Die Scythica Vindobonensia – neue historische Fragmente, die in der unteren Textschicht der palimpsestierten Blätter 192r–195v des Codex Hist. gr. 73 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien vor einigen Jahren entdeckt wurden – bilden zweifellos einen der wichtigsten Zuwächse zum Corpus antiker Texte. Sie enthalten eine detaillierte Darstellung von Einfällen von "Skythen" (eine archaisierende Kollektivbezeichnung für Goten und andere ostgermanische Stämme) in die römischen Balkanprovinzen in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. und entstammen höchstwahrscheinlich den "Scythica" des zeitgenössischen Historikers Dexippos von Athen.
Für weitere Informationen siehe die Homepage: https://www.oeaw.ac.at/scythica-vindobonensia/
Das Projekt - eine Kooperation der ÖAW und der UW - setzt sich zum Ziel, die Scythica Vindobonensia systematisch zu erschließen. Jana Grusková (ÖAW) und Gunther Martin (Universität Zürich) entziffern und untersuchen die Fragmente weiter. Beide Forscher haben gemeinsam den größeren Teil der Fragmente und die ersten Interpretationsvorschläge und Überlegungen zum Text bereits in einer Reihe vorläufiger Publikationen veröffentlicht. Die Ergebnisse werden in einer Monographie präsentiert werden, die neben einer kritischen Edition und einem umfassenden Kommentar zum Text ausführliche Studien zu Einzelfragen (etwa zur Frage der Autorschaft, zur Sprache und zum Stil, zur Struktur/Rekonstruktion des Originalwerkes und seiner Interpretation u.a.) wie auch reichliches Bildmaterial vom Palimpsest enthalten wird. Zur Wiederherstellung des Textes kommen die modernsten technischen und naturwissenschaftlichen Methoden zum Einsatz. Der überlieferte Inhalt hat weitreichende Auswirkungen auf viele Aspekte der antiken Geschichtsforschung, von römischer politischer Geschichte und Militärgeschichte über römische, griechische und gotische Prosopographie bis hin zu wichtigen Fragen die Verwaltung des römischen Reiches während der Krise des 3. Jh. n. Chr. betreffend. Darüber hinaus ist eine kritische Befassung mit dem relevanten epigraphischen und archäologischen Material notwendig. Fritz Mitthof (Universität Wien, Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik) unterstützt das Projektteam bei der althistorischen Kontextualisierung.
Aus einer internationalen Konferenz, die im Rahmen des FWF-Projekts P 28112-G25 Scythica Vindobonensia am 3.-6. Mai 2017 in Wien organisiert wurde, ist ein Band "Empire in crisis: Gothic invasions and Roman historiography" hervorgegangen. Der Band vereinigt verschiedene disziplinäre und interdisziplinäre Perspektiven auf das Thema der gotischen und anderen germanischen Einfälle ins Römische Reich, besonders im 3. Jahrhundert n. Chr., das durch die Scythica Vindobonensia alias Dexippus Vindobonensis wichtige Impulse erhalten hat. Die Beiträge behandeln den historischen und historiographischen Kontext der neuen Fragmente, von der römischen bis in die byzantinische Zeit, wie auch die Einfälle als solche.