Die lange und komplexe Geschichte der philosophischen Traditionen in Südasien ist durch die Entwicklung der Dialektik und Logik geprägt. Diese zwei theoretischen Bereiche beschäftigten sich nicht nur mit der Festlegung, Analyse und Regulierung von Debatten, sondern mit dem logischen Denken im Allgemeinen. Ziel des Projekts ist die philologische Bearbeitung sowie die historischen Kontextualisierung eines frühmittelalterlichen Werkes über Logik, des „Kommentars zu den Regeln der Debatte“ (Vādanyāyaṭīkā), der von Śāntarakṣita (ca. 725–788 u.Z.), einem berühmten Philosophen und klösterlichen Würdenträger, verfasst wurde. Es handelt sich hierbei um einen kreativen Kommentar zu den „Regeln der Debatte“ (Vādanyāya), einem der letzten Werke von Dharmakīrti (zwischen 550 und 660 u.Z.), der eine Hauptfigur in der Epistemologie und Logik des Buddhismus war.

Śāntarakṣitas philosophische Zusammenfassungen und Exkurse bilden die interessantesten Bestandteile des Werkes. Vertiefende Studien der sich darin findenden originellen Auffassungen über Dialektik und Logik gibt es bis jetzt aber nur wenige. Einem Verständnis des Kommentars steht auch der unbefriedigende Zustand der gedruckten Ausgaben sowie der fehlende Zugang zu den relevanten Handschriften im Wege. Die ersten Ausgaben des Grundtextes Dharmakīrtis und des Kommentars Śāntarakṣitas erschienen in 1935/1936 durch die Arbeit von Rāhula Sāṅkṛtyāyana, der in Tibet Handschriften der beiden Werke entdeckt hatte. Sāṅkṛtyāyanas Edition des Grundtextes wurde von Michael T. Much durch eine präzise und kritische Edition (Wien 1991) ersetzt, der jedoch keinen Zugang zu einer Kopie guter Qualität hatte. Die in Tibet vermuteten Handschriften waren außerhalb unserer Zugänglichkeit. Diese Situation änderte sich wesentlich mit der Unterzeichnung eines General Agreement zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem China Tibetology Research Center (CTRC) in Beijing in 2004. Dieses Übereinkommen ermöglicht es dem Projekt, mithilfe der in der CTRC-Bibliothek befindlichen fotografischen Kopien der von Sāṅkṛtyāyana entdeckten Handschriften eine kritische Ausgabe der Vādanyāyaṭīkā zu erstellen.

Im Rahmen des Projekts wird die historische Kontextualisierung von Śāntarakṣitas Kommentar in zweierlei Hinsicht erfolgen, nämlich dadurch, die Auffassungen Śāntarakṣitas im breiten Kontext seines vielseitigen Œuvre zu erläutern, und weiters, ausgewählte polemische und philosophische Exkurse aus historischer Perspektive zu analysieren. Das Projekt will damit zu einem besser begründeten und verfeinerten Verständnis beitragen, wie während der mittelalterlichen Zeit in Südasien die Debatte gestaltet und das logische Denken analysiert wurde, sowie in welchem Zusammenhang diese Aspekte mit der Entwicklung der philosophischen Theorien und Ideen standen.

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