Projektbeschreibung

Generell werden Sprachvarietäten in Metropolen nicht nach geographischen Grenzen differenziert, sondern vielmehr nach sozialer und/oder ethnischer Herkunft (Labov 2001). Wenn durch Kontakt zwischen Personengruppen verschiedener sozialer und/oder ethnischer Herkunft mehrere Varietäten aufeinandertreffen, kommt es zur Herausbildung neuer Varietäten, sowie zu einer mehrere linguistische Ebenen umfassenden Variation und in der Folge zu Lautwandel. In Wien sind schwerpunktmäßig zwei Arten von Sprachkontakt hervorzuheben: der Kontakt zwischen verschiedenen Sprachen und der Kontakt zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache. Ersterer betrifft z.B. den Kontakt zwischen Sprachen von SprecherInnen mit Migrationshintergrund einerseits untereinander als auch andererseits mit den genuin mittelbairischen Varietäten Wiens. Historisch wird der Kontakt zwischen verschiedenen Sprachen z.B. durch den Einfluss des Tschechischen auf den Wiener Dialekt in dialektologischen Arbeiten beschrieben. So führt Kranzmayer (1953) insbesondere die „Wiener Monophthongierung“ und die „Wiener E-Verwirrung“ des Wiener Dialekts auf Kontakt mit dem Tschechischen zurück.

Kontakt zwischen Varietäten einer Sprache führt zu Variationsphänomenen, die – innerhalb der Phonologie – mehrere Ebenen umfassen können. Um diese verschiedenen Ebenen sowohl einer adäquaten Beschreibung als auch einer Erklärung zuführen zu können, wurde in den späten 1970er Jahren von Dressler und Wodak ein Zwei-Kompetenz-Modell (Dressler & Wodak 1982) entwickelt, das in der Interaktion von (Wiener) Standardaussprache und (Wiener) Dialekt auffällige Input-switch-Regeln (synchron phonetisch unmotiviert) und perzeptuell nur geringfügig auffällige phonologische Prozesse (phonetisch motiviert) unterscheidet. Dieses Modell wurde von Moosmüller (1987) um dialektale phonologische Prozesse erweitert, die teilweise von der (Wiener) Standardaussprache übernommen wurden (Moosmüller 1991, Moosmüller 2007). In einem derzeit noch laufenden, vom FWF geförderten Projekt zur Gespanntheitsopposition in der österreichischen und der deutschen Standardaussprache (I 536-G20) konnte gezeigt werden, dass die österreichische Standardaussprache sich zwar einerseits an der deutschen Standardaussprache orientiert, aber andererseits auch deutlich mittelbairische
Wurzeln hat, die sich u.a. in einer Tendenz zur Neutrali¬sierung der hohen Vokalpaare /i – ɪ, y – ʏ, u – ʊ/ zeigt (Brandstätter & Moosmüller in Druck).

An dieser Stelle knüpft dieses Projekt an. Bisher wurde die Interaktion des (Wiener) Dialekts und der (Wiener) Standardaussprache beschrieben (Wodak-Leodolter & Dressler 1978, Moosmüller 1991, 2011 u. a.), die aus diesem Kontakt entstehenden dazwischenliegenden Varietäten wurden aber noch keiner phonetischen oder phonologischen Analyse unterzogen. Aus diesem Kontakt entstanden insbesondere zwei Varietäten:

A) Eine dialektbasierte Standardaussprache: Diese Varietät wird von Personengruppen gesprochen, die in der Standard(aus)sprache sozialisiert wurden, deren Eltern jedoch SprecherInnen des Wiener Dialekts sind. Gesprochen wird diese Varietät von jungen Personen mit Grundschulausbildung und Lehre. Besondere Kennzeichen dieser Varietät sind die Beibehaltung einer dialektalen Syntax und Morphologie sowie bestimmter phonologischer Prozesse des Wiener Dialekts (Wiener Monophthongierung) und der dialektalen Prosodie. Jedoch findet eine überwiegende Anlehnung an die Phonologie der Standardaussprache statt.

B) Eine angenäherte Standardaussprache: Diese Varietät wird von Personengruppen gesprochen, die im Wiener Dialekt aufgewachsen sind, aber durch eine höhere Schulbildung bzw. universitäre Ausbildung die Standard(aus)sprache erlernt haben. Syntax und Morphologie entsprechen in dieser Varietät der Standardsprache, bestimmte phonologische Prozesse sowie prosodische Merkmale des Dialekts werden beibehalten.

Für die Analysen wird eine Datenbank erstellt, um das Sprachverhalten der beschriebenen Personengruppen zu erfassen. Insbesondere werden akustische Analysen von folgenden Personengruppen durchgeführt:

  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher des Wiener Dialekts: ältere Generation (> 45 Jahre)
  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher der dialektbasierten Standardsprache: junge Generation (< 25 Jahre)
  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher der angenäherten Standardsprache: junge Generation (< 25 Jahre)
  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher der angenäherten Standardsprache: ältere Generation (> 45 Jahre)
  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher der Wiener Standardsprache: junge Generation (< 25 Jahre)
  • 6 Sprecherinnen und 6 Sprecher der Wiener Standardsprache: ältere Generation (> 45 Jahre)

Aus dieser Datenbank werden am Institut Studien zu Lautwandel und zu SprecherInnenvariabilität durchgeführt. Weiters kann das erhobene Datenmaterial von Studierenden genutzt werden, um zu bestimmten soziolinguistischen und phonetischen Fragestellungen eine Masterarbeit oder Dissertation zu verfassen. Dadurch wird ein erweitertes Bild der sprachlichen Variation in Wien ermöglicht.

Literatur:

  • Brandstätter, J. & S. Moosmüller. In Druck. Neutralisierung der hohen ungerundeten Vokale in der Wiener Standardsprache – A sound change in progress?. In: Glauninger, M. and A. Lenz (Hrsg.), Standarddeutsch in Österreich – Theoretische und empirische Ansätze. Wien: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Dressler, W.U. & R. Wodak. 1982. Sociophonological methods in the study of sociolinguistic variation in Viennese German. Language and Society II, 339-370.
  • Kranzmayer, E. (1953), Lautwandlungen und Lautverschiebungen im gegenwärtigen Wienerisch. Zeitschrift für Mundartforschung 21, 197-239.
  • Labov, W. 2001. Principles of linguistic change. Volume 2: Social factors. Oxford: Blackwell.
  • Moosmüller, S. 1987. Soziophonologische Variation im gegenwärtigen Wiener Deutsch. Eine empirische Untersuchung. Stuttgart: Steiner (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. 56).
  • Moosmüller, S. 1991. Hochsprache und Dialekt in Österreich. Wien: Böhlau.
  • Moosmüller, S. 2007. Vowels in Standard Austrian German. An Acoustic-Phonetic and Phonological Analysis. Habilitationsschrift, Wien
  • Moosmüller, S. 2011. Sound changes and variation in the Viennese dialect. In: K. Dębowska-Kozłowska & K. Dziubalska-Kołaczyk (eds.), On Words and Sounds: A selection of papers from the 40th PLM, 2009. Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 134-147.
  • Wodak-Leodolter, R. & W. U. Dressler. (1978). Phonological Variation in colloquial Viennese.  Michigan Germanic Studies, 4, 1, 30-66