14.12.2022

Der Laut /r/ als Fenster zur Sprachwahrnehmung

Über die Sprachwahrnehmung des Lauts /r/ gibt Eva Reinisch Wissenschaftlerin am Institut für Schallforschung und Gruppenleiterin des Fachbereichs Phonetik Auskunft. Sie ist Mitautorin eines Fachartikels zu diesem Thema, der unlängst veröffentlicht wurde.

Die Graphik zeigt eine schematische Darstellung eines Experimentdurchgangs wo nach wiederholtem Hören eines bestimmten /r/-Lautes (blau markiert) ein Folgelaut erkannt werden soll (grün markiert). Die obere Reihe zeigt blau markiert ein geriebenes Hinterzungen-/r/, die untere ein mit vibrierender Zungenspitze gesprochenes /r/. Die Graphik dieses Spektrogramms wurde von Eva Reinisch erstellt.

Stellen Sie sich vor, Sie hören die deutschen Wörter Rose, Runde, Rand, Rinde, Rauch, und ähnliche. All diese Wörter beginnen mit dem Laut /r/. Dieser eine Laut kann aber sehr unterschiedlich ausgesprochen werden. Manche Leute produzieren ein /r/ indem sie die Zungenspitze nach oben Richtung Gaumen oder Zähne heben und vibrieren lassen, andere heben den Zungenrücken an den Gaumen und lösen dort eine Vibration oder ein Reibegeräusch aus - um nur einige Beispiele zu nennen. Noch unterschiedlicher wird ein /r/ ausgesprochen, wenn es am Ende eines Wortes vorkommt, zum Beispiel in Oper, das manchmal fast wie Opa klingt. Hier wird das /r/ zu einem Laut ähnlich dem /a/ (ebenso Lehrer, Fahrer, Maler, etc.).

Ziel unserer Studie war es zu verstehen welche Konsequenzen diese Unterschiede für das Sprachverstehen haben. Anders gesagt, wurden die Unterschiede im Laut /r/ genutzt um den kognitiven Prozess zu untersuchen, der dem Sprachverstehen zugrunde liegt.

In unserer Studie haben wir Probandinnen und Probanden Sequenzen von 25 Wörtern vorgespielt, die mit einer bestimmten Variante von /r/ ausgesprochen wurden. Direkt im Anschluss an jede Sequenz mussten sie entscheiden, ob sie undeutliche Test-Wörter noch immer als mit /r/ beginnend hören (also Rose, oder doch Lose oder Hose). Wir wissen, dass das bei „eindeutigen Lauten“ (wie einem /b/) nicht so ist; nachdem man viel /b/ gehört hat, hört man ähnliche Laute eher als /d/. Das ist ein ähnlicher Prozess wie der, bei dem wir einen Moment schlecht sehen können, wenn wir direkt in die Sonne geschaut haben. Der Trick in unseren Experimenten war zu schauen, ob dieser Effekt immer noch auftritt, wenn ein /r/ Laut unterschiedlich ausgesprochen wurde.

Wir hatten erwartet, dass die zuvor gehörte Wortsequenz besonders starken Einfluss auf die Antworten haben (also ob man die Test-Wörter noch als „Rose“ hören kann oder doch "Lose" oder "Hose" gehört wird), wenn die /r/-Laute in den Wortsequenzen akustisch der Aussprache von "Rose" in den jeweiligen Experimenten ähneln. Unsere Vorhersagen wurden nur zum Teil bestätigt. Im Allgemeinen gab es eine Tendenz, dass die Entscheidungsaufgabe von der Ähnlichkeit der /r/-Laute in den Wortsequenzen beeinflusst wurde. Wurden die /r/s jedoch in den Wortsequenzen mit Vibration der Zungenspitze ausgesprochen, so löste dies einen besonders starken Effekt aus, unabhängig davon, wie das /r/ in den Test-Wörtern ausgesprochen wurde. Dies zeigt, dass bei der Worterkennung nicht nur die Tatsache eine Rolle spielt, dass ein Laut /r/ gehört wird, sondern welche akustischen Eigenschaften er aufweist. Einerseits spielt akustische Ähnlichkeit eine Rolle, andererseits aber auch wie stark sich die Aussprache eines Lautes von der Aussprache anderer Laute abhebt - wie dies beim Zungenspitzen-/r/ der Fall ist. Das ist auch auffällig, wenn man versucht, Akzente zu imitieren. Jeder Versuch, schottisches Englisch zu sprechen scheitert, wenn man das /r/ nicht als Zungenspitzen-/r/ ausspricht.

Durch die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Attention, Perception & Psychophysics wird unsere Arbeit einem breiten Fachpublikum aus den Fachgebieten Sprache, Hören, und Psychologie präsentiert.

Mitterer, Holger; Reinisch, Eva (2022): “Selective adaptation of German /r/: A role for perceptual saliency” in: Attention, Perception, & Psychophysics.
doi.org/10.3758/s13414-022-02603-2