Text oder Sichtweisen auf den Rest der Welt, die von jüdischen, christlichen oder muslimischen Schriften, oder Texten, die auf ihnen aufbauen, dargelegt werden, aus.
Die transkulturelle Verflechtung dieser Texte muss, speziell in den Erzählungen von Exegese, Liturgie und Historiographie, sowie in Bezug auf ihre mediale und materielle Erscheinung, beurteilt werden. In den Begegnungsgesellschaften der Iberischen Halbinsel mussten die transzendental begründeten und normativen Vorstellungen der jeweiligen Heiligen Schriften miteinander konkurrieren und wurden mit fremden Wahrnehmungen von Zeit, Raum, Natur und Geschichte konfrontiert. Auch wenn Juden, Christen und Muslime alle Gottes Plan der Erlösung der Menschheit als die hauptsächliche Triebfeder der Geschichte verinnerlicht haben, unterscheiden sich ihre jeweiligen Strategien der Darstellung dieser Geschichte in bemerkenswerter Weise. Dies wirkte sich auf die jeweilige Historiographie aus und die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Konzepte von Zeit, Raum und Geschichte im Christentum, Judentum und im Islam können in ihren exegetischen, polemischen und historiographischen Praktiken entdeckt werden. Dies beinhaltet jedoch nicht den gegenseitigen Einfluss und transkulturellen Austausch zwischen diesen Wahrnehmungs- und Transformationsweisen fremder Geschichte. Wir kennen noch immer nicht die exakte Rolle der verschiedenen religiösen Rahmen in den jeweiligen Wissenssystemen. Dies sind die grundsätzlichen Fragen, denen sich das Projekt widmen wird.
Der hier gewählte Zugang wird die Problemstellung aus dem Blickwinkel der christlich-lateinischen Tradition behandeln (was mit der Expertise des Projektteams übereinstimmt). Zwei große Bereiche werden detailliert untersucht: einerseits werden Bibelmanuskripte, sowohl aus al-Andalus als auch aus den christlich regierten Regionen der Iberischen Halbinsel, die aus dieser Periode überliefert sind, mit dem speziellen Fokus auf Illustrationen, Paratexten, nicht-biblischen Ergänzungen in den Codices, ihre Marginalien erforscht. Vorangegangene Untersuchungen zahlreicher dieser Manuskripte durch Matthias M. Tischler haben bereits demonstriert, dass reichhaltige und zu großen Teilen unbekannte Evidenz zu erwarten ist. Andererseits wird die Verwendung biblischer Modelle in der lateinischen Historiographie, insbesondere bei der Thematisierung von interkulturellem Konflikt und Kontakt, untersucht. Die biblischen und historiographischen Vermächtnisse von Mozarabern und lateinischen, nord-iberischen Regionen offenbaren die einzigartige und bislang unerschlossene Möglichkeit, die enge Interaktion zwischen spezifischen Gestaltungen von Bibelmanuskripten und Historiographie als zwei sich ergänzende Weisen des Wahrnehmens und Wandelns des „Anderen“ im Frühen und Hochmittelalter zu analysieren. Ein dritter, die Synthese vollziehender Strang des Projektes wird die Resultate zusammentragen und mit den bereits bekannten muslimischen und jüdischen Perspektiven vergleichen. Des Weiteren wird das Projekt von dem weiten, vergleichenden Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Visions of Community“ (VISCOM) profitieren und für Vergleiche wichtige Resultate bieten.
Projektleiter:
Walter Pohl
Mitarbeiter:
Patrick Marschner
Graeme Ward
Assoziierte Mitarbeiter:
Matthias Tischler
Projektnummer: P27804-G16
Laufzeit: 04.05.2015 - 30.04.2019