Einer der äußerst wertvollen Edelsteine, die im Rahmen der Rahmenvereinbarung für die Zusammenarbeit zwischen dem IKGA und dem China Tibetology Research Center in Peking untersucht werden, – für Madhyamaka-Wissenschafter sicherlich ein Kronjuwel – ist ein Sanskrit-Palmblattmanuskript von Candrakīrtis Madhyamakāvatāra (MA) und Madhyamakāvatārabhāṣya (MABh). Die Handschrift umfasst 97 Folios und bietet mit Ausnahme ihres fehlenden zweiten Blattes den vollständigen Sanskrit-Text des MA und MABh. Während beide Texte im späten 11. Jahrhundert von Pa tshab nyi ma grag ins Tibetische übersetzt wurden, ist diese Handschrift, abgesehen von einer kleinen Anzahl verstreuter Zitate, bislang unsere einzige Quelle für den ursprünglichen Sanskrit-Text.

Das MA-MABh ist Candrakīrtis einzige eigenständige Arbeit über das Madhyamaka-Gedankengut. Es ist daher von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis und unsere Analyse seiner Interpretation der Ansichten des Schulgründers Nāgārjuna (2./3. Jh. u. Z.) sowie für unsere Einschätzung von Candrakīrtis buddhistischer intellektueller Umgebung im 7. Jahrhundert, deren Selbstverständnis und deren Problemstellungen. Es ist vor allem das umfangreiche und gewichtige sechste Kapitel (abhimukhī bhūmi, "die direkte Konfrontation"), in dem Candrakīrti die Madhyamaka-Sichtweise bezüglich der wahren Natur der Menschen und der Dinge der Welt darlegt und buddhistische und nicht-buddhistische Gegner wegen ihrer unzureichenden, irreführenden und soteriologisch schädlichen ontologischen Theorien kritisiert. Die erste Hälfte des sechsten Kapitels bewegt sich im Rahmen der Widerlegung des Entstehens von Dingen aus sich selbst, anderen, beiden und keiner Ursache und kann allgemein als weitreichende und detaillierte Zusatzerklärung zu Mūlamadhyamakakārikā I.1. angesehen werden. Anders als in der ersten Hälfte des Kapitels, in der die Möglichkeit des Entstehens wirklich existierender Phänomene widerlegt wird, um das Entstehen in Abhängigkeit auf der konventionellen Ebene (saṃvṛti) und Nicht-Existenz auf der Ebene der höchsten Wirklichkeit (paramārtha) zu beweisen, konzentriert sich die zweite Hälfte auf die Widerlegung eines wirklich existierenden Selbst von Personen (ātman, pudgala), auf den Nachweis, dass die Behauptung, Mādhyamikas seien vaitaṇḍikas, in diesem Fall Personen, die lediglich gegnerische Lehren widerlegen, ohne ihre eigene Position festzulegen, falsch ist, und auf die Erklärung der sechzehn Arten der Leere (śūnyatā). Candrakīrtis Ausführung zur Selbstlosigkeit der Person (pudgalanairātmya) im Anfangsteil dieses Abschnitts ist als Gegenstück zu seiner Ausführung über die Selbstlosigkeit von Phänomenen (dharmanairātmya) in der ersten Hälfte des Kapitels gedacht.

Das Projekt zielt darauf ab, auf Grundlage der neu verfügbaren Sanskrit-Handschrift und anderer Sanskrit- und tibetischen Materialien die im vorausgehenden Forschungsprojekt begonnenen Arbeiten an einer kritischen und diplomatischen Ausgabe des sechsten Kapitels, sowie an einer englischen Übersetzung der Verse und des Kommentars, begleitet von detaillierten historischen, philologischen und analytischen Anmerkungen, fortzusetzen. Dadurch, dass die zentralen Diskussionen Candrakīrtis zum ersten Mal in der Sprache, in der sie verfasst wurden, und in der neuen englischen Übersetzung verfügbar gemacht werden, wird der zukünftigen Forschung auf dem Gebiet des Madhyamaka ‒ und darüber hinaus ‒ eine solide und reichhaltige Grundlage geschaffen.

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