Dieses Projekt zeichnet die Geschichte der bis heute noch populärsten Herkunftserzählung der “Tibeter” (tib.: bod pa) nach, die ihre Abstammung auf eine Ehe zwischen einem heiligen Affen und einer blutrünstigen Felsendämonin zurückführt. Untersucht wird die Rolle, die der Buddhismus bei der Gestaltung und Verbreitung dieses Narrativs spielte, und wie dies dazu beitrug, die ethnische Kategorie der “Tibeter” zu formen und zu verfestigen. Die Forschung, die sich über etwa 700 Jahre erstreckt (vom 12. Jh. bis 1911), befasst sich mit laufenden interdisziplinären Debatten über die Natur und Prävalenz interregionaler Identitäten im Zeitalter vor dem modernen Nationalismus. Insbesondere geht es um die soziale Bedeutung, die solche Identitätskonstrukte vor dieser Zeit hatten sowie um die Rolle, die Religion, Mythos und Staaten bei ihrer Entstehung und Verbreitung gespielt haben mögen.

Die Hypothese ist, dass die buddhistische Verbreitung dieser Erzählung dazu beitrug, die Vorstellung von “den Tibetern” zu formen, zu propagieren und aufrechtzuerhalten und das obwohl auf der tibetischen Hochebene über längere Zeiträume keine zentralisierte Staatsmacht existierte. Zu den Fragen gehören: Wie genau wurde diese Ursprungserzählung verwendet und wie veränderte sie sich über Zeit und Raum hinweg? Wie weit verbreitet und bekannt war sie? Welche Rolle spielten buddhistische Autoren und AkteurInnen in der Ethnogenese der Tibeter, und wie umstritten war dieser Prozess?

Das Hauptaugenmerk liegt auf einem philologischen Versuch, die literarische Verwendung und erzählerische Entwicklung dieses Ursprungsmythos nachzuzeichnen, der bereits im 11. oder 12. Jh. im bKa' chems ka khol ma attestiert ist und in verschiedenen Abwandlungen in unzähligen weiteren Quellen wieder auftaucht. Auch ausgewählte andere Werke, vor allem osttibetische Ahnenkult-Handbücher und Biographien, werden untersucht, um die rituelle und geographische Verbreitung dieser Erzählungen zu beleuchten. Ethnographische Feldforschung wird darüber hinaus auch die Rolle untersuchen, die die materielle Kultur und das Pilgerwesen bei seiner Verbreitung hatte. Das Projekt verbindet somit Philologie, Sozialgeschichte und zu gewissen Anteilen auch Ethnographie.

Durch die Nutzung der reichen und tiefen tibetischen historischen Aufzeichnungen wird das Projekt innovative Beiträge zu theoretischen Fragen bezüglich historischer Ethnizität und Identität leisten, die sich in allen akademischen Disziplinen als durchweg schwierig erwiesen haben. Innerhalb der Tibetologie wird das Projekt bisher ignorierte Aspekte der dynamischen Geschichte und Natur der Idee der “Tibeter” aufdecken. Im Gegensatz zu früheren Studien analysiert das Projekt die relevanten Quellen als aktive Mitgestalter der Konstruktion und Anpassung einer formbaren Identität. Dabei werden auch textkritische Fragen zu historischen Schlüsselwerken wie dem bKa' chems ka khol ma behandelt.

Der Hauptforscher, Reinier Langelaar, hat unter Anwendung von historischen, philologischen, ethnographischen und vergleichenden Methoden tibetische Gemeinschaften aus einer Reihe von Perspektiven erforscht. Seine Doktorarbeit konzentrierte sich auf Clan-Genealogien und beinhaltete eine umfangreiche Analyse einer nicht-buddhistischen ethnischen Ursprungserzählung. Die Projektleiterin, Pascale Hugon, ist eine Expertin für tibetisch-buddhistische Literatur und Geistesgeschichte.

Projektdaten